Entscheidungsstichwort (Thema)

Konkurrenz mehrfacher Ansprüche auf Familienkrankenpflege

 

Leitsatz (amtlich)

Haben beide Elternteile eines Kindes für dieses einen Anspruch auf Familienkrankenpflege gegen verschiedene Krankenkassen, so bleibt die "zuerst in Anspruch genommene" Kasse (RVO § 205 Abs 4 S 2) auch nach dem Erlöschen der Mitgliedschaft des bei ihr versicherten Elternteils leistungspflichtig.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Grundvoraussetzung des Anspruchs auf Familienkrankenpflege ist, daß der Versicherungsfall während der Mitgliedschaft eingetreten ist; Entstehung und Fortbestand der einzelnen, auf demselben Versicherungsfall beruhenden Ansprüche sind jedoch im Rahmen der Leistungsverpflichtung der Kasse von dem Weiterbestehen der Mitgliedschaft nach Eintritt des Versicherungsfalles unabhängig.

2. Der gleichzeitig gegen eine andere Kasse bestehende Anspruch auf Familienkrankenpflege ist nur insoweit zu erfüllen, als er über die Leistungsverpflichtung der zuerst in Anspruch genommene Kasse hinausgeht.

 

Normenkette

RVO § 205 Abs. 4 S. 2 Fassung: 1930-07-26

 

Tenor

Auf die Sprungrevision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 8. März 1963 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die am 12. Juni 1962 geborene C C befand sich vom Tage ihrer Geburt bis zum 4. August 1962 in Krankenhauspflege. Die klagende Betriebskrankenkasse (BKK), bei der die Mutter des Kindes bis zum 24. Juli 1962 versichert war, hatte als "zuerst in Anspruch genommene Kasse" (vgl. § 205 Abs. 4 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) eine Kostenzusage erteilt.

Die BKK ist der Auffassung, daß vom 25. Juli 1962 an die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK), bei der der Vater des Kindes versichert ist, die Kosten der Krankenhauspflege zu tragen habe. Die AOK hat ein entsprechendes Ansinnen der BKK abgelehnt (Schreiben vom 24. Oktober 1962).

Die BKK hat daraufhin Klage vor dem Sozialgericht (SG) erhoben mit dem Antragt,

die beklagte AOK zu verurteilen, an sie 249,15 DM zu zahlen.

Sie ist der Meinung, daß § 205 Abs. 4 RVO nur für den Fall gelte, daß im Zeitpunkt der Notwendigkeit der Krankenhauspflege ein mehrfacher, auf ordentlicher Mitgliedschaft beruhender Anspruch bestehe. Der nachgehende Anspruch eines ehemaligen Versicherten auf Familienhilfe könne nur dann zum Zuge kommen, wenn nicht ein anderweitiger auf einer ordentlichen Mitgliedschaft begründeter Anspruch bestehe. Der Leistungsanspruch, den der Vater des Kindes Cornelia gegen die Beklagte habe, sei vorrangig, weshalb Leistungen aus dem Hilfsanspruch, der aus der beendeten Versicherung der Mutter des Kindes abgeleitet werden könnte, nicht zu gewähren seien.

Es komme hinzu, daß sich der Unterhaltsanspruch des Kindes vom 25. Juli 1962 an in erster Linie gegen den Vater richte. Die Mutter habe nämlich kein eigenes Einkommen mehr und auch nicht durch freiwillige Weiterversicherung Vorsorge für den Fall einer Krankheit des Kindes getroffen.

Die beklagte AOK hat um

Klageabweisung

gebeten. Nach ihrer Auffassung bleibt die einmal begründete Leistungsverpflichtung der zuerst in Anspruch genommenen Kasse auch nach dem Ausscheiden des Mitglieds aus dem Versicherungsverhältnis bestehen. Die Auffassung der klagenden BKK, daß der nach dem Ausscheiden aus der Versicherung weiterlaufende Anspruch auf Krankenhilfe (§ 183 Abs. 1 Satz 2 RVO) gegenüber einem auf Mitgliedschaft beruhenden Anspruch subsidiär sei, finde im Gesetz keine Stütze.

