Entscheidungsstichwort (Thema)

Fragerecht der Beteiligten bei schriftlichem Sachverständigengutachten

 

Leitsatz (redaktionell)

Das Gericht muß dem ordnungsgemäß und nicht rechtsmißbräuchlich gestellten Antrag eines Beteiligten auf Ladung des Sachverständigen stattgeben, wenn der Beteiligte sachdienliche Fragen an den Sachverständigen zu dessen schriftlichem Gutachten richten will. In der unberechtigten oder die Begründung mißachtenden Ablehnung eines solchen Antrages liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel.

Dieses Fragerecht kann nach schriftlicher Begutachtung nur dann ausgeübt werden, wenn das Gericht den Sachverständigen wie von Amts wegen nach ZPO § 411 Abs 3 zur mündlichen Verhandlung lädt, es sei denn, daß eine ergänzende schriftliche Befragung genügt.

 

Normenkette

SGG § 116 S. 2, § 162 Abs. 1 Nr. 2; ZPO § 411 Abs. 3

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 6. November 1973 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der Kläger ist der 1947 geborene Sohn des Kriegsbeschädigten Ernst Heinrich T (T.), der laut Todesbescheinigung am 4. März 1967 an Kreislaufversagen, vermutlich Infarzierung, verstorben ist. Seit 1950 bezog T. eine Beschädigtenrente entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 80 v. H. wegen Verlustes des rechten Oberschenkels und Stumpfneurombildung. Unabhängig davon wurde er 1957 und 1966 wegen Lungentuberkulose und ab Dezember 1966 wegen der Folgen eines Autounfalls, bei dem seine Ehefrau ums Leben kam, stationär behandelt. Das Versorgungsamt gewährte dem Kläger und seinen Brüdern das halbe Bestattungsgeld (Bescheid vom 7. März 1968) und lehnte unter Gewährung einer Waisenbeihilfe einen Waisenversorgungsanspruch ab (Bescheid vom 24. Juli 1968), weil der Tod des Vaters keine Schädigungsfolge sei. Die Widersprüche blieben erfolglos (Bescheide vom 20. Juni 1968 und 19. September 1968). Das Sozialgericht (SG) hat die Klagen auf ein volles Bestattungsgeld und auf einen Waisenrentenanspruch miteinander verbunden. Aufgrund eines von Prof. Dr. Sch, Universität M, erstatteten Gutachtens wies das SG die Klagen ab (Urteil vom 15. Juli 1971). Im Berufungsverfahren lehnten Dr. M, D, und Prof. Dr. Sch, H, es ab, Gutachten auf den vom Kläger wiederholt gestellten, vom SG zurückgewiesenen Antrag nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zu erstatten. Nachdem der Kläger sodann Prof. Dr. J, Medizinische Klinik der Universität M, nach § 109 SGG benannt hatte, bestellte ihn der Senatsvorsitzende beim Landessozialgericht (LSG) durch Beweisbeschluß vom 6. Juni 1973, in dem die vorhergehenden Beweisverfügungen aufgehoben wurden, ohne Bezug auf § 109 SGG zum Sachverständigen. Das Aktengutachten vom 13. August 1973 mit dem Briefkopf "Prof. Dr. Sch, Direktor der II. Med. Universitäts-Klinik u. Poliklinik M" mit dem Diktatzeichen "Prof. La/an" und mit der Einleitungsformel "Hiermit erstatten wird ..." ist von Oberarzt Prof. Dr. J und Facharzt für innere Medizin Prof. Dr. L unterzeichnet. Mit Schriftsätzen vom 10. und vom 31. Oktober 1973 bat der Kläger um Ladung des Sachverständigen Prof. Dr. J und um Befragung, welchen Teil des Gutachtens Prof. Dr. L zu vertreten habe, ob Prof. Dr. J das von Prof. Dr. L abgefaßte Gutachten überhaupt gelesen habe, um welchen Titel es sich bei dem zitierten Werk von Taylor und Stamler handle, ob das zitierte Werk "Atherosclerosis" von F. G. Schettler und G. S. Boyd in deutscher Sprache erschienen und ob es mit dem im Verlag Thieme herausgegebenen Werk "Arteriosklerose" von Prof. Dr. Sch identisch sei. Außerdem beanstandete der Kläger, daß der Sachverständige sich entgegen der Auflage im Beweisbeschluß vom 6. Juni 1973 nicht mit der vom Kläger eingereichten Äußerung des behandelnden Arztes Dr. G vom 19. Februar 1973 auseinandergesetzt und verschiedene weitere Gesichtspunkte nicht beachtet habe. In der mündlichen Verhandlung vom 6. November 1973 erklärte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers zur Niederschrift des Gerichtes: "Die soeben aus dem Sachbericht verlesenen 5 Beanstandungen gegen das letzte Gutachten sollen als Anträge gelten." Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 6. November 1973). Die Voraussetzungen für einen Rechtsanspruch auf Waisenrente (§ 38 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -) und auf das volle Bestattungsgeld (§ 36 Abs. 1 BVG) hat es vor allem aufgrund von Prof. Dr. J Gutachten, das auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG eingeholt worden sei, verneint. Dieser Sachverständige trage die gesamte Verantwortung für das Gutachten, wie sich aus den Unterschriften und Dienstbezeichnungen ergebe. Mängel, die die Überzeugungskraft beeinträchtigten und ein weiteres Gutachten oder zusätzliche Fragen an den Sachverständigen notwendig machten, seien weder vorgebracht worden noch erkennbar.

