Leitsatz (amtlich)

Ist über die Abgabe des Widerspruchs an das SG als Klage nicht von der Widerspruchsstelle entschieden worden, so wird beim SG keine Klage nach SGG § 85 Abs 4 anhängig. Das hindert den durch den angefochtenen Verwaltungsakt Beschwerten nicht, unabhängig von dem Verfahren nach SGG § 85 Abs 4 gemäß SGG § 90 Klage zu erheben, die jedoch bis zur Erteilung des - während des Prozesses nachholbaren - Widerspruchsbescheides unzulässig ist (Anschluß und Fortführung von BSG 1980-02-27 1 RJ 52/79 = SozR 1500 § 85 Nr 9).

 

Normenkette

SGG § 85 Abs 4 Fassung: 1974-07-30, § 78 Abs 1 S 1 Fassung: 1974-07-30, § 90 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 13.05.1980; Aktenzeichen L 16 Ar 593/78)

SG München (Entscheidung vom 26.04.1978; Aktenzeichen S 8 Ar 308/76)

 

Tatbestand

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren ist (§ 1246 Reichsversicherungsordnung -RVO-).

Mit Bescheid vom 18. November 1975 lehnte die Beklagte es ab, dem Kläger Versichertenrente zu gewähren. Dagegen erhob dieser Widerspruch und stimmte auf Anfrage der Beklagten zu, daß der Rechtsbehelf - sofern die Widerspruchsstelle ihm nicht stattgeben wolle - dem Sozialgericht (SG) als Klage zugeleitet werde. Die Widerspruchsstelle wies in ihrer Sitzung am 24. Februar 1976 in der Besetzung mit drei Personen den Widerspruch des Klägers zurück. Ein Referent der Beklagten verfügte sodann, die Akten zur Durchführung des Klageverfahrens an das SG abzugeben.

Das erstinstanzliche Gericht hat die Beklagte mit Urteil vom 26. April 1978 verpflichtet, dem Kläger die gesetzlichen Leistungen wegen Berufsunfähigkeit ab 1. August 1974 zu gewähren. Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 13. Mai 1980). Es hat im wesentlichen ausgeführt, der Kläger könne die zuletzt von ihm in der Bundesrepublik Deutschland verrichtete Tätigkeit eines Zimmererfacharbeiters nicht mehr ausüben. Er sei auch nicht mehr in der Lage, Anlerntätigkeiten oder hervorgehobene ungelernte Tätigkeiten auszuführen, auf die er verwiesen werden könne.

Dieses Urteil hat die Beklagte mit der vom Senat zugelassenen Revision angefochten. Ihrer Ansicht nach kann im Gegensatz zu den Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. Februar 1980 - 1 RJ 52/79 - und 24. Juni 1980 - 1 RJ 82/79 - ein Mangel des Verfahrens in den Vorinstanzen nicht darin erblickt werden, daß der Rechtsstreit ohne eine nach § 85 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) anhängig gewordene Klage entschieden worden sei. Die Widerspruchsstelle habe die Weitergabe eines Widerspruchs als Klage an das SG wirksam der Geschäftsführung bzw den von dieser beauftragten Referenten übertragen. Kernstück des § 85 Abs 4 SGG sei nicht die Entscheidung über die Weitergabe des Widerspruchs an das SG, sondern das "Nichtabhelfenwollen" der Widerspruchsstelle. In der Sache selbst rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1246 Abs 2 RVO. "Bisheriger Beruf" des Klägers sei nicht die Tätigkeit des Schreiners oder Zimmermanns. Er müsse sich daher auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisen lassen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts

und das Urteil des Sozialgerichts München

aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zu verwerfen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen wird.

Zwar hat die Beklagte mit ihrer Revision einen Verfahrensmangel nicht gerügt, der Senat hatte jedoch von Amts wegen nachzuprüfen, ob ein in der Revisionsinstanz fortwirkender Verstoß gegen verfahrensrechtliche Grundsätze vorhanden ist, die im öffentlichen Interesse zu beachten sind und die zu befolgen nicht dem Wollen der Beteiligten überlassen ist. Grundvoraussetzung der gerichtlichen Entscheidung ist die ordnungsgemäß erhobene Klage, denn der Rechtsschutz wird auf Klage gewährt (§ 53 SGG). Zu beachten sind auch solche Mängel, die sich deshalb ergeben, weil unverzichtbare Prozeßvoraussetzungen schon des Klageverfahrens fehlen (vgl BSGE 2, 225, 226 f; 10, 218, 219; 25, 235, 236; BSG in SozR 1500 § 150 Nr 18 mwN).

