Leitsatz (amtlich)

1. Verweist das LSG den Rechtsstreit, weil es das in erster Instanz tätig gewordene SG für örtlich unzuständig hält, unter Aufhebung des ergangenen Urteils an ein anderes SG, so ist diese Entscheidung unanfechtbar.

2. Die Zulassung der Revision gegen eine auf Grund der SGG §§ 98, 153 Abs 1 ergangene Verweisungsentscheidung ist unwirksam.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. In der Rechtsprechung zu ZPO § 276, dem SGG § 98 nachgebildet ist, ist allgemein anerkannt, daß eine im ersten Rechtszug unterlassene Verweisung an das örtlich oder sachlich zuständige Gericht im Berufungsrechtszug nachgeholt werden kann. Dies gilt auch für die SGb.

2. Ist das Verfahren vor dem SG mit einem Urteil abgeschlossen worden, kann das LSG die Verweisung nicht - wie dies in SGG § 98 vorgesehen ist - durch Beschluß aussprechen, vielmehr muß es sie iVm der nur in Urteilsform möglichen Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung ebenfalls durch Urteil vornehmen. Ein solches Urteil kommt inhaltlich und in seinen Wirkungen einem im ersten Rechtszuge nach SGG § 98 ergangenen Beschluß gleich.

3. Ist das angefochtene Urteil endgültig, darf das LSG die Revision nicht zulassen. Eine offensichtlich entgegen dem Gesetz erfolgte Zulassung ist unwirksam. Für die Zulassung der Revision gegen ein nach SGG § 214 Abs 5 endgültiges Urteil hat das BSG dies bereits ausgesprochen (Vergleiche BSG 1955-07-07 10 RV 175/54 = BSGE 1 104). Dasselbe muß für sonstige offensichtlich gesetzwidrige Zulassungen der Revision gelten. Diese Auffassung herrscht auch in den anderen Zweigen der Gerichtsbarkeit vor.

4. Die Zurückverweisung auf Grund des SGG § 159 Abs 1 Nr 2 setzt voraus, dass Erwägungen angestellt werden, ob und - gegebenenfalls - aus welchen Gründen von der Befugnis der Aufhebung und Zurückverweisung Gebrauch gemacht wird. Bezeichnet das LSG das Fehlen der örtlichen Zuständigkeit des SG als einen wesentlichen Verfahrensmangel, dann muß es an dieses SG zurückverweisen, das seinerseits unter Beachtung des SGG § 159 Abs 2 nach SGG § 98 den Rechtsstreit an das zuständige SG zu verweisen hat.

 

Normenkette

SGG § 98 Fassung: 1953-09-03, § 153 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, § 159 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 276 Fassung: 1950-09-12; SGG § 214 Abs. 5 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichte vom 12. Februar 1958 wird als unzulässig verworfen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger ist Bundesbahnbetriebsarbeiter im Bahnhof B. Durch Bescheid vom 22. März 1955 lehnte die Beklagte Entschädigungsansprüche, die der Kläger aus Arbeitsunfällen vom 11. April 1949 und 19. Mai 1953 herleitete, mit der Begründung ab, die geltend gemachten Wirbelsäulenbeschwerden ständen mit den Unfällen nicht in ursächlichem Zusammenhang.

Hiergegen hat der Kläger entsprechend der von der Beklagten erteilten Rechtsbehelfsbelehrung Klage zum Sozialgericht (SG.) München erhoben. In der mündlichen Verhandlung hat er die Zuständigkeit des angegangenen Gerichts in Zweifel gezogen, weil weder sein Wohnsitz noch sein Beschäftigungsort im Bezirk des SG. München liegen. Er hat beantragt, die Sache an das nach § 57 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zuständige SG. zu verweisen. Das SG. München hat unter Bejahung seiner Zuständigkeit durch Urteil vom 12. April 1956 die Klage als unbegründet abgewiesen. Es hat seine Zuständigkeit aus § 2 der vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und soziale Fürsorge mit Zustimmung des Landtages des Freistaates Bayern erlassenen Verordnung über Zuständigkeiten in der Sozialgerichtsbarkeit vom 9. April 1954 (GVBl. 1954 S. 56 - ZVO) und aus Beschlüssen des Präsidiums des SG. München hergeleitet. Durch § 2 ZVO, den das SG. als mit dem SGG vereinbar und daher gültig erachtet hat, ist bei dem SG. München eine Kammer für Angelegenheiten der Versicherungsträger der Deutschen Bundesbahn gebildet und deren Bezirk auf das Gebiet des Freistaates Bayern erstreckt worden. Dementsprechend hat das Präsidium des SG. München die 14. Kammer als Kammer für Angelegenheiten der Versicherungsträger der Bundesbahn errichtet.