Der Kläger rügt mit der nicht zugelassenen Revision als wesentlichen Verfahrensmangel: Das LSG habe ihm das Recht auf Befragung des Sachverständigen Prof. Dr. J aus § 118 SGG, §§ 411, 402, 397 der Zivilprozeßordnung (ZPO) nicht gewährt. Wenn Prof. Dr. J das Gutachten nicht selbständig hätte abgeben können, habe er nicht das Vertrauen des Klägers. Prof. Dr. L sei weder von ihm benannt noch im Beweisbeschluß bestellt worden. An Prof. Dr. J sei die Frage zu richten gewesen, ob er das Gutachten gelesen habe. Auch hätten ihm die im Schriftsatz vom 31. Oktober 1973 dargelegten, in der Revisionsbegründung wiederholten Fragen gestellt werden sollen.

Der Kläger beantragt,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte stellt keinen Antrag.

 

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht erhobene Revision ist statthaft, weil der Kläger einen wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens mit Erfolg gerügt hat (§§ 164, 166, 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150). Das Rechtsmittel ist auch insoweit erfolgreich, als der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückverwiesen werden muß.

Der Kläger rügt zutreffend als wesentlichen Verfahrensmangel, daß das LSG den Sachverständigen Prof. Dr. J nicht zur mündlichen Verhandlung geladen hat, um ihn Fragen des Klägers zu dem schriftlichen Gutachten (§ 106 Abs. 3 Nr. 5 und Abs. 4, § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 411 Abs. 1 ZPO) beantworten zu lassen. Während das Gericht von sich aus nach eigenem Ermessen das Erscheinen eines Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens anordnen kann (§ 411 Abs. 3 ZPO; BGHZ 6, 398, 400 f; BVerwG 18, 216, 217), muß es dem ordnungsmäßig und nicht rechtsmißbräuchlich gestellten Antrag eines Beteiligten auf Ladung des Sachverständigen stattgeben, wenn die Partei sachdienliche Fragen an den Sachverständigen richten will (BSG SozR Nr. 160 zu § 162 SGG; für den Zivilprozeß: BGHZ 35, 370, 371; Stein/Jonas/Schumann/Leipold, ZPO, 19. Aufl. 1972, § 411, Anm. IV 2; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 10. Aufl. 1969, S. 621; für den Arbeitsgerichtsprozeß: BAG 20, 253, 259; für den Verwaltungsgerichtsprozeß: BVerwG, MDR 1973, 339; Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -, 6. Aufl. 1974, § 98, Rdnr. 7; Redeker/von Oertzen, VwGO, 4. Aufl. 1971, § 98, Anm. 9). In der unberechtigten oder die Begründung mißachtenden Ablehnung eines solchen Antrages liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel (BSG aaO). Dieses Fragerecht ist Ausfluß des Rechtes auf Gehör, das für ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren grundlegend ist (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -, § 62 SGG). Das Recht, dem Sachverständigen sachdienliche Fragen zu stellen, besteht auch im sozialgerichtlichen Verfahren aufgrund des § 116 Satz 2 SGG (entsprechend § 402 i. V. m. § 397 Abs. 1 und 2 ZPO und § 97 Satz 2 VwGO). Es kann nach schriftlicher Begutachtung nur dann ausgeübt werden, wenn das Gericht den Sachverständigen wie von Amts wegen nach § 411 Abs. 3 ZPO zur mündlichen Verhandlung lädt, es sei denn, daß eine ergänzende schriftliche Befragung genügt, die aber im vorliegenden Fall ebenfalls unterblieben ist.

