Entscheidungsstichwort (Thema)
Abgabe des Widerspruchs an das Sozialgericht als Klage
Orientierungssatz
Hat sich die von der Vertreterversammlung des Sozialversicherungsträgers bestimmte Stelle (Widerspruchsstelle) darauf beschränkt, einen Widerspruch des Versicherten gegen einen belastenden Verwaltungsakt des Trägers zurückzuweisen, und hat ein Bediensteter ("Referent") dieses Trägers die Abgabe der Akten an das SG veranlaßt, so wird beim SG keine Klage nach SGG § 85 Abs 4 anhängig (vgl BSG 1980-02-27 1 RJ 52/79 = SozR 1500 § 85 Nr 9).
Normenkette
SGG § 85 Abs 4 Fassung: 1974-07-30
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 21.11.1978; Aktenzeichen L 16/Ar 340/77) |
SG Regensburg (Entscheidung vom 27.05.1977; Aktenzeichen S 11/Ar 31/76) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um Maßnahmen der Arbeits- und Berufsförderung.
Mit Bescheid vom 16. September 1975 lehnte es die Beklagte ab, dem Kläger berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation zu gewähren: Seine Erwerbsfähigkeit sei nur geringfügig gefährdet oder gemindert; seinen Beruf als Maurer könne er noch ohne weiteres ausüben.
Hiergegen erhob der Kläger bei der Beklagten Widerspruch und stimmte am 27. Oktober 1975 auf deren Anfrage für den Fall, daß die Widerspruchsstelle dem Rechtsbehelf nicht stattgeben wolle, dessen Zuleitung an das Sozialgericht (SG) als Klage schriftlich zu. Die - mit drei Personen besetzte - Widerspruchsstelle der Beklagten wies in der Sitzung vom 19. Dezember 1975 den Widerspruch des Klägers zurück. Hierauf verfügte ein Referent der Beklagten, die Akten an das SG abzugeben. Entsprechend wurde verfahren.
Das SG hat die Beklagte im Urteil vom 27. Mai 1977 zu "geeigneten Maßnahmen" der beruflichen Eingliederung des Klägers verpflichtet. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) in der angefochtenen Entscheidung vom 21. November 1978 dieses Urteil aufgehoben und die Sache an das SG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. In der Begründung heißt es, das SG habe nicht sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der Beklagten setzen dürfen. Das Erstgericht werde auch dafür zu sorgen haben, daß die Beklagte einen Widerspruchsbescheid erteile. § 85 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beziehe sich nur auf den wahlweise möglichen Widerspruch nach § 78 Abs 2 SGG.
Gegen dieses Urteil hat der Senat die Revision zugelassen (Beschluß vom 28. Juni 1979).
Die Beklagte hat die Revision eingelegt. Sie ist der Auffassung, in § 85 Abs 4 SGG könne kein Unterschied zwischen Pflicht- und Kannleistung getroffen werden. Ihre Widerspruchsstelle habe "das Wesentliche des Widerspruchsverfahrens" getan; es könne daher dahingestellt bleiben, ob die von ihr inzwischen geänderten Modalitäten des Verfahrens nach § 85 Abs 4 SGG den gesetzlichen Vorschriften voll entsprochen hätten.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts
vom 21. November 1978 und das Urteil des
Sozialgerichts Regensburg vom 27. Mai 1977
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten gegen das Urteil des
Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. November 1978
kostenpflichtig zurückzuweisen und der Beklagten
die Verfahrenskosten einschließlich der notwendigen
Auslagen des Klägers aufzuerlegen.
Er hält das angefochtene Urteil für richtig.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist zum Teil begründet.