Nach § 85 Abs 4 SGG in der ab 1. Januar 1975 gültigen Fassung kann die von der Vertreterversammlung bestimmte Stelle, die den Widerspruch zu erlassen hat (§ 85 Abs 2 Nr 2 SGG), den Widerspruch dem zuständigen SG unter bestimmten Voraussetzungen als Klage zuleiten. Seine dazu erforderliche Zustimmung hat der Kläger vorher schriftlich erteilt; auch hat die Widerspruchsstelle in ihrer Sitzung am 24. Februar 1976 entschieden, daß der Widerspruch zurückgewiesen wird. Die vom Gesetz ihr allein aufgegebene weitere Entscheidung, ob sie den Widerspruch dem SG als Klage zuleiten will, hat sie jedoch nicht getroffen.

Wie der 1. Senat des BSG bereits in seinen Urteilen vom 27. Februar 1980 - 1 RJ 52/79 - (SozR 1500 § 85 Nr 9) und vom 24. Juni 1980 - 1 RJ 82/79 - entschieden hat, wird beim SG keine Klage nach § 85 Abs 4 SGG anhängig, wenn sich die von der Vertreterversammlung des Sozialversicherungsträgers bestimmte Stelle (Widerspruchsstelle) darauf beschränkt hat, einen Widerspruch des Versicherten gegen einen belastenden Verwaltungsakt des Trägers zurückzuweisen und sodann ein Bediensteter ("Referent") dieses Trägers die Abgabe der Akten an das SG veranlaßt hat.

Der Kritik von Tannen (Höchstrichterliche Rechtsprechung in der gesetzlichen Rentenversicherung, DRV 1980, 270, 273 f) an der Entscheidung vom 27. Februar 1980 (aaO), worauf die Beklagte sich beruft, vermochte der Senat nicht beizupflichten. Das Gesetz hat es in § 85 Abs 4 SGG der Widerspruchsstelle aufgetragen, darüber zu befinden, ob sie von der Möglichkeit Gebrauch machen will, den Widerspruch dem SG als Klage zuzuleiten. Entgegen der Ansicht von Tannen (aaO) handelt es sich hier um einen einer abweichenden Auslegung nicht zugänglichen Auftrag, der allein der Widerspruchsstelle erteilt ist (so der 1. Senat aaO). Durch die Verfahrensordnung für die Widerspruchsstelle kann nicht entgegen § 85 Abs 4 SGG die eigentliche Entscheidung über die Abgabe des Widerspruchs einem Bediensteten des Versicherungsträgers überlassen werden. Das kann auch nicht "im Auftrag" geschehen. Es genügt nicht, daß urkundlich feststeht, die Widerspruchsstelle helfe nicht ab; vielmehr muß eindeutig kenntlich sein, ob sie von der allein ihr eingeräumten Möglichkeit des § 85 Abs 4 SGG Gebrauch macht, oder ob sie einen Widerspruchsbescheid erteilen lassen will. Für die von Tannen (aaO) geforderte "sinninterpretierende Auslegung" bleibt insoweit kein Raum. Nur die Ausführung der nachweisbar allein von der Widerspruchsstelle getroffenen Entscheidung kann einem Bediensteten des Versicherungsträgers übertragen werden. Insoweit folgt der Senat der oben erwähnten Rechtsprechung des 1. Senats (aaO).

Obwohl eine Klage gemäß § 85 Abs 4 SGG nicht anhängig geworden ist, bestand im Falle des Klägers Veranlassung zu prüfen, ob er nicht dennoch Klage erhoben hat (§ 90 SGG). Der 1. Senat des BSG hat dies in seinen Urteilen (aaO) bezüglich der dort klagenden Kläger nicht erkennbar geprüft, jedenfalls nicht ausdrücklich entschieden. Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob sich dort eine derartige Entscheidung aus rechtlichen Gründen oder wegen der tatsächlichen Gegebenheiten erübrigte. Bei dem abweichenden Sachverhalt im Falle des Klägers ist der Senat durch die Urteile des 1. Senats (aaO) nicht an der Entscheidung von Rechtsfragen gehindert, die § 85 Abs 4 SGG nicht betreffen.