Der Kläger hat auch die Ladung des Sachverständigen ordnungsgemäß beantragt. Im vorliegenden Fall kann dahingestellt bleiben, ob der Antrag im sozialgerichtlichen Verfahren - ebenso wie im Zivilprozeß - in der mündlichen Verhandlung, in der der Inhalt des schriftlichen Gutachtens vorgetragen wird (§ 112 Abs. 1 Satz 2 SGG, entsprechend § 285 Abs. 2 ZPO), gestellt werden muß (BGHZ 35, 370, 373; BGH, RzW 1969, 213; Rosenberg/Schwab, aaO, S. 626; ebenso für den Verwaltungsgerichtsprozeß: BVerwG, MDR 1973, 339) oder bereits vorher in einem vorbereitenden Schriftsatz (§ 108 Satz 1 SGG) vorgebracht oder wenigstens angekündigt werden kann oder sogar muß, um die Erledigung der Sache in einer einzigen mündlichen Verhandlung (§ 106 Abs. 2 SGG) zu ermöglichen und eine Verzögerung zu vermeiden (BGH, VersR 1972, 927, 928; Eyermann/Fröhler, § 98 VwGO, Rdnr. 7; OLG Düsseldorf, RzW 1964, 405, für das Verfahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz). Beide Voraussetzungen waren erfüllt. Der Kläger hatte in zwei Schriftsätzen den Antrag ausdrücklich gestellt und außerdem in der mündlichen Verhandlung vom 6. November 1973 durch die protokollierte Erklärung, die im Sachbericht wiedergegebenen Beanstandungen gegen das letzte Gutachten sollten als Anträge gelten, mit hinreichender Deutlichkeit wiederholt. Mit diesen "5 Beanstandungen" war der wesentliche Inhalt seiner Schriftsätze gemeint, wie er in fünf Punkten im Tatbestand des angefochtenen Urteils (Seite 6) zusammengefaßt wiedergegeben wird; dazu gehörte an 5. Stelle der Antrag, Prof. Dr. J zu laden und zu einzelnen Fragen zu hören.

