Verfahrensgang

SG Osnabrück (Urteil vom 11.10.1963)

 

Tenor

Die Sprungrevision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 11. Oktober 1963 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob dem Kläger für die Zeit des Besuchs der Gartenbauschule Waisenrente nach Vollendung des 18. Lebensjahres gemäß § 1267 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.

Nach den Feststellungen des Sozialgerichts (SG) war der am 8. Dezember 1935 geborene Kläger von 1951 bis 1954 in der Gärtnerlehre, bestand am 5. März 1954 die Gärtnergehilfenprüfung und arbeitete bis September 1959 in verschiedenen Gartenbaubetrieben. Er besuchte vom 1. Oktober 1959 bis 28. Februar 1960 den Unterstufen- und vom 14. September 1960 bis 28. Februar 1961 den Oberstufenlehrgang der Gartenbauschule W… bei M…, um die Gärtnermeisterprüfung abzulegen, die eine mindestens fünf- bis sechsjährige Tätigkeit im Gartenbau als Gärtnergehilfe voraussetzt. Er bestand die Gärtnermeisterprüfung am 21. Februar 1961 an der Gartenbauschule W…. Er ist nunmehr selbständiger Gärtnermeister. Nach den weiteren Feststellungen des SG wird der einjährige Besuch der Gartenbauschule auf die Gehilfenzeit voll angerechnet. Der Besuch einer Gartenbauschule ist zwar für den letzten Teil der Ausbildung nicht unbedingt erforderlich, er wird aber vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten empfohlen. Bei den Lehrgängen werden 25 bis 30 Unterrichtsstunden pro Woche erteilt. Es besteht ein genau umrissener Lehrplan über 2 Semester.

Der Kläger beantragte vor Beginn des Lehrgangs, ihm für die beiden Lehrgangszeiten Waisenrente zu gewähren. Die Beklagte lehnte dies ab, da die Teilnahme an dem Lehrgang der Gartenbauschule keine Berufsausbildung sei, sondern lediglich der Fortbildung im bereits erlernten Beruf diene (Bescheid vom 17. November 1959).

Mit der hiergegen erhobenen Klage machte der Kläger geltend, von Anfang an sei sein Ausbildungsziel die Gärtnermeisterprüfung gewesen. Das SG hat mit Urteil vom 11. Oktober 1963 den Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, Waisenrente für die Zeit vom 1. Oktober 1959 bis 28. Februar 1960 und vom 14. September bis 8. Dezember 1960 zu zahlen. Es hat den Besuch der beiden Lehrgänge als Berufsausbildung angesehen. Auf den Abschluß einer Berufsausbildung mit der Gärtnergehilfenprüfung könne es jedenfalls dann nicht ankommen, wenn Berufsziel die Meisterprüfung sei. Das Streben nach beruflicher Ausbildung sei weitgehend zu fördern. Die Berufung ist vom SG zugelassen.

Die Beklagte hat mit schriftlicher Einwilligung des Klägers gegen das Urteil des SG Sprungrevision eingelegt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG Osnabrück vom 11. Oktober 1963 aufzuheben und die Klage gegen ihren Bescheid vom 17. November 1959 abzuweisen.

Die Beklagte rügt eine Verletzung des § 1267 Satz 2 RVO.

Wenn die Waisenrente regelmäßig nur bis zum vollendeten 18. Lebensjahr und danach nur unter besonderen Voraussetzungen gewährt werde, komme darin zum Ausdruck, daß die Waisenrente Unterhaltsersatzfunktion habe. Dem Kind solle in versicherungsrechtlich vertretbarem Umfang das zukommen, was es von dem weggefallenen Vater erhalten hätte. Nach dem Sprachgebrauch und der herrschenden Auffassung sei unter Berufsausbildung die durch Ausbildungsvorschriften geregelte und im allgemeinen mit einer allgemein anerkannten Prüfung abschließende Ausbildung für einen gegen Entgelt auszuübenden Beruf zu verstehen, der geeignet sei, die Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts zu gewinnen. Der Kläger habe bereits eine vollwertige Berufsausbildung abgeschlossen, als er die Gehilfenprüfung abgelegt habe. Ein Gärtnergehilfe könne seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten. Eine darüber hinausgehende Ausstattungspflicht – etwa nach § 1624 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) – hätte auch dem Vater des Klägers nicht obgelegen. Berufsausbildung setze einen durch Ausbildungsvorschriften geregelten Ausbildungsgang voraus. Um Gärtnermeister zu werden, sei lediglich vorgeschrieben, die Gehilfenprüfung abzulegen und eine mehrjährige Gehilfentätigkeit zurückzulegen, jedoch nicht der Besuch einer Gartenbauschule. Wenn schon die voraufgegangene und für die Meisterprüfung notwendig vorausgesetzte Gehilfentätigkeit nicht als Berufsausbildung anzusehen sei, könne dies erst recht nicht bei dem nicht vorgeschriebenen Besuch einer Gartenbauschule angenommen werden, der nach der Auskunft der Landwirtschaftskammer Westfalen-Lippe vom 30. August 1963 die in der Praxis gewonnenen Erkenntnisse vertiefe, gewisse Kulturmaßnahmen theoretisch begründe und Allgemeinbildung vermittele. All das sei aber Weiterbildung, um den Gehilfen im erlernten Beruf wettbewerbsfähig zu machen. Dies gehe auch daraus hervor, daß die Gartenbauschule auch von solchen Gehilfen besucht werde, die sich lediglich im erlernten Beruf fortbilden wollen. – Die Auffassung des SG, erst mit der Meisterprüfung sei die Berufsausbildung im Handwerk abgeschlossen, werde auch durch die Verkehrsauffassung widerlegt. Nur sehr wenige Handwerksgehilfen seien überhaupt in der Lage und bereit, noch die Meisterprüfung abzulegen. Die Meisterprüfung sei lediglich das Ergebnis eigenverantwortlicher Fortbildung im erlernten Beruf. Sie sei auch nicht ausschließliche Voraussetzung, sich selbständig zu machen; auch Nicht-Meister könnten einen eigenen Handwerksbetrieb eröffnen. – Die Teilnahme an den Lehrgängen der Gartenbauschule sei auch nicht Schulausbildung im Sinne von § 1267 Satz 2 RVO. Schulausbildung setze den Besuch allgemeinbildender Schulen voraus.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Sprungrevision der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet.

