Leitsatz (redaktionell)

1. VV BVG § 30 Nr 4 (hier: idF vom 1965-01-23) ist als Rechtsnorm mit Rechtssatzcharakter anzusehen.

2. Neugesetzte materiellrechtliche Rechtsnormen haben keine rückwirkende Kraft, wenn sie sich ohne solche Rückwirkung nicht selbst beilegen. Dies hat die VV BVG § 30 Nr 4 nicht getan. Sie ist somit entsprechend VO-VerkG § 3 vom 1950-01-30 erst im Februar 1965 rechtswirksam geworden.

 

Normenkette

BVGVwV § 30 Nr. 4 Fassung: 1965-01-23; RVVerkG § 3 Fassung: 1950-01-30

 

Tenor

1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 21. Februar 1969 wird zurückgewiesen.

2. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger, der wegen Absetzung des rechten Unterschenkels und anderer Schädigungsfolgen Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H. bezogen hat, erhält auf Grund der geänderten Verwaltungsvorschrift (VV) zu § 30 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) idF vom 23. Januar 1965 über die Mindesthundertsätze für erhebliche äußere Körperschäden Versorgungsleistungen nach einer MdE um 80 v. H. vom 1. Februar 1965 an (Bescheid nach § 96 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - vom 9. November 1966). Er wendet sich nur noch gegen diesen Bescheid und erstrebt die höhere MdE (80 v. H.) bereits vom 1. Januar 1964, dem Inkrafttreten des Zweiten Neuordnungsgesetzes (2. NOG). Mit seinem Begehren hatte er keinen Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Rheinland-Pfalz vom 21. Februar 1969). Das LSG hat ausgeführt: Die streitige VV beruhe auf der gesetzlichen Ermächtigung des § 30 Abs. 1 Satz 3 BVG, wonach für erhebliche äußere Körperschäden Mindesthundertsätze festgesetzt werden könnten. Diese Ermächtigung habe seit Inkrafttreten des BVG (1. Oktober 1950) bestanden. Die VV habe damals für den Verlust eines Unterschenkels bei genügend langem Stumpf eine MdE von 40 v. H., mit ungünstigem Stumpf eine MdE von 50 v. H. vorgesehen; die 1965 geänderten VVen hätten in diesen Fällen die Werte für die Mindest-MdE auf 50 v. H. bzw. 60 v. H. erhöht. Diese Änderung der Mindesthundertsätze hänge nicht mit dem am 1. Januar 1964 in Kraft getretenen 2. NOG zusammen. Da die einschlägige VV auf Grund gesetzlicher Ermächtigung ergangen sei, habe sie Rechtscharakter, so daß für ihr Inkrafttreten die Regelung für Rechtsverordnungen entsprechend gelte. Nach § 3 des Gesetzes über die Verkündung von Rechtsverordnungen vom 30. Januar 1950 (BGBl I 23) trete eine Rechtsverordnung 14 Tage nach Ausgabe im Verkündungsblatt in Kraft. Sie sei im Bundesanzeiger Nr. 19 veröffentlicht, diese Nummer sei am 29. Januar 1965 ausgegeben worden, so daß die Vorschrift im Monat Februar 1965 in Kraft getreten sei. Die höhere MdE sei daher vom 1. Februar 1965 an zu berücksichtigen.

Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger, das LSG habe die VV Nr. 4 zu § 30 BVG idF vom 23. Januar 1965 fehlerhaft angewendet. Die VVen seien keine Rechtsnorm; die in der Nr. 4 vorgesehene Erhöhung der Mindesthundertsätze müsse daher vom Inkrafttreten des 2. NOG, also vom 1. Januar 1964 an berücksichtigt werden. § 3 Abs. 1 des Gesetzes über die Verkündung von Rechtsverordnungen vom 30. Januar 1950 könne daher weder unmittelbar noch entsprechend angewendet werden. VVen seien zur Erläuterung und Auslegung von Gesetzen erlassen; sie träten daher zur gleichen Zeit wie das Gesetz in Kraft. Durch das Urteil des 9. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) - BSG 29, 41 - sei die Rechtsprechung noch nicht gefestigt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 21. Februar 1969 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides des Versorgungsamts K vom 9. November 1966 zu verurteilen, dem Kläger Versorgung nach einer MdE von 80 v. H. vom 1. Januar 1964 an zu gewähren,

hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Rheinland-Pfalz zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Die VV Nr. 4 zu § 30 BVG sei Ausfluß der gesetzlichen Ermächtigung in § 30 Abs. 1 Satz 3 BVG; da sich der Versorgungsberechtigte auf diese Mindesthundertsätze berufen könne, richte sie sich auch an dritte Personen, habe also Außenwirkung und unterscheide sich insofern von den übrigen VVen, welche nur den Charakter von Dienstanweisungen haben. Die VV Nr. 4 zu § 30 BVG sei keine Neuregelung auf Grund des 2. NOG, weil sie mit diesem Gesetz keinen Zusammenhang habe. In Übereinstimmung mit der Auffassung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) in BVBl 1965 S. 91 Nr. 55 und mit BSG 29, 41 sei daher die Revision nicht begründet.

Die beigeladene Bundesrepublik Deutschland hat sich ebenfalls im Sinne des Beklagten geäußert.

Die Beteiligten haben sich schriftlich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 SGG).

Die Revision des Klägers ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); sie ist form- und fristgerecht beim BSG eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist jedoch in der Sache nicht begründet.

Streitig ist, ob der Kläger wegen seiner Schädigungsfolgen Versorgung nach einer MdE um 80 v. H. bereits vom Inkrafttreten des 2. NOG, dem 1. Januar 1964, an oder erst vom 1. Februar 1965 an zu erhalten hat, weil - nach der Auffassung des LSG - die VV Nr. 4 zu § 30 BVG erst im Februar 1965 in Kraft getreten sei. Der Anspruch des Klägers hängt davon ab, welche rechtliche Bedeutung die VV Nr. 4 zu § 30 BVG idF vom 23. Januar 1965 hat, die für sein Schädigungsleiden die bisherige MdE um 10 v. H. erhöht hat. Das angefochtene Urteil hat, gestützt auf BSG 29, 41 ff entsprechend der Ermächtigung in § 30 Abs. 1 Satz 3 BVG in der VV Nr. 4 eine Rechtsnorm mit Außenwirkung gesehen, welche gemäß § 3 des Gesetzes über die Verkündung von Rechtsverordnungen mit dem 14. Tage nach Ablauf des Tages in Kraft getreten ist, an dem das Verordnungsblatt - hier der Bundesanzeiger Nr. 19 vom 29. Januar 1965 - ausgegeben worden ist. Die Richtigkeit der im angefochtenen Urteil vertretenen Rechtsauffassung hängt davon ab, ob die VV Nr. 4 zu § 30 BVG die rechtliche Bedeutung einer Rechtsnorm mit Rechtssatzcharakter hat oder ob es sich - wie in der Regel bei Verwaltungsvorschriften - bei dieser Vorschrift nur um eine allgemeine Verwaltungsvorschrift mit nur verwaltungsinterner Verbindlichkeit handelt. § 30 Abs. 1 Satz 3 BVG bestimmt: "Für erhebliche äußere Körperschäden können Mindesthundertsätze festgesetzt werden." Wie sich aus dem Wort "können" ergibt, enthält diese Vorschrift eine Ermächtigung zur Festsetzung von Mindesthundertsätzen. Ob diese Ermächtigung dem BMA oder der Bundesregierung bzw. der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats erteilt worden und in welcher Rechtsform von der Ermächtigung Gebrauch zu machen ist, ist im Gesetz nicht bestimmt. Die Bundesregierung hat entsprechend § 30 Abs. 1 Satz 3 aaO erstmals in der VV vom 1. März 1951 Mindesthundertsätze festgesetzt. Sie hat also - vom Erlaß des BVG an - von der Ermächtigung nicht in der äußeren Form einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht, sondern die Mindestsätze als allgemeine VV, die sich auf Art. 84 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) stützen, festgelegt. Nach dieser grundgesetzlichen Vorschrift kann die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats allgemeine VVen erlassen. Die Bundesregierung hat diese Form auch bei Erlaß der "Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur Änderung der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum BVG vom 23. Januar 1965" gewählt. Trotz dieser äußeren Form als VV kommt der Nr. 4 der VV zu § 30 BVG insofern die rechtliche Bedeutung einer Rechtsnorm zu, als darin "für erhebliche äußere Körperschäden Mindesthundertsätze" festgesetzt worden sind. In der VV Nr. 4 aaO sind diese Mindestsätze nicht nur mit innerdienstlicher Wirkung für Behörden und ihre Bediensteten geregelt. Sie wendet sich also nicht instruktionell an die Verwaltungsorgane, sondern greift bindend und befehlend, aber auch berechtigend in die Rechtssphäre des Bürgers ein (s. dazu Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 80 I 1 a, b). Die Festsetzung der Mindesthundertsätze hat somit weder den Charakter von Auslegungsregeln noch einer Dienstanweisung, wie sonst eine VV. Ihr Inhalt ist vielmehr materiell-rechtlicher Art. Die VV Nr. 4 ist zwar nicht in der äußeren Form einer Rechtsverordnung i. S. des Art. 80 GG erlassen worden. Die in Art. 80 GG festgelegten Grundsätze sind aber beachtet worden. Nach dieser Vorschrift kann die Bundesregierung ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Dabei muß Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden. Die Rechtsgrundlage ist in der Verordnung anzugeben.

