Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 15.03.1973)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. März 1973 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen

 

Tatbestand

I

Dem 1920 geborenen Kläger sind wegen einer Kriegsverwundung der linke Unterschenkel und der rechte Vorfuß amputiert; die anerkannte Hinderung der Erwerbsfähigkeit beträgt 80 v.H. Seit 1945 war der Kläger als Reichsbahnhelfer und Bundesbahngehilfe im Verwaltungsdienst versicherungspflichtig beschäftigt. 1955 wurde er ins Beamtenverhältnis berufen und am 1. Juli 1972 als Bundesbahnbetriebsinspektor wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt. Im Februar 1972 beantragte der Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 26. Juni 1972 ab.

Die vom Kläger hiergegen erhobene Klage hatte in den Vorinstanzen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) ist davon ausgegangen, daß der Kläger aus medizinischer Sicht seine bisherige Bürotätigkeit nur noch etwa halbschichtig auszuüben vermöge. In Anbetracht seiner Kenntnisse und Fähigkeiten sowie seiner Behinderungen kämen für ihn nur Tätigkeiten in Frage, die unter der Sammelbezeichnung „Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufe” zusammengefaßt würden. Der Teilzeitarbeitsmarkt auf diesem Sektor sei ihm jedoch nach den Vierteljahresstatistiken der Bundesanstalt für Arbeit (BA) praktisch verschlossen. Damit sei der Kläger erwerbsunfähig. Einer Nutzung weiterer Erkenntnisquellen bedürfe es nicht. Dabei folge das LSG der Auffassung des 5. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 28. Juli 1970 – 5/4 RJ 11/68 –.

Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des Sozialgerichts Speyer, Zweigstelle Mainz, vom 14. September 1972 die Klage abzuweisen.

Sie rügt eine Verletzung des § 24 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) und des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), Das angefochtene Urteil beruhe auf einer Verkennung des Begriffs der Erwerbsunfähigkeit sowie auf unrichtiger Auswertung und unvollständiger Ausschöpfung der dem LSG zu Gebote stehenden Beweismittel. Das LSG hätte nicht weitere Ermittlungen über den Teilzeitarbeitsmarkt unterlassen dürfen.

Der Kläger beantragt Zurückweisung der Revision.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist im Sinne einer Aufhebung des angefochtenen Urteils und einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet, ohne daß es auf die von der Beklagten erhobenen Verfahrensrügen ankommt.

Nach § 24 Abs. 2 AVG ist erwerbsunfähig der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Das LSG hat offenbar die Voraussetzungen beider Alternativen für gegeben erachtet. Es hat festgestellt, daß der Kläger Bürotätigkeiten, wie sie seiner bisherigen beruflichen Tätigkeit entsprechen und im Hinblick auf seine Kenntnisse und Fähigkeiten und seine gesundheitlichen Behinderungen allein in Betracht kamen, nur noch halbschichtig bis unter vollschichtig verrichten kann. Es hat jedoch diese dem Kläger verbliebene Leistungsfähigkeit für unbeachtlich gehalten, weil es an entsprechenden Arbeitsplätzen in einem rechtserheblichen Umfange fehle und weil damit dem Kläger der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei. Dem vermag der Senat auf Grund der getroffenen Feststellungen nicht zu folgen.

Wer eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit begehrt, muß sich grundsätzlich auf alle Erwerbstätigkeiten verweisen lassen, die er nach seinen Kräften und Fähigkeiten auszuüben vermag. Dabei sind die Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes einzubeziehen. Nach den Ausführungen des angefochtenen Urteils ist zweifelhaft, ob sich das LSG dieses breiten Verweisungsfeldes bewußt gewesen ist. Es hat nur die bisherige Berufstätigkeit und allenfalls noch alle dieser entsprechenden Bürotätigkeiten angesprochen und sich zu sonstigen Tätigkeiten nicht geäußert. Möglicherweise hat das LSG angenommen, die gesundheitlichen Behinderungen und die Fähigkeiten des Klägers ließen die Verrichtung anderer Tätigkeiten nicht zu. Es mag auch sein, daß sich das LSG die Ansicht des Sozialgerichts zu eigen machen wollte, wonach dem Kläger auch in der Gruppe der ungelernten Hilfkräfte mit überwiegend körperlicher Arbeit der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen sei. Der Senat kann jedoch dahingestellt sein lassen, ob bereits wegen dieser Unklarheit die Aufhebung des Berufungsurteils geboten wäre. Das Urteil ist auch dann aufzuheben, wenn unterstellt wird, daß in der Tat andere als Bürotätigkeiten für den Kläger nicht in Betracht kommen.