Entgegen der Ansicht des LSG hat der Kläger diesen Antrag auch ausreichend begründet. Die Bemerkung des LSG zur Zurückweisung des Antrages, Mängel, die zusätzliche Fragen an den Sachverständigen notwendig machen könnten, seien weder vorgebracht worden noch erkennbar, widerspricht eindeutig dem tatsächlichen Prozeßablauf, wie er auch im Tatbestand des Urteils durch Wiedergabe der Beanstandungen andeutend beschrieben wird (Seite 6: "3. Auskunft, für welchen Teil des Gutachtens Professor Dr. L, nicht Professor Dr. J verantwortlich sei. 4. Auskunft darüber, unter welchem Titel und bei welchem Verlag 'Taylor - Stammler 1965' erschienen ist; außerdem, ob 'Atherosclerosis, Schettler und Boyd' auch in deutsch erschienen oder mit 'Arteriosklerose', Schettler, Thiemeverlag identisch ist."). Der Kläger hatte schriftlich verschiedene Fragen zum Inhalt des Gutachtens und zu dem Anteil des Sachverständigen Prof. Dr. J an dem Gutachten vorgebracht. Der Antrag auf Prof. Dr. J Ladung hätte nicht einmal mit den vorformulierten Fragen, die an den Sachverständigen gerichtet werden sollten, begründet zu werden brauchen; vielmehr genügte es, daß aus der Begründung die allgemeine Richtung, in die die vorgesehenen Fragen zielten, erkennbar war (BSG aaO; BGH, RzW 1969, 213; BVerwG, MDR 1973, 339; Wieczorek, ZPO, § 411, Anm. A II b; § 397, Anm. A I b 1; Stein/Jonas/Schumann/Leipold, § 411, Anm. IV/2). Die vom Kläger angekündigten Fragen waren auch in einem solchen Maße "sachdienlich", daß das Gericht nicht die Ladung des Sachverständigen wegen Unzulässigkeit der Fragen, über die es zu entscheiden gehabt hätte (§ 116 Satz 3 SGG, entsprechend § 397 Abs. 3 ZPO und § 97 Satz 3 VwGO), von vornherein hätte ablehnen dürfen. Vor allem wäre die erneute Aufforderung an Prof. Dr. J, gemäß der ausdrücklichen Auflage im Beweisbeschluß zu Dr. G Äußerung vom 19. Februar 1973 Stellung zu nehmen, "sachdienlich" gewesen, weil dies zur Sachaufklärung notwendig war (§ 103 SGG; BSG aaO). Auch die weiteren vorgetragenen Bedenken gegen den Inhalt des Gutachtens durften kraft des Fragerechts geltend gemacht werden, zumal sie unter Umständen zwecks Überzeugung des Klägers im Urteil hätten ausgeräumt werden müssen (BSG SozR Nr. 9 zu § 136 SGG; Nr. 79 zu § 128 SGG). Zudem konnten nähere Fragen nach Prof. Dr. J Verantwortung für das Gutachten "sachdienlich" sein. Gerade dann, wenn ein Sachverständiger - wie er - sein Gutachten von einer anderen Person - hier nach dem Diktatzeichen von Prof. Dr. L - hat abfassen lassen, "kommt der Erläuterung des Gutachtens durch den Sachverständigen selbst eine besondere Bedeutung zu" (BGH, VersR 1972, 928, 929). Ob Prof. Dr. J seine persönliche Verantwortung für das auf Antrag des Klägers zu erstattende Gutachten allein infolge des Hinweises auf den Kostenvorschuß im Begleitschreiben des Senatsvorsitzenden vom 7. Juni 1973 hinreichend bewußt war, nachdem § 109 SGG im Beweisbeschluß nicht genannt worden war, kann dahingestellt bleiben. Auch der von Amts wegen bestellte Sachverständige muß sein Gutachten persönlich erstatten und zum Ausdruck bringen, daß er den Inhalt voll verantwortet und billigt (BSG SozR Nr. 93 zu § 128 SGG). Es konnten aber begründete Zweifel dahingehend bestehen, ob Prof. Dr. J als Arzt des besonderen Vertrauens des Klägers in gesetzmäßiger Weise (BSG SozR Nr. 73 zu § 128 SGG; zu § 109 SGG: BSG 8, 72, 77 f; SozR Nr. 7 zu § 109 SGG) die volle Verantwortung für das gemeinsam mit Prof. Dr. L erstattete Gutachten übernommen hatte und Prof. Dr. L bei der Abfassung nur als Gehilfe tätig geworden war; der Kläger durfte diese Zweifel kraft seines Fragerechts ausräumen lassen.

Die Revision ist wegen dieses Verfahrensmangels begründet. Es ist nicht auszuschließen, daß das LSG in einem ordnungsmäßigen Verfahren anders entschieden hätte. Der Rechtsstreit muß unter Aufhebung des angerechneten Urteils an das LSG zurückverwiesen werden, damit die beantragte Befragung des Sachverständigen Prof. Dr. J nachgeholt werden kann (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Das LSG hat auch über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649212

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