Auf die Berufung des Klägers hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) durch Urteil vom 12. Februar 1958 die Entscheidung des SG. München aufgehoben und die Sache an das SG. Bayreuth verwiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Weder das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und soziale Fürsorge noch der Landtag seien befugt gewesen, einer Kammer des SG. München bestimmte Geschäftsgebiete zuzuteilen, vielmehr sei dies Sache des Präsidiums des Gerichts (§ 25 SGG). Da § 2 ZVO das Präsidium binde, die Geschäfte in einer bestimmten Weise auf die Kammern zu verteilen, verstoße die Vorschrift gegen § 25 SGG und sei somit rechtsunwirksam. Ob § 2 ZVO außerdem gegen § 10 SGG verstoße, könne dahingestellt bleiben. Die Ermächtigung zur Bildung einer Kammer könne das Staatsministerium auch nicht aus Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Ausführung des Sozialgerichtsgesetzes in Bayern (GVBl. 1953 S. 195) herleiten; darin sei nur die Ermächtigung enthalten, den Bezirk der Kammer eines SG. auf Bezirke anderer Sozialgerichte zu erstrecken. Da somit sowohl die Bildung der Kammer für Angelegenheiten der Versicherungsträger der Deutschen Bundesbahn als auch die Erstreckung ihres Bezirks auf das Gebiet des Freistaates Bayern rechtsunwirksam seien, richte sich die örtliche Zuständigkeit des Gerichts nach § 57 SGG. Das hiernach zuständige Gericht sei das SG. Bayreuth. Die örtliche Zuständigkeit sei eine Prozeßvoraussetzung und deshalb in jeder Lage des Verfahrens, auch in der Berufungsinstanz, zu prüfen. Ihr Fehlen stelle einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG dar. Dem Antrag des Klägers auf Verweisung der Streitsache an das örtlich zuständige SG. Bayreuth sei deshalb zu entsprechen gewesen (§ 98 SGG). Aus Gründen der Prozeßökonomie sei der Rechtsstreit unmittelbar an das SG. Bayreuth verwiesen worden. - Das LSG. hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 24. Mai 1958 zugestellte Urteil am 21. Juni 1958 Revision eingelegt und diese am 18. Juli 1958 begründet. Sie hält § 2 ZVO und die nach dem Erlaß der Verordnung ergangenen Präsidialbeschlüsse des SG. München mit §§ 25 und 57 SGG für vereinbar.

Sie beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

das Verfahren auszusetzen und die strittige Rechtsfrage dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen.

Er ist der Auffassung, daß Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) eine solche Verfahrensweise gebiete.

II

Die Revision hatte keinen Erfolg; sie ist trotz ihrer ausdrücklichen Zulassung durch das Berufungsgericht nicht statthaft.

