Leitsatz (amtlich)

1. Eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hat dem Versicherten nicht iS von AVG § 45 Abs 5 (= RVO § 1268 Abs 5) zugestanden, wenn der Rentenanspruch nach AVG § 19 (= RVO § 1242) in der bis zum 1974-10-01 geltenden Fassung ausgeschlossen war.

2. Ein Anspruch auf Fortzahlung des Übergangsgeldes für das Sterbevierteljahr läßt sich aus AVG § 45 Abs 5 (= RVO § 1268 Abs 5) nicht herleiten.

 

Leitsatz (redaktionell)

Verstirbt ein Versicherter während eines Heilverfahrens und erhält er statt Rente Übergangsgeld, errechnet sich die Witwenrente nur nach AVG § 45 Abs 1.

 

Normenkette

AVG § 45 Abs. 5; RVO § 1268 Abs. 5; AVG § 19 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1242 Fassung: 1957-02-23, § 1279 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; AVG § 56 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23, § 45 Abs. 1; RVO § 1268 Abs. 1

 

Tenor

Auf die Sprungrevision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Trier vom 31. August 1973 aufgehoben.

Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 5. Juni 1972 wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die 1931 geborene Klägerin begehrt aus der Versicherung ihres ... 1972 verstorbenen Ehemannes für das sogenannte Sterbevierteljahr die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, die dem Ehemann zugestanden hätte.

Dieser (der Versicherte) hatte im August 1971 Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) oder Erwerbsunfähigkeit (EU) beantragt. Der gehörte Gutachter hatte ihn seit dem 22. Januar 1971 für erwerbsunfähig erachtet. Die Beklagte hatte darauf eine Heilbehandlung bewilligt. Während der Durchführung ist der Versicherte verstorben. Mit Bescheid an die Klägerin vom 19. April 1972 hat die Beklagte Übergangsgeld für die Zeit vom 24. Juli 1971 bis zum Beginn der Heilbehandlung gewährt.

Mit Bescheid vom 5. Juni 1972 bewilligte die Beklagte die Witwenrente. Für die ersten drei Monate, d. h. vom 9. April 1972 bis 8. Juli 1972, gewährte sie der Klägerin die volle Rente wegen BU, danach 60 v. H. davon. In dem Bescheid wird ergänzend darauf hingewiesen, daß für die Zeit vom 1. August 1971 bis zum Ende der Heilbehandlung anstelle des Anspruchs auf EU-Rente Anspruch auf Übergangsgeld bestanden habe.

Das Sozialgericht (SG) Trier hat die Beklagte verurteilt, für das Sterbevierteljahr eine nach der EU-Rente berechnete Rente zu gewähren (Urteil vom 31. August 1973). Diese Rente habe dem Versicherten im Sinne des § 45 Abs. 5 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) "zugestanden". Dem stehe nicht entgegen, daß er wegen der Zahlung von Übergangsgeld keine EU-Rente bezogen habe. Es würde dem Sinn und Zweck des § 45 Abs. 5 AVG widersprechen, die vorhandene und anerkannte EU nur wegen des Übergangsgeldes unberücksichtigt zu lassen.

Das SG hat die Berufung zugelassen. Die Beklagte hat mit Zustimmung der Klägerin Sprungrevision eingelegt und diese wie folgt begründet: Dem Versicherten habe keine Rente "zugestanden". Als Bezieher eines Übergangsgeldes könne er auch nicht einem Rentenbezieher gleichgestellt werden. Im Hinblick auf Sinn und Berechnung des Übergangsgeldes sei er vielmehr dem Bezieher eines Arbeitseinkommens vergleichbar. Diesem gewährleiste das Gesetz aber nicht die Fortsetzung der bisherigen finanziellen Lage im Sterbevierteljahr. Im übrigen führe die vom SG vertretene Auffassung wegen der nachträglich notwendigen Klärung der EU zu erheblichen praktischen Schwierigkeiten.

Die Beklagte beantragt,

Aufhebung des angefochtenen Urteils und Abweisung der Klage.

Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

 

Entscheidungsgründe

Die Sprungrevision ist begründet; die Klägerin hat für das sog. Sterbevierteljahr keinen Anspruch auf Gewährung einer EU-Rente aus der Versicherung ihres verstorbenen Ehemannes.

Nach § 45 Abs. 5 AVG in der hier anzuwendenden Fassung des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965) - vgl. Art. 6 § 8 Abs. 2 RRG - wird der Witwe für die ersten drei Monate die Witwenrente in Höhe der Versichertenrente ohne Kinderzuschuß gewährt, aus der die Witwenrente nach den Absätzen 1 bis 3 des § 45 AVG zu berechnen ist, mindestens jedoch die Rente ohne Kinderzuschuß, die dem Versicherten im Zeitpunkt seines Todes zustand. Damit wird bezweckt, der Witwe die mit dem Todesfall verbundenen Aufwendungen zu einem Teil abzunehmen und ihr die Umstellung auf die neuen Lebensverhältnisse finanziell zu erleichtern (BSG 29, 116 (119); BVerfG SozR Nr. 92 zu Art. 3 des Grundgesetzes - GG -). Dieses Ziel sucht das Gesetz in seiner derzeitigen Fassung schon dadurch zu erreichen, daß es der Witwe für das Sterbevierteljahr anstelle von sechs Zehnteln den vollen Betrag der Rente zubilligt, aus der die Witwenrente zu berechnen ist; das ist im Falle der sog. "kleinen Witwenrente" die Versichertenrente wegen BU (§ 45 Abs. 1 AVG), im Falle der sog. "großen Witwenrente" die Rente wegen EU (§ 45 Abs. 2 Satz 1 AVG). Nur wenn dem Versicherten im Zeitpunkt seines Todes eine höhere Versichertenrente als diese Rente zustand, wird die Witwe für das Sterbevierteljahr noch günstiger gestellt; sie erhält dann die höhere Rente des Verstorbenen. Ein solcher Fall ist insbesondere gegeben, wenn der Versicherte Anspruch auf Rente wegen EU oder auf Altersruhegeld hatte, der Witwe aber nur die kleine Witwenrente zu gewähren ist. Dann wird zusätzlich an den Besitzstand angeknüpft, der zuletzt beim Versicherten gegeben war; der Witwe bleiben vorübergehend noch die höheren Renteneinkünfte des Versicherten gewahrt (vgl. BSG 28, 36, (37)).

