Orientierungssatz

Zur unfallversicherungsrechtlichen Beurteilung der ehrenamtlichen Tätigkeiten von Organmitgliedern in VdK-Gliederungen.

 

Normenkette

RVO § 537 Nr. 10 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. Januar 1966 und des Sozialgerichts Oldenburg vom 3. März 1964 sowie der Bescheid der Beklagten vom 19. Dezember 1962 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin wegen der Folgen des Arbeitsunfalls ihres Ehemannes vom 30. Mai 1962 die gesetzliche Entschädigung zu gewähren.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Gründe

I

Der während des Revisionsverfahrens am 3. Oktober 1967 verstorbene Kläger war Mitglied des Landesverbandes N e. V. im Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands (VdK). Er war Kreisgeschäftsführer des Kreisverbands W und seit 1951 ehrenamtlich als "Betreuungsobmann" tätig; unter dieser Bezeichnung gehörte er anfänglich einem "Beirat", später dem alljährlich neu gewählten Kreisverbandsvorstand an. In seinem Ehrenamt hatte der Kläger die VdK-Mitglieder im Kreis W zu betreuen, insbesondere in ihren Versorgungsangelegenheiten zu beraten. Dafür hielt er zweimal wöchentlich Sprechstunden an verschiedenen Orten ab und besuchte auch einzelne VdK-Mitglieder. Außer Unkostenersatz erhielt der Kläger vom VdK keine Zuwendungen. Am Nachmittag des 30. Mai 1962 hatte er an zwei Orten VdK-Mitglieder zwecks Betreuung aufgesucht. Auf der Rückfahrt nach seinem Wohnort stürzte er gegen 20:30 Uhr mit seinem Moped und erlitt dabei erhebliche Verletzungen. Die Beklagte lehnte den Entschädigungsanspruch mit der Begründung ab, für die ehrenamtliche Mitarbeit im VdK bestehe Unfallversicherungs-(UV)schutz weder nach § 537 Nr. 1 noch nach § 537 Nr. 10 der Reichsversicherungsordnung in der vor dem 1. Juli 1963 geltenden Fassung (RVO aF).

Das Sozialgericht Oldenburg hat durch Urteil vom 3. März 1964 die Klage abgewiesen.

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat durch Urteil vom 19. Januar 1966 die Berufung des Klägers zurückgewiesen: Der UV-Schutz nach § 537 Nr. 10 in Verbindung mit Nr. 1 RVO aF (jetzt § 539 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 Nr. 1 RVO nF) setze eine Tätigkeit voraus, welche ihrer Art nach regelmäßig von Personen verrichtet werde, die in einem dem alldem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Beschäftigungsverhältnis stünden. Die ehrenamtliche Betreuungs- und Beratungstätigkeit, die der Kläger als Kreisgeschäftsführer ausübte, sei als Ausfluß seiner besonderen mitgliedschaftlichen Stellung im Rahmen des Verbandes als gewählter Betreuungsobmann - als solcher zugleich Vorstandsmitglied - aufzufassen. Lediglich in dieser Eigenschaft sei der Kläger auch zur Beratung in Rechtsangelegenheiten befugt gewesen. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gebe es keine unter ähnlichen Voraussetzungen und in ähnlicher Form auszuübende Tätigkeit. Dabei sei es ohne Bedeutung, daß nach den Angaben des Klägers im Bereich des VdK-Landesverbands neben ehrenamtlichen auch 24 hauptamtlich besoldete Kreisgeschäftsführer tätig seien, die möglicherweise in einer den Aufgaben des Klägers entsprechenden Form tätig würden. Bei der Beurteilung der ehrenamtlichen Tätigkeit könnten nämlich als Vergleichstatbestände nur solche Tätigkeiten herangezogen werden, die typischerweise dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnen seien. Diese einschränkende Betrachtungsweise sei im Hinblick auf § 539 Abs. 1 Nr. 13 RVO nF geboten; denn mit der darin geregelten Beschränkung des UV-Schutzes auf ehrenamtliche Tätigkeiten in Körperschaften des öffentlichen Rechts wäre die Annahme nicht vereinbar, daß ehrenamtlich für eine privatrechtliche Vereinigung Tätigen ein UV-Schutz immer schon dann eingeräumt werden müßte, wenn diese Vereinigung typische Vereinsaufgaben auch durch hauptamtlich Beschäftigte wahrnehmen lasse. - Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 17. Februar 1966 zugestellte Urteil hat der Kläger am 25. Februar 1966 Revision eingelegt und sie innerhalb der bis zum 17. Mai 1966 gemäß § 164 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verlängerten Frist begründet. Die Revision macht im wesentlichen geltend, das LSG habe verkannt, daß der Kläger den unfallbringenden Weg nicht im Zusammenhang mit der Ausübung einer typischen Repräsentantenfunktion (BSG 17, 73), sondern mit der Rechtsberatung von VdK-Mitgliedern zurückgelegt habe, bei der es sich um eine Arbeitsleistung handele, die von Personen, welche dem allgemeinen Erwerbsleben zur Verfügung stehen, ausgeübt werden könne und auch - bei Gewerkschaften und sonstigen Verbänden - in großem Umfang tatsächlich hauptberuflich ausgeübt werde. Mit Schriftsatz vom 18. Januar 1968 hat die Witwe des Klägers erklärt, sie nehme das Verfahren als Rechtsnachfolgerin des Klägers gemäß § 630 RVO nF auf; sie hat eine Bescheinigung der Gemeindeverwaltung vorgelegt, aus der hervorgeht, daß die Revisionsklägerin mit ihrem Ehemann bis zu dessen Tod in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat.