Das LSG hat für diese Bürotätigkeiten einen praktisch verschlossenen Arbeitsmarkt in der Zeit ab Februar 1972 als dem Monat der Antragstellung in der Weise festgestellt, daß es Verhältnisse einer übergreifenden Berufsgruppe, nämlich der Berufsgruppe der „Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufe” vom 2. Vierteljahr 1970 bis zum 4. Vierteljahr 1972 zugrunde gelegt hat. Gegen eine solche typisierende Betrachtungsweise sind Bedenken nicht zu erheben (vgl. BSG 30, 192 [203]). An sich können zwar nur die Verhältnisse derjenigen Zeit maßgebend sein, für die Rente begehrt wird. Es liegt jedoch in der Natur der Sache, daß die erforderlichen Feststellungen immer erst mit einem gewissen Zeitabstand getroffen werden können; die Gerichte müssen daher zwangsläufig auf Erkenntnisse zurückgreifen, die unmittelbar nur vergangene Zeiträume betreffen. Aus Gründen der Vereinfachung ist es ferner zulässig, auf die Verhältnisse einer Berufsgruppe abzustellen, wenn sich diese leichter feststellen lassen und im wesentlichen denen der maßgebenden Berufstätigkeit entsprechen.

Einen praktisch verschlossenen Arbeitsmarkt hat das LSG im Anschluß an die Beschlüsse des Großen Senats des BSG vom 11. Dezember 1969 (BSG 30, 167 [184]; 192 [204]) für den Fall bejaht, daß das Verhältnis der für den Versicherten in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger ist als 75: 1OO. Es hat diese Formel aber nicht richtig angewandt. Aus den Ausführungen des Großen Senats (BSG 30, 167 [184]) ergibt sich mit Deutlichkeit, daß bei der Gegenüberstellung auf beiden Seiten, sowohl auf der Seite der Teilzeitarbeitsplätze als auch auf der der Interessenten, die bereits besetzten Plätze bzw. die Inhaber dieser Plätze einzubeziehen sind. Das LSG hat jedoch nur die Zahl der offenen Plätze mit der der Arbeitssuchenden verglichen. Es hat nicht bedacht, daß die von ihm herangezogenen Quartalsstatistiken der BA keinen Aufschluß über die Zahl der besetzten Arbeitsplätze und damit auch der Stelleninhaber geben, daß es aber gerade darauf mitankommt. Je größer die Zahl der besetzten Stellen im Verhältnis zur Zahl der Arbeitssuchenden und der offenen Stellen ist, um so günstiger ist notwendigerweise das Verhältnis zwischen der Gesamtzahl der Interessenten und der Gesamtzahl der in Betracht kommenden Arbeitsplätze. Das LSG hat mithin seine Annahme, der Arbeitsmarkt sei dem Kläger verschlossen, auf Feststellungen gestützt, aus denen allein eine solche Schlußfolgerung nicht gezogen werden kann. Die noch fehlenden Feststellungen vermag der Senat nicht selbst zu treffen. Er muß daher den Rechtsstreit an das LSG zurückverweisen.

Eine Zurückverweisung läßt sich – anders als in den auf Revisionen gegen ähnliche Urteile des LSG ergangenen Entscheidungen des 1. Senats (SozR 2200 § 1247 der Reichsversicherungsordnung – RVO – Nrn. 2 und 3) – auch nicht mit der Erwägung vermeiden, daß der Kläger schon deswegen erwerbsunfähig sein müsse, weil ihm der Zugang zum Teilzeitarbeitsmarkt in besonders starkem Maße erschwert sei (BSG 30, 167 [189 f] – V 2 b, aa –; 30, 192 [206]). Eine solche Erschwerung liegt vor, wenn der Versicherte in den Teilzeitstunden aus gesundheitlichen Gründen nur qualitäts- oder quantitätsmäßig erheblich eingeschränkte Leistungen erbringen (oder seinen Arbeitsplatz nur unter von den betrieblich üblichen erheblich abweichenden Bedingungen ausfüllen) kann. Der 1. Senat hat allerdings (vgl. SozR 2200 § 1247 RVO Nr. 3) eine derartige Erschwerung bejaht, wenn dem Versicherten nur noch leichte, vorwiegend im Sitzen auszuführende Bürotätigkeiten von höchstens sechs Stunden täglich zumutbar seien. Nach der Auffassung des 11. Senats könnte indessen eine solche Einschränkung der Arbeitsfähigkeit für sich allein noch keine starke Einschränkung des Zugangs zum allgemeinen Teilzeitarbeitsmarkt bedeuten (vgl. SozR Nr. 105 zu § 1246 RVO, 23 zu § 1247 RVO sowie Urteil des 12. Senats vom 13. November 1974 – 12 RJ 132/73). Die gegenteilige Auffassung würde, wie die Beklagte mit Recht ausführt, zudem gerade bei Versicherten, die während ihres Erwerbslebens Büroarbeiten überwiegend im Sitzen verrichtet haben, zu ungerechtfertigten Ergebnissen führen. Die weiteren Ausführungen des 1. Senats lassen indessen erkennen, daß dieser Senat nur Fälle in Auge hatte, in denen wegen fehlender fachlicher Kenntnisse und Fähigkeiten für den Versicherten nur untergeordnete Arbeiten, wie sie Bürohilfskräfte verrichten, in Betracht kommen. Diese sind auch allein dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnen und werden ferner in der Regel nicht überwiegend im Sitzen ausgeübt. Ein derartiger Sachverhalt liegt hier nicht vor. Das LSG hat zwar die Bürotätigkeiten nicht näher konkretisiert; es spricht aber nichts dafür, daß es nur an Tätigkeiten von Bürohilfskräften gedacht hat. Die vom LSG für den Kläger in Betracht gezogenen Tätigkeiten gehören daher nicht dem allgemeinen Arbeitsmarkt an; sie werden zudem meist im Sitzen ausgeübt. Daß der Kläger aber aus gesundheitlichen Gründen dabei besonders behindert sei, ist nicht festgestellt; seine Gesundheitsstörungen behindern ihn nach ärztlichem Urteil nicht nennenswert über das Maß der zeitlichen Beschränkung hinaus.