Das SG hat dem Kläger zu Recht Waisenrente für die Zeit der Lehrgänge an der Gartenbauschule bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gemäß § 1267 Satz 2 RVO zugesprochen, weil er sich in Berufsausbildung befunden hat. Der Besuch der Gartenbauschule W… stellt einen Abschnitt der Ausbildung des Klägers für eine höhere Stufe im Rahmen der Gartenbauberufe, nämlich zum Gärtnermeister, dar.

Berufsausbildung wird allgemein als Gegensatz zur beruflichen Fortbildung, die der Verbesserung der beruflichen Leistungsfähigkeit im erlernten oder ausgeübten Beruf dient, verstanden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist Berufsausbildung die Ausbildung für einen in Zukunft gegen Entgelt auszuübenden Beruf, welche die Zeit und Arbeitskraft ganz oder überwiegend in Anspruch nimmt (BSG 14, 285; 18, 115; 21, 185; 23, 231; SozR § 1267 RVO Nr. 12).

Die Auslegung des Begriffs der Berufsausbildung in anderen gesetzlichen Vorschriften kann nicht ohne weiteres für § 1267 RVO herangezogen werden, denn vielfach wird in jenen Vorschriften bei der Berücksichtigung einer Berufsausbildung an andere tatsächliche und rechtliche Verhältnisse angeknüpft und sind Sinn und Zweck der jeweiligen Berücksichtigung der Berufsausbildung verschieden (vgl. SozR § 2 Kindergeldgesetz Nr. 12).

So ist eine Ausbildungsbeihilfe nach den §§ 31, 32 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), wie es diesem Gesetz entspricht, grundsätzlich nur auf das Notwendige abgestellt, nämlich darauf, dem Unterstützten die Erlangung eines Berufs zu ermöglichen, der ihm eine ausreichende Lebensgrundlage bietet.

Die Förderung der beruflichen Ausbildung nach der Kriegsopferfürsorgeverordnung vom 27. August 1965 (§§ 5 bis 7a) geschieht im Rahmen eines Schadensausgleichs (BVerwG in Deutsches Verwaltungsblatt 1967, 157).

Auch § 115 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) steht unter dem Gesichtspunkt des Ausgleichs des Schadens in der beruflichen Ausbildung (vgl. Rechtsprechung zur Wiedergutmachung 1960, 402; 1961, 272; 1965, 460). Das Gleiche gilt für das Lastenausgleichsgesetz (§ 265) und auch für § 45 des Bundesversorgungsgesetzes (vgl. BSG 7, 46).

Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu den Vorschriften des Einkommensteuerrechts (§§ 32, 33a EStG, §§ 18a, 25a LStDV 1965, Nr. 179 EStR, Nr. 45 LStR 1966) steht unter dem Gesichtspunkt, daß die Ausbildungskosten, die der Auszubildende selbst trägt, zu den nicht absetzbaren Kosten der Lebensführung gehören, während die Fortbildungskosten abzugsfähige Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten sind (NJW 1966, 2289, 2294; BFH in BStBl III 1962, 48, 488, 489; 1965, 357; BB 1967, 277). Der Begriff Fortbildungskosten wird im Steuerrecht nicht eng ausgelegt, um das im öffentlichen Interesse gelegene Streben nach Verbesserung der beruflichen Leistungen auch steuerlich zu fördern.

