Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtswidrige Auszahlung der Rente

 

Leitsatz (amtlich)

Den Träger der RV trifft nicht schon deshalb ein Verschulden an der Überzahlung iS des RVO § 1301 S 2, weil er einem Versicherten die zustehende Rente voll auszahlt, obwohl er weiß, daß bei einem Träger der gesetzlichen UV ein Verfahren über Feststellung einer Verletztenrente schwebt, deren Bewilligung ein - rückwirkendes - Ruhen der Rente aus der RV zur Folge haben kann.

 

Leitsatz (redaktionell)

Ein Rentenversicherungsträger zahlt eine Versichertenrente in voller Höhe nicht "rechtswidrig" aus, solange die Unfallrente noch nicht ausgezahlt worden ist.

 

Normenkette

RVO § 1301 S. 2 Fassung: 1965-06-09, § 1278 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

SG Berlin (Entscheidung vom 29.09.1976; Aktenzeichen L 6 J 122/75)

SG Berlin (Entscheidung vom 14.05.1975; Aktenzeichen S 27 J 916/74)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 29. September 1976 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht Berlin zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Umstritten ist, ob den Träger der Rentenversicherung ein Verschulden an einer Überzahlung (§ 1301 Satz 2 Reichsversicherungsordnung - RVO -) trifft, wenn er einem Versicherten die zustehende Rente voll auszahlt, obwohl er weiß, daß dieser bei einem Träger der Unfallversicherung einen Antrag auf Verletztenrente gestellt hat, deren Bewilligung voraussichtlich ein - rückwirkendes - Ruhen der Rente aus der Rentenversicherung oder eines Rententeils zur Folgen haben wird (§ 1278 RVO).

Der im Jahr 1940 geborene Kläger erlitt im September 1970 einen Arbeitsunfall. Er beantragte im Februar 1971 bei der Beklagten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Diese erhielt im März 1971 von der Bau-Berufsgenossenschaft Hannover (Bau-BG) die Auskunft, daß das (Unfall-)Feststellungsverfahren noch nicht abgeschlossen sei. Mit Bescheid vom 6. August 1971 bewilligte sie für die Zeit vom 11. März 1971 bis zum 30. September 1972 Rente wegen Berufsunfähigkeit; mit einem späteren Bescheid gewährte sie stattdessen Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Bescheide enthalten den Zusatz:

Sie sind verpflichtet, uns im Falle der Rentengewährung durch einen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung davon unverzüglich ... Kenntnis zu geben. Wir behalten uns im übrigen die Rückforderung evtl. zu Unrecht gezahlter Rentenbeträge ... vor ....

Im November 1972 bewilligte die Bau-BG Verletztenrente für die Zeit vom 11. März 1971 an; das bisher gezahlte Verletztengeld rechnete sie an. Die Beklagte stellte darauf mit Bescheid vom 14. Dezember 1972 fest, daß die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. April 1971 an teilweise ruhe, und forderte mit Bescheid vom 22. März 1973 von dem Kläger einen Betrag von über 5.000 DM zurück, wobei sie sich mit Ratenzahlungen einverstanden erklärte.

Widerspruch und Klage sind erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat mit Urteil vom 29. September 1976 das Urteil des Sozialgerichts (SG) Berlin vom 14. Mai 1975 und den Bescheid vom 22. März 1973 aufgehoben. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt, die Rückforderung sei nach § 1301 Satz 2 RVO unzulässig, weil die Beklagte dadurch, daß sie an den Kläger die volle Rente ausgezahlt habe, schuldhaft gehandelt habe.

Mit der von dem erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1301 Satz 2 RVO und beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 29. September 1976 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. Mai 1975 als unbegründet zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als die Sache zu weiteren Ermittlungen zurückverwiesen werden muß. Ob der Rückforderungsbescheid der Beklagten rechtmäßig ist, läßt sich aufgrund der vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen noch nicht abschließend beurteilen.