Das Sozialgericht (SG) hat die beklagte AOK dem Klageantrag gemäß verurteilt; die Berufung wurde zugelassen (Urteil vom 8. März 1963). Das SG ist davon ausgegangen, daß die klagende BKK als zuerst in Anspruch genommene Kasse (§ 205 Abs. 4 Satz 2 RVO) zunächst zur Gewährung der Familienkrankenhauspflege verpflichtet gewesen sei. Jedoch sei nach dem Ausscheiden der Mutter aus dem Versicherungsverhältnis der Anspruch des Vaters gegen seine Krankenkasse wiederaufgelebt, der bis dahin nur geruht habe. Dem Zweiten Buch der RVO sei der allgemeine Rechtsgedanke zu entnehmen, daß Ansprüche aus einem bestehenden Versicherungsverhältnis solchen aus einem früheren vorgingen. Das müsse auch dann gelten, wenn Ansprüche aus verschiedenen Versicherungsverhältnissen gegen mehrere Krankenkassen bestünden.

Gegen dieses Urteil hat die beklagte AOK - unter Vorlage der Einwilligungserklärung der klagenden BKK - Sprungrevision mit dem Antrag eingelegt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die AOK hält den die angefochtene Entscheidung tragenden Rechtsgedanken, Ansprüche aus einem bestehenden Versicherungsverhältnis gingen solchen aus einem früheren vor, nur dann für anwendbar, wenn es sich wie bei § 212 RVO um denselben Träger des Anspruchs handele. § 205 Abs. 4 RVO solle verhüten, daß für denselben Versicherungsfall mehrere Ansprüche begründet würden. Werde nach der klaren Regelung des Satzes 2 aaO die Leistungsverpflichtung der einen Krankenkasse - von mehreren in Frage kommenden - begründet, so bleibe diese Leistungsverpflichtung bestehen, bis der Versicherungsfall abgewickelt sei.

Die klagende BKK hat beantragt,

die Sprungrevision der beklagten AOK zurückzuweisen.

Sie hält die Auffassung des SG für zutreffend.

Die Sprungrevision der beklagten AOK ist begründet. Zu Unrecht hat das SG die beklagte AOK verurteilt, die Kosten der Krankenhauspflege für das Kind Cornelia für die Zeit vom 25. Juli 1962 an zu übernehmen.

Nach § 205 Abs. 4 Satz 1 RVO wird die Leistung nur einmal gewährt, wenn ein Anspruch nach Abs. 1 bis 3 gegen mehrere Krankenkassen begründet ist. Was hierbei als nur einmal zu gewährende "Leistung" zu verstehen ist, folgt aus dem im Vordersatz der genannten Vorschrift verwendeten Begriff des "Anspruchs nach Abs. 1 bis 3". "Leistung" entspricht somit dem umfassenden Anspruch auf die Sachleistung der Familienkrankenpflege, wie er in § 205 Abs. 1 bis 3 RVO iVm Abschn. II Nr. 1 des Erlasses des Reichsarbeitsministers über Verbesserungen in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 2. November 1943 (AN 1943, 485) und Art. 10 der Verordnung (VO) vom 17. März 1945 (BGBl I 41) näher festgelegt ist (vgl. BSG 20, 129, 131). "Grundvoraussetzung" für einen solchen Anspruch auf Familienkrankenpflege ist, daß der maßgebliche Versicherungsfall - hier die Erkrankung des unterhaltsberechtigten Kindes (vgl. BSG 22, 252, 254) - während des Versicherungsverhältnisses des Anspruchsberechtigten eingetreten ist. Abgesehen von dem Sonderfall des § 214 RVO, bei dem sogar eine erst nach Beendigung der Mitgliedschaft eingetretene Erkrankung versicherungsmäßige Ansprüche gegen die Krankenkasse begründet, gilt der Grundsatz, daß als Anspruchsgrundlage erforderlich, aber auch ausreichend ist, daß der Versicherungsfall während des Versicherungsverhältnisses eingetreten ist, daß jedoch Entstehung und Fortbestand der einzelnen auf demselben Versicherungsfall beruhenden Ansprüche von der Fortdauer der Mitgliedschaft nach Eintritt des Versicherungsfalls unabhängig sind (vgl. BSG 22, 115, 116).