Diese Voraussetzungen einer Rechtsverordnung sind vorliegend auch für die VV Nr. 4 zu § 30 BVG gegeben. Die VV sind von der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates erlassen worden (Präambel der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften vom 23. Januar 1965, Bundesanzeiger Nr. 29 vom 29. Januar 1965). Wenn auch in § 30 Abs. 1 Satz 3 BVG der ermächtigte Verordnungsgeber nicht ausdrücklich bestimmt ist, so hat die Bundesregierung als der in erster Linie in Art. 80 GG Ermächtigte die VV Nr. 4 erlassen. Damit ist Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG erfüllt. Der Senat hat weiter geprüft, ob auch die übrigen in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG (Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz) und in Art. 80 Abs. 1 Satz 3 (Angabe der Rechtsgrundlage in der Rechtsverordnung) vorgeschriebenen Voraussetzungen gegeben sind. Zu Satz 2 aaO hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden: Die den Erlaß von Rechtsverordnungen einschränkenden Vorschriften bezwecken neben dem Schutz des Staatsbürgers vor Eingriffen der Exekutive den Grundsatz der Gewaltenteilung zwischen Parlament und Exekutive zu sichern, damit nicht gestützt auf unbestimmte Ermächtigungen die Regierung an die Stelle des Parlaments tritt. Es muß vorausgesehen werden können, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von der Gesetzesermächtigung Gebrauch gemacht wird und welchen Inhalt die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Rechtsverordnungen haben können (BVerfGE 1, 60; 2, 334; 7, 301; 15, 160). Zur Ermittlung des Zwecks, Inhalts und Ausmaßes kann auch der Sinnzusammenhang der Norm, also § 30 BVG im ganzen herangezogen werden (BVerfGE 8, 307 f; 10, 151; 15, 160). Maßgebend ist der in der Ermächtigungsnorm objektivierte Wille des Verordnungsgebers. Die Ermächtigung in § 30 Abs. 1 Satz 3 BVG gibt das Ziel, "Mindesthundertsätze" verbindlich zu erlassen, genau an; sie ist auf "erhebliche äußere Körperschäden" begrenzt, wodurch Inhalt und Ausmaß der Ermächtigung hinreichend umschrieben werden. Eine nähere Begrenzung ergibt sich noch aus übrigen Vorschriften zu §§ 30 und 31 BVG. Die Ermächtigung sichert den Beschädigten davor, daß bei der Bewertung der MdE für erhebliche äußere Körperschäden bestimmte Bewertungssätze, die Mindesthundertsätze, unterschritten werden. Damit ist hier eine Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit nicht gegeben, weil die Mindesthundertsätze keine Forderung an den betroffenen Staatsbürger stellen. Nach alledem sind die Voraussetzungen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG erfüllt. Schließlich ist auch die Rechtsgrundlage in der Verordnung genügend bestimmt, weil die VV Nr. 4 ausdrücklich zu § 30 BVG und damit zur Ermächtigungsvorschrift in § 30 Abs. 1 Satz 3 BVG ergangen ist. Da die Bekanntgabe der Vorschrift auch das Gesetz über die Verkündung von Rechtsverordnungen vom 30. Januar 1950 (BGBl 23) beachtet, ist Nr. 4 der VV zu § 30 BVG als Rechtsnorm mit Rechtssatzcharakter anzusehen (ebenso im Ergebnis BSG 29, 41; Rundschreiben des BMA vom 1. Juni 1965 - BVBl 1965 S. 91 Nr. 55 -). Für die Frage des Inkrafttretens der VV Nr. 4 als Rechtsverordnung ist zu beachten, daß materiell-rechtliche Vorschriften nur für die Zukunft gelten (BSG 16, 178; 17, 39; 20, 211; Forsthoff, Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 1961 S. 147 f). Neugesetzte materielle Rechtsnormen haben keine rückwirkende Kraft, wenn sie sich eine solche Rückwirkung nicht selbst beilegen. Dies hat die VV Nr. 4 nicht getan. Für sie ist daher, wie in BSG 29, 42 näher ausgeführt, das Gesetz über die Verkündung von Rechtsverordnungen vom 30. Januar 1950 (BGBl I S. 23) entsprechend anzuwenden. Die VV Nr. 4 zu § 30 BVG ist somit gemäß § 3 des Gesetzes vom 30. Januar 1950 mit dem 14. Tag nach Ablauf des Tages in Kraft getreten, an dem das Verkündungsblatt ausgegeben worden ist; sie ist also im Februar 1965 rechtswirksam geworden. Eine Rückwirkung auf die Zeit vor dem Inkrafttreten des 2. NOG (1. Januar 1964) ist zu verneinen, weil zum 2. NOG nur ein formaler Zusammenhang besteht. Der Kläger kann daher aus Nr. 4 der VV zu § 30 BVG erst vom 1. Februar 1965 ein Recht auf eine höhere MdE herleiten; er ist somit durch den angefochtenen Verwaltungsakt nicht beschwert. Das Berufungsgericht hat hierüber ohne Rechtsirrtum entschieden. Die auf eine rückwirkende Geltung der Nr. 4 der VV zu § 30 BVG hinzielende Revision des Klägers konnte daher keinen Erfolg haben.