Das Berufungsgericht hat sinngemäß ausgeführt, daß infolge der Doppelversorgung des Klägers mit Rente wegen Erwerbsunfähigkeit einerseits und Verletztenrente andererseits infolge der Ruhensvorschrift des § 1278 RVO eine Überzahlung wie in dem bindend gewordenen Bescheid der Beklagten vom 14. Dezember 1972 festgestellt, und damit dem Grunde nach ein Erstattungsanspruch der Beklagten gegen den Kläger entstanden ist. Die Beteiligten haben gegen die insoweit getroffenen tatsächlichen Feststellungen keine Revisionsgründe vorgebracht und die aus diesen Feststellungen gezogenen rechtlichen Schlußfolgerungen, die im wesentlichen mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (vgl SozR Nr 11 zu § 1301 RVO) übereinstimmen, nicht bezweifelt. Der Streit geht nur darum, ob die Sondervorschrift des § 1301 Satz 2 RVO die Rückforderung erlaubt.

Nach § 1301 Satz 2 RVO darf der Rentenversicherungsträger eine Leistung nur zurückfordern,

-

wenn ihn für die Überzahlung kein Verschulden trifft und nur

-

soweit der Leistungsempfänger bei Empfang wußte oder wissen mußte, daß ihm die Leistung nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustand, und

-

soweit die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers vertretbar ist.

Das Berufungsgericht hat angenommen, die Beklagte habe für die Überzahlung ein Verschulden getroffen, weil sie trotz Kenntnis des Antrages auf Verletztenrente aus der Unfallversicherung die Versichertenrente aus der Rentenversicherung ausgezahlt habe. Gegen diese Rechtsauffassung wendet sich die Revision zu Recht.

Die Beklagte trifft an der Überzahlung kein Verschulden. Zwar wußte sie bei Erteilung ihrer Rentenbescheide und der daraufhin erfolgten Auszahlung der Rente an den Kläger, daß auch bei einem Träger der Unfallversicherung ein Leistungsfeststellungsverfahren schwebte, das zu einer Gewährung von Verletztenrente und damit zu einem rückwirkenden Ruhen ihrer eigenen Rente führen konnte (§ 1278 RVO). Ob sie unter diesen Umständen zur - vollen - Auszahlung ihrer Rente verpflichtet war oder damit bis zum Abschluß des Feststellungsverfahrens der Unfallversicherung warten durfte, läßt der Senat unentschieden. Auch wenn für sie keine Verpflichtung bestand, vor Klärung der Ruhensfrage die Rente voll auszuzahlen, so war sie daran andererseits rechtlich nicht gehindert, sondern hielt sich dabei im Rahmen ihres pflichtmäßigen Ermessens. Ähnlich wie in den Fällen der Zahlung von Vorschüssen (§ 42 des Ersten Buches des SGB; für die frühere Zeit vgl § 1299 RVO) oder von vorläufigen Leistungen (§ 43 des Ersten Buches des SGB) kann einem Versicherungsträger kein Vorwurf gemacht werden, wenn er Sozialleistungen, die dem Lebensunterhalt der Berechtigten dienen, diesen auch auszahlt und sie nicht auf Ansprüche verweist, die bei anderen Stellen geltend gemacht, aber noch nicht festgestellt worden sind. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Versicherungsträger in geeigneter Weise, insbesondere durch einen Vorbehalt in seinem Bescheid oder durch Mitteilung an die anderen als leistungspflichtig in Frage kommenden Stellen, dafür sorgt, daß etwaige Rückforderungsansprüche, die im Falle eines nachträglichen Ruhens der Rente entstehen, auch verwirklicht werden können und die Rentenempfänger durch die Rückforderung nicht überrascht werden. Diese Voraussetzungen hat die Beklagte im vorliegenden Fall erfüllt, indem sie ihre Rentenbescheide mit entsprechenden Vorbehalten versehen hat.

Ist sonach davon auszugehen, daß die Beklagte an der Überzahlung kein Verschulden trifft, so ist nunmehr zu prüfen, ob die weiteren Voraussetzungen des § 1301 Satz 2 RVO (Wissen oder Wissenmüssen des Leistungsempfängers, wirtschaftliche Vertretbarkeit der Rückforderung) vorliegen und ob die Beklagte bei der Ausübung ihres Ermessens gesetzmäßig gehandelt hat. Diese Prüfung hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht - unterlassen. Es wird sie nun nachholen müssen.

Die Sache war zurückzuverweisen. Das Berufungsgericht wird auch über die Kosten befinden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651863

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