Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 26.11.1990)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 26. November 1990 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die am 4. März 1923 geborene Klägerin begehrt von der Beklagten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) für die Zeit vom 1. Juli 1984 bis 31. März 1988. Seit April 1988 bezieht sie Altersruhegeld (Bescheid der Beklagten vom 26. Januar 1988).

Die Klägerin stützt sich auf folgende Versicherungszeiten in der Rentenversicherung der Arbeiter:

Von November 1941 bis Oktober 1942 Ersatzzeiten (12 Monate), von November 1942 bis Juni 1944 Pflichtbeiträge (20 Monate), von Januar 1982 bis Dezember 1983 freiwillige Beiträge (24 Monate) sowie von Januar 1984 bis April 1984 freiwillige Beiträge (4 Monate).

Seit dem 1. Januar 1986 sind durch das Inkrafttreten des Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetzes vom 11. Juli 1985 – BGBl I S 1450 – (HEZG) außerdem noch 24 Monate Kindererziehungszeiten zu berücksichtigen.

Im Juni 1984 beantragte die Klägerin erstmals die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Der sie untersuchende Arzt gelangte zu dem Ergebnis, die Klägerin könne seit Antragstellung auf Dauer keine Erwerbstätigkeit mehr verrichten. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 8. Februar 1985; Widerspruchsbescheid vom 3. Mai 1985).

Vor dem Sozialgericht (SG) wurde ein Vergleich geschlossen: Die Beklagte verpflichtete sich, nach Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) über die Verfassungsmäßigkeit der §§ 1246 Abs 1, 2a, 1247 Abs 1, 2a Reichsversicherungsordnung (RVO) sowie Art 2 § 6 Abs 2 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) den Rentenantrag der Klägerin neu zu bescheiden.

Nach Erlaß des Beschlusses des BVerfG vom 8. April 1987 (Az.: 1 BvR 564/84 ua) stellte die Klägerin bei der Beklagten den Antrag, den ablehnenden Rentenbescheid zurückzunehmen. Die Beklagte lehnte dies ab (Bescheid vom 13. April 1988).

Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 8. November 1989). Das Landessozialgericht (LSG) hat die vom SG zugelassene Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 26. November 1990). Es hat im wesentlichen ausgeführt: Die §§ 1246 Abs 2a und 1247 Abs 2a RVO seien auch in den Fällen verfassungsgemäß, in denen – wie bei der Klägerin – am 1. Januar 1984 noch nicht 60 Kalendermonate Versicherungszeit erfüllt gewesen seien. Die Neuregelung verstoße weder gegen Art 14 noch gegen Art 3 des Grundgesetzes (GG).

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des Art 14 GG.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 8. November 1989 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13. April 1988 zu verurteilen, die Bescheide vom 8. Februar 1985 und 3. Mai 1985 zurückzunehmen sowie der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach einem am 26. Juni 1984 eingetretenen Versicherungsfall zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die durch Zulassung statthafte Revision der Klägerin ist unbegründet.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Rente wegen EU.

Wie die Vorinstanzen zu Recht ausgeführt haben, fehlt es der Klägerin an den besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 (HBegleitG 1984) vom 22. Dezember 1983 (BGBl I S 1532) mit Wirkung vom 1. Januar 1984 eingeführten §§ 1247 Abs 2a, 1246 Abs 2a Satz 1 und 2 RVO. Danach müssen für den Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen EU in den letzten 60 Kalendermonaten vor Eintritt des Versicherungsfalles mindestens für 36 Kalendermonate Pflichtbeiträge entrichtet worden sein.

Die Klägerin hat in dem für sie maßgebenden Zeitraum vom 1. Juni 1979 bis 31. Mai 1984 keinen Pflichtbeitrag entrichtet. Eine Verlängerung des Fünfjahreszeitraums ist nicht möglich, da bei der Klägerin keine nach § 1246 Abs 2a Satz 2 RVO nicht mitzuzählenden Zeiten vorliegen.