Die Beklagte dringt mit ihrem Rechtsmittel durch, soweit das LSG die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die erste Instanz zurückverwiesen hat. Hierfür sind folgende Gründe maßgebend:
Nach § 85 Abs 4 SGG idF des Änderungsgesetzes vom 30. Juli 1974 kann die von der Vertreterversammlung des Versicherungsträgers bestimmte Stelle (vgl Abs 2 Nr 2 aaO) einen Widerspruch dem zuständigen SG als Klage zuleiten, wenn sie dem Widerspruch nicht stattgeben will und der Widerspruchsführer vorher schriftlich zugestimmt hat. Im vorliegenden Fall hat die von der Vertreterversammlung der Beklagten bestimmte, mit einem Vertreter der Arbeitgeber, einem Vertreter der Arbeitnehmer und einem "Mitglied der Verwaltung" besetzte Widerspruchsstelle den Widerspruch des Klägers nicht dem SG als Klage zugeleitet. Dies hat - "im Auftrag" mutmaßlich der Geschäftsführung der Beklagten - ein "Referent", also ein Bediensteter der Beklagten getan. Die Widerspruchsstelle der Beklagten hat sich in der Sitzung vom 19. Dezember 1975 damit begnügt, den Widerspruch des Klägers "zurückzuweisen"; mit den unter diese Entscheidung gesetzten Unterschriften endet im Falle des Klägers die Tätigkeit der Widerspruchsstelle. In der Folge hat es ein Beauftragter der Geschäftsführung übernommen zu entscheiden, ob der Widerspruch des Klägers an das SG abgegeben oder ob ein nicht abhelfender Widerspruchsbescheid (§ 85 Abs 2 SGG) ausgefertigt und dem Kläger zugestellt werden soll. Da aber die Bestimmung hierüber nach dem in § 85 Abs 4 SGG ausdrücklich erteilten und einer abweichenden Auslegung nicht zugänglichen Auftrag Aufgabe der von der Vertreterversammlung des Versicherungsträgers berufene Widerspruchsstelle ist (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 27. Februar 1980 - 1 RJ 52/79; Meyer-Ladewig, SGG, § 85 Anm 9; Peters/Sautter/Wolff, SGG, § 85, 314/1 Anm 7; Zeihe, SGG, § 85 Anm 16 und 18 b), bewirkte die von dem Referenten der Beklagten verfügte Abgabe des zurückgewiesenen Widerspruches an das SG nicht, daß dieser dort "als Klage" eingegangen ist. Es trifft nicht zu, daß mit der Entscheidung der Widerspruchsstelle, den Rechtsbehelf zurückzuweisen, allen wesentlichen Anforderungen des § 85 Abs 4 SGG genügt wäre; die Abgabe des Widerspruchs an das SG als Klage ist vielmehr das Kernstück der genannten Bestimmung. Verfügt die Widerspruchsstelle diese Abgabe, so kann in ihr - als selbstverständlich - auch die Nichtabhilfe des Rechtsbehelfs liegen; weist dagegen - wie vorliegend - die Widerspruchsstelle den Widerspruch zurück, so ist grundsätzlich ein ablehnender Widerspruchsbescheid auszufertigen. Allenfalls ist erst noch darüber zu bestimmen, ob nach § 85 Abs 4 SGG verfahren werden soll. Es ist daher unzulässig, wenn es die Widerspruchsstelle einem Bediensteten des Versicherungsträgers überläßt, zu entscheiden, was mit einem zurückgewiesenen Widerspruch nunmehr geschehen soll.
Da die Widerspruchsstelle der Beklagten entgegen § 85 Abs 4 SGG den Widerspruch des Klägers nicht unter Qualifizierung "als Klage" an das SG weitergeleitet hatte, ist bislang keine Klage beim SG anhängig geworden. Das LSG durfte daher nicht anordnen, daß das SG über eine Klage erneut verhandeln und entscheiden solle. Der entsprechende Ausspruch im angefochtenen Urteil war daher ersatzlos aufzuheben.
Im übrigen hat das LSG das erstinstanzliche Urteil, das trotz fehlender Klage Leistungen zugesprochen hat, zu Recht aufgehoben. Insoweit war die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Es wird nunmehr Aufgabe der Widerspruchsstelle der Beklagten sein zu entscheiden, ob sie den Widerspruch des Klägers als Klage dem SG zuleiten will; andernfalls wird die Geschäftsführung der Beklagten dafür zu sorgen haben, daß ein Widerspruchsbescheid ausgefertigt, mit Rechtsbehelfsbelehrung versehen und dem Kläger zugestellt wird.
Die "Beklagte" hat dem "Kläger" die Kosten der Rechtsverfolgung zu erstatten, weil sie die Vorinstanzen zu Unrecht dazu veranlaßt hat, über einen angeblichen gerichtlichen Rechtsbehelf zu entscheiden (§ 193 SGG).
Fundstellen