Die Ausführungen, mit denen das LSG. die verfahrensrechtliche Behandlung der Streitsache begründet hat, lassen nicht ohne weiteres klar werden, ob sich die getroffene Entscheidung als Aufhebung und Zurückverweisung im Sinne des § 159 SGG darstellt oder als eine Verweisung des Rechtsstreits an das örtlich zuständige Gericht nach § 98 SGG, der über § 153 Abs. 1 SGG auch in der Berufungsinstanz anwendbar ist. Für eine Zurückverweisung könnte sprechen, daß das LSG. das Fehlen der örtlichen Zuständigkeit als einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG bezeichnet hat. Hätte diese Vorschrift - und nur sie - der angefochtenen Entscheidung als Grundlage dienen sollen, so wäre an das SG. München zurückzuverweisen gewesen, wobei dieses an die Rechtsauffassung des LSG. in der Zuständigkeitsfrage gebunden (§ 159 Abs. 2 SGG) und deshalb gehalten gewesen wäre, den Rechtsstreit gemäß § 98 SGG an das SG. Bayreuth weiterzuverweisen. Außerdem hätte eine Zurückverweisung auf Grund des § 159 Abs. 1 SGG vorausgesetzt, daß das LSG. Erwägungen angestellt hätte, ob und - gegebenenfalls - aus welchen Gründen es von der Befugnis der Aufhebung und Zurückverweisung Gebrauch machen wolle. Dies hat das LSG. jedoch nicht getan, vielmehr unter Bezugnahme auf § 98 SGG ausgeführt, dem noch in der Berufungsinstanz zulässigen Antrag auf Verweisung des Rechtsstreits an das örtlich zuständige SG. Bayreuth sei zu entsprechen gewesen. Auf Grund einer anderen Vorschrift als der des § 98 - in Verbindung mit § 153 Abs. 1 - SGG hätte die Verweisung des Rechtsstreits an das SG. Bayreuth auch nicht ausgesprochen werden können. Somit beruht die Entscheidung des LSG. auf §§ 98, 153 Abs. 1 SGG. Zu ihrer Begründung hätte es der Heranziehung des § 159 SGG nicht bedurft. Daß eine im ersten Rechtszug unterlassene Verweisung an das örtlich oder sachlich zuständige Gericht im Berufungsrechtszug nachgeholt werden kann, ist in der Rechtsprechung zu § 276 der Zivilprozeßordnung (ZPO), dem § 98 SGG nachgebildet ist, allgemein anerkannt (vgl. RGZ. 95 S. 281, 108 S. 263, 165 S. 383; RG. in JW. 1922 S. 488 Nr. 11; BGHZ. 2 S. 278 und 16 S. 345; so auch Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl. S. 151). Der Senat trug keine Bedenken, diese Verfahrensweise auch für das Gebiet der Sozialgerichtsbarkeit gutzuheißen. Da das Verfahren vor dem SG. München mit einem Urteil abgeschlossen worden war, konnte das LSG. die Verweisung nicht - wie dies in § 98 SGG vorgesehen ist - durch Beschluß aussprechen, vielmehr mußte es sie in Verbindung mit der nur in Urteilsform möglichen Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung ebenfalls durch Urteil vornehmen (vgl. RGZ. 95 S. 281; OLG. Celle, HRR. 1939 S. 41; OLG. Hamm, MDR. 1952 S. 235; Rosenberg a. a. O.). Ein solches Urteil kommt inhaltlich und in seinen Wirkungen einem im ersten Rechtszuge nach § 98 SGG ergangenen Beschluß gleich (vgl. RGZ. 108 S. 263).

Nach § 98 Abs. 2 SGG ist der auf Grund des Abs. 1 dieser Vorschrift ergangene Ausspruch der Verweisung an das zuständige Gericht der Sozialgerichtsbarkeit unanfechtbar. Nach der Rechtsprechung und dem Schrifttum zu der bereits angeführten Vorschrift des § 276 ZPO bedeutet die Unanfechtbarkeit der Verweisungsentscheidung, daß sie weder von dem Gericht, an das die Sache verwiesen worden ist, in Zweifel gezogen noch von dem verweisenden Gericht und den übergeordneten Instanzen geändert werden kann. Dies gilt selbst dann, wenn die Verweisung unter Verletzung von Verfahrensvorschriften zustande gekommen ist oder das verweisende Gericht sich über eine ausschließliche örtliche oder sachliche Zuständigkeit hinweggesetzt hat. Diese Folgerungen ergeben sich nach allgemeiner Meinung vor allem aus dem Zweck, welcher der Regelung des § 276 ZPO zugrunde liegt: Den höheren Instanzen sollen Belastungen und den Parteien Kosten erspart werden durch die im Grunde zweitrangigen Streitigkeiten über Fragen der Zuständigkeit, namentlich der örtlichen (vgl. RGZ. 108 S. 263; Rosenberg a. a. O. S. 151; Stein-Jonas, Zivilprozeßordnung, 18. Aufl., § 276 Anm. IV 1; Wieczoreck, Zivilprozeßordnung und Nebengesetze, § 276 Anm. B IV e und C). Als anfechtbar werden Verweisungen nur dann angesehen, wenn sie aus dem Rahmen des § 276 ZPO herausfallen, so z. B. die Verweisung von einer Kammer an eine andere Kammer desselben Landgerichts (RGZ. 119 S. 379 (384)).