Das gilt auch in dem Fall, daß Ansprüche auf Familienkrankenpflege gegen mehrere Krankenkassen zugleich begründet sind und die Leistungsverpflichtung sich nach § 205 Abs. 4 Satz 2 RVO auf die "zuerst in Anspruch genommene" Kasse konzentriert. Diese Vorschrift soll in Durchführung der in Satz 1 aaO enthaltenen Regelung, daß die Leistung nur einmal gewährt wird, klarstellen, welche von mehreren in Frage kommenden Krankenkassen für die Leistung aufkommen soll. Darüber hinaus ist der Vorschrift, die die zufällige erste Inanspruchnahme unter Verzicht auf einen Ausgleich mit den anderen beteiligten Krankenkassen über die Leistungsverpflichtung entscheiden läßt, zu entnehmen, daß sie eine möglichst einfache Anspruchsabwicklung anstrebt. Damit stünde im Widerspruch, wenn für die einheitliche Sachleistung der Krankenhauspflege in demselben Versicherungsfall mehrere Krankenkassen zuständig wären. Somit sprechen auch Sinn und Zweck des § 205 Abs. 4 Satz 2 RVO dafür, daß der Grundsatz, die einmal für einen Anspruch begründete Leistungsverpflichtung der Krankenkasse dauere auch nach Erlöschen der Mitgliedschaft fort, auch in diesem Fall angewendet wird. Die zuerst in Anspruch genommene Kasse bleibt für die Anspruchsabwicklung zuständig. Der auch gegen die andere Krankenkasse - hier aus dem Versicherungsverhältnis des Vaters - begründete Anspruch auf Krankenpflege ist nach Eintritt der Voraussetzung des § 205 Abs. 4 Satz 2 RVO durch den Anspruch gegen "die zuerst in Anspruch genommene" Kasse verdrängt worden mit der Folge, daß jener Anspruch nur für bestimmte Leistungsarten, die dieser nicht umfaßt (vgl. BSG 14, 22), oder möglicherweise auch für Zeiten der Krankenpflege in Erscheinung tritt, für die diese Kasse infolge Ablaufs ihrer Leistungsverpflichtung (vgl. § 183 Abs. 1 Satz 2 RVO) nicht aufzukommen hat. Ist aber die zuerst in Anspruch genommene Kasse zur Leistung - hier: der Familienkrankenhauspflege - sowohl ihrer Art als auch ihrer Dauer nach "an sich" verpflichtet, so läßt das Erlöschen der Mitgliedschaft des anspruchsberechtigten Elternteils die Leistungsverpflichtung dieser Kasse unberührt.

Bei Berücksichtigung dieses Zusammenhanges erweist sich der vom SG zur Stütze seiner Ansicht herangezogene § 212 RVO nicht als Ausfluß eines allgemeinen Rechtsgedankens, sondern als eine Ausnahmevorschrift für den Fall, daß der Versicherte selbst, der Kassenleistungen bezieht, zu einer anderen Kasse übertritt. Nur um sicherzustellen, daß der Grundsatz des § 206 iVm § 306 RVO, wonach die neue Kasse gegenüber Versicherungspflichtigen für die Regelleistungen mit dem Beginn der Mitgliedschaft aufzukommen hat, ohne Einschränkung durchgeführt wird, wurde § 212 RVO zur Verhütung der sonst gegebenen Rechtsfolge eingeführt, "daß der alte Träger der Versicherung weiter verpflichtet bleibt" (Reichstags-Drucks., 12. Legislatur-Periode, II. Session 1909/10 "Zu Nr. 340"; Amtl. Begründung des Entwurfs der RVO zu § 225 - jetzt § 212 - S. 162). Hieraus geht hervor, daß § 212 RVO deutlich eine Durchbrechung eines sonst gültigen Prinzips in der Krankenversicherung darstellt. Diese Ausnahmeregelung ist zwar nach dem sie tragenden Grundgedanken nicht nur im Fall des "Übertritts" des Versicherten von einer Kasse zur anderen anwendbar (vgl. BSG 1, 158, 160 ff für den Fall, daß die Mitgliedschaft eines versicherungspflichtig Beschäftigten bei einer Betriebskrankenkasse endet und von einer Mitgliedschaft als Rentner in einer Allgemeinen Ortskrankenkasse abgelöst wird). Fehlt es aber überhaupt an einem Wechsel der Kassenzugehörigkeit in der Person des Anspruchsberechtigten - wie im Falle des § 205 Abs. 4 RVO -, so kann § 212 RVO auch nicht entsprechend angewandt werden.

Demnach ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2296896

BSGE, 222

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