Nach den Feststellungen des SG erfüllt die Klägerin nicht die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 AVG; sie hat mithin für das Sterbevierteljahr nur dann Anspruch auf den Betrag einer EU-Rente, wenn dem Versicherten im Zeitpunkt seines Todes eine solche Rente zustand. Dies hat das SG zu Unrecht bejaht.

Da der Versicherte während der Durchführung einer Maßnahme zur Erhaltung, Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit verstorben ist, ohne daß ihm vor deren Beginn eine Rente bewilligt war, hatte er nach dem eindeutigen Wortlaut von § 19 AVG in der bis zum 1. Oktober 1974 geltenden Fassung (§ 19 AVG aF) keinen "Anspruch auf Rente". Damit stand ihm eine EU-Rente auch nicht zu, selbst wenn er sie beantragt hatte und die Voraussetzungen des § 24 AVG vorlagen. "Zustehen" kann eine Rente nur dann, wenn mindestens materiell-rechtlich ein Rentenanspruch besteht. Ist das nicht der Fall, so fehlt auch ein nach § 45 Abs. 5 AVG zusätzlich zu wahrender Besitzstand. Dieser setzt zwar nicht notwendig einen tatsächlichen Rentenbezug, wohl aber das Bestehen eines Rentenanspruchs voraus (BSG 29, 116 (117, 119)). Er ist damit nicht gegeben, wenn das Gesetz, wie in § 19 AVG aF, ausdrücklich einen Rentenanspruch ausschließt.

Das Urteil des 4. Senats vom 13. November 1969 (BSG 30, 129 (130 f)), das eine nach § 1278 der Reichsversicherungsordnung (RVO) = § 55 AVG ruhende Rente betraf, steht dieser Auslegung nicht entgegen. Abgesehen davon, daß dieses Urteil zu einer früheren Fassung des § 1268 RVO = § 45 AVG, Absatz 5, erging, stützt es sich vor allem auf die Vorschrift des § 1279 RVO = § 56 AVG, Absatz 3; sie besagt, daß die einschlägigen Ruhensvorschriften auf "Renten nach § 1268 Abs. 5 RVO = § 45 Abs. 5 AVG nicht anzuwenden" sind. Diese Vorschrift läßt sich hier nicht heranziehen. Sie betrifft Fälle, in denen ein dem Grunde nach bestehender Rentenanspruch mit einer Verletztenrente zusammentrifft. Ein darüber hinaus reichender Rechtsgedanke, der auch für Fälle der vorliegenden Art bedeutsam sein könnte, liegt dieser Bestimmung nicht zugrunde.

Es kann zweifelhaft sein, ob das Ergebnis befriedigt. Dem in § 45 Abs. 5 AVG zusätzlich enthaltenen Gedanken einer Besitzstandswahrung könnte hier zwar nicht die Gewährung einer EU-Rente, wohl aber die Fortzahlung des Übergangsgeldes für das Sterbevierteljahr entsprechen. Eine solche Folgerung zu ziehen, ist dem Senat indessen versagt, weil eine Gesetzeslücke nicht deutlich zu erkennen ist. § 45 Abs. 5 AVG stellt es, soweit er einen Besitzstand wahrt, allein auf Renten ab; daran hat der Gesetzgeber auch nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 8. März 1972 (SozR Nr. 92 zu Art. 3 GG) festgehalten, obwohl dort ein - neben einer BU-Rente bezogenes - Arbeitsentgelt des Versicherten vor dem Tode mitberücksichtigt worden ist. Daraus folgt, daß nach dem Willen des Gesetzgebers bei Wahrung eines Besitzstandes im Rahmen von § 45 Abs. 5 AVG andere Einkünfte des Versicherten als Renten aus der Rentenversicherung, also auch Arbeitseinkünfte, außer Betracht zu bleiben haben. Somit verbietet sich auch eine Berücksichtigung des Übergangsgeldes, das - wie die Beklagte zutreffend ausführt - regelmäßig vorheriges Arbeitseinkommen ersetzen soll.

Ob die jetzige gesetzliche Regelung den Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts im Beschluß vom 8. März 1972 voll gerecht wird, ist nicht zu prüfen. Im vorliegenden Falle ist jedenfalls nicht ersichtlich, daß die Klägerin in ihren Grundrechten verletzt sein könnte. Es darf nicht übersehen werden, daß sie für das Sterbevierteljahr immerhin eine volle, keine gekürzte Rente erhält. Damit wird ihr, wie es der Gesetzgeber mit § 45 Abs. 5 AVG beabsichtigte, die Umstellung auf die neuen Lebensverhältnisse erleichtert. Es erscheint nicht willkürlich, wenn der Gesetzgeber darüber hinaus einen "Besitzstand" für die Witwe nur insoweit wahrt, als gegenüber dem Versicherungsträger bereits ein Rentenanspruch bestanden hat.

Auf die Sprungrevision der Beklagten ist daher das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1649363

BSGE, 98

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