Das LSG wird im weiteren Verfahren versuchen müssen, den dargelegten Mangel in den tatsächlichen Feststellungen zu beheben. Es wird diejenigen Ermittlungen vorzunehmen haben, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Erfolg versprechen. Insoweit liegt eine Anfrage bei der BA nahe (BSG 30, 192 [205]). Das LSG wird sich dabei um Klarheit darüber bemühen müssen, ob – unter Berücksichtigung der besetzten Arbeitsplätze – die maßgebende Verhältniszahl unter – oder überschritten wird. Diese Feststellung kann sich möglicherweise treffen lassen, ohne daß z. B. die Zahl der besetzten Stellen ermittelt wird; die genaue Zahl kann offenbleiben, wenn sie sich in einer Größenordnung bewegt, die in Verbindung mit den anderen in Betracht zu ziehenden Zahlen einen Schluß auf die Wahrung oder Nichtwahrung des vom Großen Senat geforderten Verhältnisses (75: 100) erlaubt. Das LSG kann sich insoweit zudem mit einem geringen Grad der Überzeugung, nämlich mit überwiegender Wahrscheinlichkeit begnügen (SozR Nr. 111 zu § 1246 RVO).

Sollte der Teilzeitarbeitsmarkt für den Kläger im gesamten Bundesgebiet praktisch verschlossen sein oder, weil dies im vorliegenden Fall nicht geklärt werden kann, als verschlossen angesehen werden müssen, so wäre ferner noch zu prüfen, ob der Kläger wenigstens im Bereich seines Wohnortes und dessen Umgebung in der Zeit ab Februar 1972 von dem zuständigen Arbeitsamt auf einen für ihn in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplatz hätte vermittelt werden können (vgl. SozR Nr. 111, 115 zu § 1246 RVO).

Wenn das LSG im weiteren Verfahren zu der Erkenntnis gelangen sollte, daß sich die Feststellungen, die den vom Großen Senat des BSG entwickelten Grundsätzen entsprechen, nicht nur im vorliegenden Fall, sondern in der Mehrzahl der Fälle, in denen Versicherte nur noch Teilzeitarbeit verrichten können, wegen Fehlens ausreichender Aufklärungsmöglichkeiten nicht treffen lassen, so wird es erneut die Zulassung der Revision zu erwägen haben. Der Große Senat hatte in den früheren Umschreibungen der rechtlich relevanten Zahl von Arbeitsplätzen („ausreichende Zahl” usw.) keinen ins Gewicht fallenden Gewinn für die Rechtsanwendung gesehen (BSG 30, 167 [183]); er wollte den Begriff des praktisch verschlossenen Arbeitsmarktes durch die von ihm gefundene Verhältniszahl konkretisieren und zugleich praktikabel machen (BSG a.a.O.). Hierbei bestand die Vorstellung, die BA werde die für die Feststellung der Verhältniszahl 75: 100 jeweils erforderlichen Zahlen der offenen und besetzten Plätze, der Arbeitsuchenden usw. jedenfalls in absehbarer Zukunft nennen können. Diese Hoffnung hat die Rechtsprechung des BSG auch später noch gehabt (vgl. SozR Nr. 111 zu § 1246 RVO). Inzwischen haben sich jedoch die Zweifel vermehrt, ob die erforderlichen Zahlenfeststellungen möglich sind. Es müßte deshalb nach Ansicht des erkennenden Senats nun gegebenenfalls geprüft werden, ob an der Auffassung des Großen Senats noch festgehalten werden kann.

Bei seiner neuen Entscheidung wird das LSG auch über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

 

Unterschriften

Dr. Buss, Heyer, Dr. Zimmer

 

Fundstellen

Dokument-Index HI926462

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