Das LSG hat keine Feststellungen darüber getroffen, ob eine Klage anders als über § 85 Abs 4 SGG anhängig geworden ist. Dazu bestand nach seiner Rechtsauffassung auch keine Veranlassung. Der Senat hat aber - ebenso wie bei den Fehlern der Widerspruchsstelle - von Amts wegen eine unabhängig von der Abgabe des Widerspruchs erfolgte Klageerhebung zu beachten. Zwar fehlt als Prozeßvoraussetzung das erforderliche Vorverfahren (vgl BSGE 3, 293, 297; BSG in SozR Nr 49 zu § 150 SGG; SozR 1500 § 83 Nr 1), eine Klage - wenn auch eine unzulässige - ist aber anders als bei der Verletzung des § 85 Abs 4 SGG - gleichwohl anhängig geworden. Der Kläger hat deutlich seinen Klagewillen gegen den Bescheid der Beklagten vom 18. November 1975 zum Ausdruck gebracht. Er hat als Leistung von der Beklagten Rente vor Gericht begehrt und eine Entscheidung darüber beantragt. Das ergibt sich daraus, daß der Kläger, nachdem die Beklagte den in 1. Instanz geschlossenen Vergleich entsprechend ihrem Vorbehalt widerrufen hatte, ausdrücklich schriftlich vorgetragen hat, die Klage werde nach wie vor aufrechterhalten; er hat in der mündlichen Verhandlung des SG den Antrag gestellt, die Beklagte zur Rentengewährung zu verurteilen, dem das SG hinsichtlich der Berufsunfähigkeit gefolgt ist. Nach alledem hat der Kläger - unabhängig von der Möglichkeit des § 85 Abs 4 SGG - gemäß § 90 SGG Klage erhoben.

Das fehlerhafte Verhalten der Beklagten bzw der Widerspruchsstelle bei der Weiterleitung des Widerspruchs an das zuständige SG als Klage schließt eine davon unabhängige Klageerhebung durch den Kläger nicht aus, weil - wie oben dargelegt - die Anhängigkeit einer Klage nach § 85 Abs 4 SGG nicht eingetreten ist. Allerdings gingen die Beteiligten und die Vorinstanzen von der irrigen Vorstellung aus, das Klageverfahren sei über den Weg der genannten Vorschrift eingeleitet worden. Dennoch ist deutlich, daß der Kläger in jedem Fall eine gerichtliche Kontrolle der angefochtenen Verwaltungsentscheidung anstrebte.

Zwar hat der Kläger nach dem Erlaß des Bescheides vom 18. November 1975 das ihm zustehende Wahlrecht gemäß § 78 Abs 2 SGG zwischen Widerspruch und Klage zugunsten des Widerspruchs ausgeübt. Wie der 9. Senat des BSG im Urteil vom 2. August 1977 (SozR 1500 § 78 Nr 8) aber bereits entschieden hat, ist eine Klage auf Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht, nicht deshalb unzulässig, weil vor Klageerhebung der Widerspruch erhoben worden ist und über diesen noch nicht entschieden wurde. Die Frage nach der Verfahrensweise bei der Konkurrenz von Rechtsbehelfen kann hier offen bleiben. Jedenfalls besteht in der Rechtsprechung des BSG Einigkeit darüber, daß der später ergriffene Rechtsbehelf nicht wegen der zuvor getroffenen Wahl des anderen Rechtsbehelfs von vornherein unzulässig ist (vgl Urteil des 11. Senats vom 12. März 1981 - 11 RLw 1/80 -). Allerdings kann nach Einlegung des Widerspruchs nur unter den - hier nicht erfüllten - Voraussetzungen des § 85 Abs 4 SGG von einem das Vorverfahren abschließenden Widerspruchsbescheid abgesehen werden und die ohne Widerspruchsbescheid erhobene Klage ist unzulässig (vgl Urteil des Senats vom 27. November 1980 - 5 RJ 70/80 -). Bei fehlendem oder mangelhaftem Vorverfahren hat das BSG jedoch vielfach die Erledigung der Klage durch Prozeßurteil zu vermeiden gewußt (vgl Urteil des Senats vom 29. Juni 1978 in BSGE 47, 3, 5 = SozR 1500 § 85 Nr 5 mwN). Da der Mangel des Vorverfahrens als unverzichtbare, in jeder Lage des Verfahrens zu beachtende Prozeßvoraussetzung ein Sachurteil verbietet, hat das BSG es für zulässig gehalten, den Widerspruchsbescheid während des Prozesses nachzuholen (vgl BSGE 16, 21, 23; BSG in SozR 1500 § 83 Nr 1 mwN); deshalb hat es auch von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (vgl BSGE 8, 3, 11; 20, 199, 201; 25, 66, 69; BSG in SozR 1500 § 83 Nr 1; Urteil des 9. Senats vom 1977-08-02 aaO mwN).

Auch im Falle des Klägers erschien dem Senat aus prozeßökonomischen Gründen eine Zurückverweisung geboten (§ 170 Abs 2 SGG). Das LSG wird nun die Möglichkeit eröffnen müssen, den fehlenden Widerspruchsbescheid nachzuholen, ehe es erneut in der Sache selbst entscheiden kann.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Endurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651956

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