Die Revisionsklägerin beantragt,

unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Beklagte zu verurteilen, wegen der Folgen des Arbeitsunfalls ihres Ehemannes vom 30. Mai 1962 die gesetzliche Entschädigung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt

Zurückweisung der Revision.

Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei.

II

Die Revision ist statthaft und zulässig. Sie hatte auch Erfolg.

Die Vorinstanzen sind mit Recht davon ausgegangen, daß für den Kläger ein UV-Schutz nach § 537 Nr. 1 RVO bzw. § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO nF nicht in Betracht kommt, da er in seiner ehrenamtlichen Funktion beim VdK nicht auf Grund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses beschäftigt gewesen ist. Die Auffassung, auch ein Versicherungsverhältnis gemäß § 537 Nr. 10 i. V. m. Nr. 1 RVO aF (§ 539 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 Nr. 1 RVO nF) habe nicht vorgelegen, trifft hingegen nicht zu.

Zur versicherungsrechtlichen Beurteilung der ehrenamtlichen Tätigkeiten von Organmitgliedern in VdK-Gliederungen hat der erkennende Senat schon mehrmals Stellung genommen (vgl. BSG 17, 73; SozR RVO § 537 aF Nr. 32; Urteil vom 30. November 1962, 2 RU 187/59). In der Rechtsprechung (vgl. zusammenfassend Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 6. Aufl., S. 476 k-m mit zahlreichen Nachweisen) wird der UV-Schutz für ehrenamtliche Verbands- oder Vereinsfunktionäre unter dem Gesichtspunkt abgegrenzt, ob es sich um eine Tätigkeit handelt, die auch von einer hauptberuflich angestellten Person auf Grund eines dem allgemeinen Erwerbsleben zurechenbaren Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt werden kann. Dieses Kriterium entfällt von vornherein bei Tätigkeiten, die allein in Ausübung typischer Repräsentantenaufgaben zu verrichten sind, wie etwa Teilnahme an Organsitzungen, Tagungen und ähnlichen Veranstaltungen, bei denen sich die Teilnehmer der Willensbildung und Zielgebung des Verbands widmen (vgl. BSG 17, 73; Urteil vom 30. November 1962, 2 RU 187/59). Aber auch bei Tätigkeiten, die ihrer Art noch an sich dem allgemeinen Erwerbsleben zugänglich wären, ist der UV-Schutz dennoch ausgeschlossen, wenn sie lediglich in Erfüllung verbandsrechtlich statuierter Mitgliedspflichten geleistet werden (vgl. BSG 14, 1, 3; 17, 211, 216). Ob dies freilich der Fall ist, beurteilt sich nach den für den jeweiligen Verband maßgebenden gesetzlichen oder Satzungsvorschriften.

Insoweit hat nun das LSG die bei der VdK-Organisation gegebenen Verhältnisse nicht richtig gewürdigt. Allgemein hat es verkannt, daß die Beratung in Versorgungs- und Sozialversicherungsangelegenheiten eine Tätigkeit ist, die nicht nur ehrenamtlich von Mitgliedern des VdK und ähnlicher Verbände, sondern auch hauptberuflich von besoldeten Angestellten solcher Verbände ausgeübt zu werden pflegt; diese allgemein bekannte Tatsache hat ihren Niederschlag auch in gesetzlichen Vorschriften gefunden (vgl. §§ 73 Abs. 6 Satz 3, 166 Abs. 2 Satz 1 SGG). Speziell im Hinblick auf die vom Kläger verrichtete Tätigkeit hat zwar das LSG zu der - von der Beklagten übrigens nicht angezweifelten - Behauptung des Klägers, im Bereich des VdK-Landesverbandes seien 24 hauptberufliche Kreisgeschäftsführer beschäftigt, keine eigenen Feststellungen getroffen. Hierauf kommt es jedoch nicht entscheidend an, denn § 11 Abs. 3 der Landesverbandssatzung (in der Fassung vom 5. November 1961) sieht die Anstellung besoldeter Mitarbeiter in den Kreisverbänden ausdrücklich vor. Schon hieraus folgt, daß die ehrenamtliche Tätigkeit des Klägers als Betreuungsobmann im Kreisverband W nicht als unmittelbarer Ausfluß von Mitgliedspflichten anzusehen ist.

Abgesehen davon, daß § 539 Abs. 1 Nr. 13 RVO nF die vom LSG gezogene Schlußfolgerung keineswegs zwingend erfordert, müßte demnach - auch bei Zugrundelegung der vom LSG vertretenen Ansicht - die vom Kläger ehrenamtlich ausgeübte Betreuungs- und Beratungstätigkeit sogar als typischerweise dem allgemeinen Arbeitsmarkt zurechenbar erachtet werden.

Der Kläger stand hiernach bei seinem am 30. Mai 1962 erlittenen Unfall unter dem UV-Schutz der §§ 537 Nr. 10 i. V. m. Nr. 1, 543 RVO aF. Seine Entschädigungsansprüche sind zu Unrecht abgelehnt worden. Die Leistungen, die der Kläger beanspruchen konnte, stehen nunmehr seiner Witwe zu (§ 630 Abs. 1 RVO nF). Auf die begründete Revision war unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung wie geschehen zu erkennen. Nach Lage des Falles sind die Voraussetzungen für den Erlaß eines Grundurteils (vgl. SozR SGG § 130 Nr. 4) gegeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324429

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