Was für § 276 ZPO allgemein anerkannt ist, gilt nach der Auffassung des Senats auch für § 98 SGG, der jene Regelung des Zivilprozeßrechts fast wörtlich übernommen hat. Das Bedürfnis, die Rechtskraft der Sachentscheidung nicht durch langwierige Zuständigkeitsstreitigkeiten hinauszuziehen, besteht im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit ebenso wie im Zivilprozeß (so auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: Februar 1959, Bd. I S. 238 l und m mit weiteren Nachweisen; Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 98 Anm. 1 und 2; teilweise a. A. ohne überzeugende Begründung: Hastler, NJW. 1954 S. 1831 und Enz, ZfS. 1954 S. 223 (224)). Der in die Form eines Urteils gekleidete Ausspruch der Verweisung wegen örtlicher Unzuständigkeit des SG. München ist daher unanfechtbar; daß der Streit die örtliche - und nicht etwa die funktionelle oder sachliche - Zuständigkeit betraf, hat das LSG. mit Recht angenommen (vgl. hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 30. Juli 1959 - 2 RU 174/58). Mit der Auffassung über die Unanfechtbarkeit des Berufungsurteils befindet sich der Senat in Übereinstimmung mit einer Entscheidung des 3. Senats des Bundessozialgerichts vom 24. November 1958 (SozR. SGG § 98 Bl. Da 2 Nr. 4; hinsichtlich der Wirkung eines Verweisungsbeschlusses nach § 98 SGG vgl. auch BSG. 2 S. 63 (65)).

Da das angefochtene Urteil demnach endgültig war, hätte das LSG. die Revision nicht zulassen dürfen. Die somit offensichtlich entgegen dem Gesetz erfolgte Zulassung ist nach der Auffassung des Senats unwirksam. Für die Zulassung der Revision gegen ein nach § 214 Abs. 5 SGG endgültiges Urteil hat das BSG. dies bereits ausgesprochen (BSG. 1 S. 104). Dasselbe muß für sonstige offensichtlich gesetzwidrige Zulassungen der Revision gelten (vgl. Brackmann a. a. O. Bd. I S. 252 i, 250 t und u mit weiteren Nachweisen). Diese Auffassung herrscht auch in den anderen Zweigen der Gerichtsbarkeit vor (vgl. BGHZ. 2 S. 396 und BGH. in MDR. 1959 S. 378; OGHZ. 1 S. 296; Rosenberg a. a. O. S. 670; Stein-Jonas a. a. O. § 546 Anm. VI 3 d; Baumbach-Lauterbach, Zivilprozeßordnung, § 546 Anm. 4; für die Arbeitsgerichtsbarkeit: RAG. 22 S. 1; BAG. 2 S. 26 und 40 sowie 3 S. 46 (Großer Senat); Dietz-Nikisch, Arbeitsgerichtsgesetz, Kommentar 1954, § 72 Anm. 23 und 24; für die Verwaltungsgerichtsbarkeit: BVerwG. in NJW. 1954 S. 47 Nr. 25; Werner, DVBl. 1951 S. 341 (342); Ule, Gesetz über das Bundesverwaltungsgericht 1952, § 53 Anm. II 3).

Die Revision der Beklagten mußte daher als unzulässig verworfen werden

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2391696

BSGE, 230

NJW 1959, 2184

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