Dagegen ähneln die Anknüpfungspunkte für das Kindergeld nach dem Kindergeldgesetz und insbesondere das Waisengeld nach § 164 des Bundesbeamtengesetzes in Verbindung mit § 18 des Bundesbesoldungsgesetzes dem Sinn und Zweck der Waisenrente nach § 1267 Satz 2 RVO. Ohne Gedanken an Schadensausgleich u.ä. ersetzt die Waisenrente allgemein und losgelöst vom Einzelfall die Leistungen, die ein vernünftiger verantwortungsbewußter Vater üblicherweise für die Ausbildung seines Kindes erbringt. Insofern geht der Zweck der Waisenrente über den der Ausbildungsbeihilfe im Sozialhilferecht hinaus und rechtfertigt eine weitergehende Auslegung des Begriffs der Berufsausbildung als nach dem BSHG. Nach der Rechtsprechung zum Beamtenrecht ist nicht nur die Ausbildung für die Elementarstufe eines Berufs als Berufsausbildung im Sinne der genannten Vorschriften des Beamtenrechts anzusehen, sondern auch die Ausbildung zur Erreichung einer weiteren Stufe eines Berufs, sofern die Ausbildung nicht völlig außerhalb eines üblichen und vernünftigen Rahmens liegt und die Ausbildung zur ordnungsgemäßen Ausübung der erstrebten Berufstätigkeit erforderlich ist (BVerwG in Zeitschrift für Familienrecht 1963, 306; VerwG Oldenburg in Zeitschrift für Beamtenrecht 1964, 94).

Diese Auffassung von der zu berücksichtigenden Berufsausbildung wird auch dem Sinn und Zweck der Waisenrente nach § 1267 Satz 2 RVO gerecht. Bei den Erwägungen, wie Berufsausbildung im Sinne dieser Vorschrift auszulegen ist, darf auch das allgemeine Interesse der Wirtschaft an einer qualifizierten Berufsausbildung der Jugendlichen berücksichtigt werden.

Berufsausbildung im Sinne des § 1267 Satz 2 RVO ist sonach nicht nur die Vorbereitung zur Erreichung der ersten Stufe eines Berufs, sondern auch die darauf aufbauende weitere Vorbereitung für die nächsthöhere Stufe des Berufs, jedenfalls dann, wenn diese von der vorhergehenden unteren Stufe klar abgegrenzt ist, zB dadurch, daß sie nicht ohne eine besondere, neue Kenntnisse vermittelnde, in sich geschlossene Ausbildung oder nur über eine allgemein anerkannte neue Prüfung erlangt wird.

Nach diesen Grundsätzen befand sich der Kläger während des Besuchs der Lehrgänge zur Vorbereitung auf die Gärtnermeisterprüfung in Berufsausbildung. Der Beruf des Gärtnermeisters stellt gegenüber dem des Gärtnerghilfen eine höhere, durch vorgeschriebene Ausbildungsart und -zeit sowie allgemein anerkannte Prüfung erlangte Stufe im Rahmen der Gartenbauberufe dar.

Die Einwände der Beklagten stehen dem nicht entgegen. Zwar ist der Besuch der Lehrgänge zur Ablegung der Gärtnermeisterprüfung nicht wie die 5- bis 6-jährige Tätigkeit als Gärtnergehilfe zwingend vorgeschrieben. Doch wird er vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten empfohlen und ist als angemessen und weithin üblich anzusehen.

Wenn die Lehrgänge auch von Gärtnergehilfen besucht werden, die nicht beabsichtigen, die Meisterprüfung abzulegen, sondern nur ihre Kenntnisse vertiefen wollen, so kann dies lediglich bedeuten, daß sich diese Gehilfen nicht in der Ausbildung für eine höhere Stufe des Berufs befinden. Daß insofern die Frage der Ausbildung vom Berufsziel der Waise in Verbindung mit der Erfüllung der sonstigen für die Meisterprüfung geforderten Voraussetzungen abhängt, spricht nicht gegen die Gewährung von Waisenrente; denn bei keiner Berufsausbildung läßt sich schon während der Ausbildung sagen, ob die Waise den angestrebten Beruf durch Bestehen vorgeschriebener Prüfungen erreichen wird.

Für die Frage der Berufsausbildung spielt es keine Rolle, wie die Waise den Beruf nach bestandener Meisterprüfung im Wirtschaftsleben verwerten will, ob in selbständiger Erwerbstätigkeit oder einem entsprechenden Beschäftigungsverhältnis. Es kommt nur darauf an, daß der Gärtnermeister eine allgemein anerkannte Berufsstufe innerhalb der Gartenbauberufe ist, die andere und höherwertige Erwerbsmöglichkeiten bietet als die Tätigkeit als Gärtnergehilfe.

Es kann auch nicht darauf abgestellt werden, ob der Versicherte, wenn er noch leben würde, dem Kläger den Besuch der Lehrgänge finanziell hätte ermöglichen müssen oder können; denn die Waisenrente knüpft, wie ausgeführt, nicht an die Unterhalts- oder Ausstattungspflicht der Eltern im Einzelfall an, sondern allgemein an die übliche Unterhaltssituation zwischen Eltern und Kindern.

Aus diesen Gründen entspricht das angefochtene Urteil dem Gesetz. Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 893543

BSGE, 195

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