Der Anspruch der Klägerin ist auch nicht nach der durch das HBegleitG 1984 mit Wirkung vom 1. Januar 1984 neu gefaßten Übergangsvorschrift des Art 2 § 6 Abs 2 ArVNG gegeben. Nach dieser Vorschrift setzt die Weitergeltung der §§ 1246, 1247 RVO in der bis zum 31. Dezember 1983 geltenden Fassung auch für Versicherungsfälle nach diesem Zeitpunkt – ua – voraus, daß der Versicherte vor dem 1. Januar 1984 eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt hat. Durch die nach Inkrafttreten des HEZG zusätzlich zu berücksichtigenden Kindererziehungszeiten hat die Klägerin allerdings vor dem 1. Januar 1984 nicht nur 56 Kalendermonate, sondern 80 Kalendermonate Versicherungszeit zurückgelegt. Wie der erkennende Senat insoweit bereits mit Urteil vom 28. November 1990 (SozR 3-5750 Art 2 § 6 ArVNG Nr 3) entschieden hat, sind Versicherungszeiten iS von Art 2 § 6 Abs 2 Nr 1 ArVNG nicht nur die schon am 31. Dezember 1983 anrechenbaren 56 Monate Beitrags- und Ersatzzeiten, sondern auch die nach § 1251a RVO anzurechnenden Kindererziehungszeiten.

Dennoch hat die Klägerin keinen Rentenanspruch, da der Versicherungsfall (26. Juni 1984) vor dem 31. Dezember 1985 eingetreten ist, Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 aber nach Art 2 § 5c ArVNG ausnahmslos erst für Versicherungsfälle nach dem 30. Dezember 1985 anrechenbar sind (Urteil des erkennenden Senats vom 28. November 1990 – aaO). Gegen die verfassungsmäßige Gültigkeit des Art 2 § 5c ArVNG bestehen keine durchgreifenden Bedenken. Er verstößt weder gegen Art 3 Abs 1 GG noch gegen das in Art 20 Abs 1 GG verankerte Sozialstaatsprinzip (vgl Urteil des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ vom 8. August 1990 in BSGE 67, 171 = SozR 3-5050 § 15 Nr 2 für die sachlich parallele Regelung des Art 2 § 6c des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG); ihm folgend für Art 2 § 5c ArVNG der erkennende Senat im Urteil vom 29. November 1991 – 5/4a RJ 41/87 –).

Bezüglich der §§ 1246 Abs 2a, 1247 Abs 2a RVO, Art 2 § 6 Abs 2 ArVNG hat das BVerfG bereits durch Beschluß vom 8. April 1987 (BVerfGE 75, 78 ff = SozR 2200 § 1246 Nr 142) entschieden, daß diese durch das HBegleitG 1984 eingeführten Vorschriften verfassungsgemäß sind. Zwar betrifft diese Entscheidung nur diejenigen Versicherten, die – anders als die Klägerin – im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung am 1. Januar 1984 bereits eine Rechtsposition erworben hatten, die sie – bei Eintritt des Versicherungsfalles und Stellung eines Rentenantrags – ohne weitere Voraussetzungen zum Bezug einer Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente berechtigt hätte. Wenn indes das BVerfG bereits bei diesen Versicherten eine Verletzung der Eigentumsgarantie im Sinne des Art 14 GG mit der Begründung verneint hat, daß ihnen die Rentenanwartschaft durch die gesetzliche Neuregelung nicht „total” entzogen worden ist, so muß dies umsomehr für die Klägerin gelten, die bei Inkrafttreten der genannten neuen Vorschriften am 1. Januar 1984 eine derartige – im Versicherungsfall der EU nur durch Antragstellung zur Rentengewährung führende – Anwartschaft noch nicht einmal hatte.

Unter Beachtung der vom BVerfG in der genannten Entscheidung gemachten Ausführungen kann jedenfalls auch bei der Klägerin kein Totalentzug, sondern nur eine Modifizierung ihrer eigentumsgeschützten sozialversicherungsrechtlichen Rechtsposition vorliegen. Wie die Vorinstanzen zutreffend festgestellt haben, ergibt sich aus der Gesamtbetrachtung der durch das HBegleitG eingeführten Regelungen, daß die Klägerin eine andere Rechtsposition erworben hat, die sie bei Eintritt des Versicherungsfalles und Stellung eines Rentenantrages ohne weitere Voraussetzungen zum Bezug eines Altersruhegeldes berechtigt. Insoweit sind nämlich die Voraussetzungen für die Gewährung des Altersruhegeldes nach Vollendung des 65. Lebensjahres (§ 1248 Abs 5 iVm Abs 7 Satz 3 RVO) dahingehend geändert worden, daß die erforderliche Wartezeit von 180 Kalendermonaten auf 60 Kalendermonate Versicherungszeit reduziert wurde und damit gerade der Kreis der Versicherten mit nur geringer Versicherungszeit in die Lage versetzt wird, ein Altersruhegeld nach Vollendung des 65. Lebensjahres beziehen zu können. Dementsprechend erhält die unter diesen Kreis fallende Klägerin seit dem 1. April 1988 ein Altersruhegeld.