Bei der Kostenentscheidung ist der Senat davon ausgegangen, daß die Rechtsverfolgung des Klägers in erster Linie dadurch veranlaßt worden ist, daß die Änderung der Mindestsätze nicht in der Form einer ausdrücklichen Rechtsverordnung, sondern in den VV ergangen ist. VV haben, wie oben dargelegt, grundsätzlich nur innerdienstliche Wirkung für Behörden und ihre Bediensteten. Sie haben keine Auswirkungen für die Rechtssphäre des Bürgers. Wenn der Verordnungsgeber ausnahmsweise einen materiell-rechtlichen Rechtssatz in die Form einer VV kleidet, erschwert er dadurch das Verständnis seiner Geltungskraft. Die Zweifel an der Rechtsnatur der VV Nr. 4 beruhen auf der - ungewohnten Art der formalen - Regelung der Festlegung der Hundertsätze und ihrer Änderung (s. dazu auch Krüger in Festschrift für Smend 1952, 218; Selmer in VerwArch 1968, 116). Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände hat der Senat ausnahmsweise ausgesprochen, daß dem unterlegenen Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten sind (s. dazu Rohwer-Kahlmann, Sozialgerichtsbarkeit SGG § 193 RZ 1; Peters/Sautter/Wolff, SGG Komm. § 193 Anm. 1 a; vgl. auch BSG 17, 128).

Da die Voraussetzungen der §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG vorgelegen haben, konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670390

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