Der Eingriff in die Rechtsposition der Klägerin ist zulässig, weil er durch Gründe des öffentlichen Interesses und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt ist (BVerfGE 31, 275, 290; 36, 281, 293; 58, 81, 121; 75, 78, 97). Die Regelungen des HBegleitG 1984 belasten die Klägerin auch nicht übermäßig und sind deshalb für sie zumutbar. Die Versicherungszeiten haben für den zwischenzeitlich eingetretenen Versicherungsfall des Alters ihren vollen Wert behalten. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß die Klägerin trotz ihres im Zeitpunkt der Gesetzesänderung am 1. Januar 1984 bereits vorgerückten Alters von über 60 Jahren die Wartezeit von 60 Kalendermonaten nicht zurückgelegt und damit nach der bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Gesetzesfassung die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen EU nicht erfüllt hatte. Sie hat demnach das Risiko, bei Eintritt der EU schon vor dem 1. Januar 1984 keine Rente zu erhalten, bewußt in Kauf genommen. Aufgrund der bis zum 1. Januar 1984 anrechenbaren Versicherungszeit von nur 56 Kalendermonaten konnte die nach altem Recht zu erwartende Rente für die Klägerin auch keinen Lohnersatzcharakter haben und als ausschließliche Einnahmequelle nicht der Existenzsicherung dienen. Dies erhellt bereits daraus, daß das der Klägerin ab 1. April 1988 bewilligte Altersruhegeld zu diesem Zeitpunkt monatlich lediglich 159,87 DM betrug. Sie gehört somit nicht zu den Personen, die durch eigene, erhebliche Beitragsleistungen einen Versicherungsschutz erworben hatten, auf den sie im Versicherungsfall „angewiesen” waren. Nur für diesen Personenkreis hat aber das BVerfG in seiner Entscheidung vom 8. April 1987 aaO eine Verletzung des Art 14 GG ohne eine rentenanwartschafterhaltende Regelung bejaht.

Das Vertrauen der Klägerin auf den Fortbestand der sie vor dem 1. Januar 1984 begünstigenden Rechtslage ist deshalb nicht so schutzwürdig, wie dasjenige eines Versicherten, der bereits bis zu jenem Zeitpunkt eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt hatte. Folglich war es auch verfassungsrechtlich nicht geboten, für Versicherte wie die Klägerin eine Übergangsvorschrift vorzusehen, die es – vergleichbar mit der in Art 2 § 6 Abs 2 ArVNG getroffenen Regelung – ermöglicht hätte, durch monatliche Entrichtung eines Mindestbeitrages die Anwartschaft für eine EU-Rente aufrechtzuerhalten.

Die von der Revision angegriffenen Neuregelungen sind nach alledem zur Erreichung der vom BVerfG in der genannten Entscheidung eingehend dargelegten gesetzgeberischen Ziele des HBegleitG 1984 nicht nur geeignet und erforderlich. Da die Klägerin bis zum 1. Januar 1984 keinen auf eigene, erhebliche Beitragsleistung beruhenden Versicherungsschutz erworben hatte, auf den sie zur Existenzsicherung angewiesen war, entsprechen die §§ 1246 Abs 2a, 1247 Abs 2a RVO und Art 2 § 6 Abs 2 ArVNG vielmehr auch in der für die Klägerin typischen Fallgestaltung den Anforderungen des Art 14 GG an eine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung nach Art 14 Abs 1 Satz 2 GG (vgl BVerfG in SozR 2200 § 1246 Nr 142, S 466).

Die gerügten Vorschriften verstoßen auch nicht gegen Art 3 Abs 1 GG. Insoweit gelten die diesbezüglichen Ausführungen des BVerfG im Beschluß vom 8. April 1987 aaO, auf die verwiesen wird, für den vorliegenden Fall gleichermaßen.

Der Revision der Klägerin mußte somit der Erfolg versagt bleiben; sie war zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1174048

BSGE, 43

NZA 1992, 720

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