Entscheidungsstichwort (Thema)

Kassenzuständigkeit für Umschüler

 

Leitsatz (amtlich)

Der Beitritt zu einer Ersatzkasse auf Grund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung, für die zugleich als Maßnahme der beruflichen Umschulung Unterhaltsgeld gewährt wird, ändert nicht die durch den Bezug von Unterhaltsgeld begründete einheitliche Kassenzuständigkeit (Weiterentwicklung von BSG 1976-12-15 3 RK 52/75).

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Gibt der Arbeitnehmer in seinem Antrag auf Umschulung keine Erklärung darüber ab, daß er nicht mehr Mitglied der bisherigen Kasse sein will, dann hat die Beitrittserklärung zur Ersatzkasse nicht dieselbe Bedeutung, wie die Ablehnung der Mitgliedschaft nach AFG § 159 Abs 1. Sie bewirkt auch keine Doppelmitgliedschaft; dies wird durch AFG § 159 Abs 4 verhindert.

2. Während der Mitgliedschaft nach AFG § 159 ist der Beitritt zu einer Ersatzkasse ausgeschlossen.

3. Wird das Unterhaltsgeld für einen Umschüler erst rückwirkend bewilligt, obwohl die Umschulung bereits begonnen hat, tritt die Umschulungsversicherung rückwirkend an die Stelle des Beschäftigungsverhältnisses (AFG § 159, RVO § 306 Abs 3).

 

Normenkette

RVO § 165 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1970-12-21, § 306 Abs. 1 Fassung: 1956-06-12, § 517 Abs. 1 Fassung: 1924-12-15, § 518 Fassung: 1930-07-26; AFG § 155 Abs. 1 Fassung: 1969-06-25, § 159 Abs. 4 Fassung: 1969-06-25, Abs. 1 Fassung: 1969-06-25; RVO § 306 Abs. 3 Fassung: 1974-08-07

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 4. Juni 1975 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, welche Kasse die Krankenversicherung des Beigeladenen durchzuführen hat.

Der Beigeladene Herbert K war auf Grund versicherungspflichtiger Beschäftigung Mitglied der klagenden Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK). Er stellte beim Arbeitsamt (ArbA) einen Antrag auf Förderung einer geplanten Umschulung zum Industriekaufmann. Im Antragsformular beantwortete er die Frage, welcher Krankenkasse er zuletzt als Mitglied angehört habe, zutreffend damit, daß er die Klägerin angab. Auf den Hinweis zu dieser Frage: "Falls Sie nicht Mitglied dieser Krankenkasse bleiben wollen, geben Sie bitte eine besondere Erklärung ab" gab der Beigeladene keine Erklärung ab.

Am 1. August 1971 begann er mit der geplanten Umschulung, für die ihm der Beschäftigungsbetrieb ein Arbeitsentgelt zahlte. Am 4. August 1971 meldete er sich bei der beklagten Ersatzkasse mit Rückwirkung zum Umschulungsbeginn an; diese nahm ihn als Mitglied auf und erteilte ihm eine Mitgliedschaftsbescheinigung (§ 518 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), die er seinem Umschulungsbetrieb vorlegte. Dieser führte daraufhin die Beiträge zur Krankenversicherung an die Beklagte ab.

Mit Bescheid vom 22. September 1971 bewilligte das ArbA Bayreuth dem Beigeladenen für die Umschulung Unterhaltsgeld nach § 44 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG). Die dazu vorgeschriebenen Krankenversicherungsbeiträge führte die Bundesanstalt für Arbeit an die Klägerin ab.

Die klagende AOK trat sodann an die beklagte Ersatzkasse heran und forderte sie auf, auch die Beschäftigungsversicherung von ihr durchführen zu lassen und die erhaltenen Beiträge an sie abzuführen. Die Beklagte lehnte das Ansinnen ab, weil sie für die Durchführung der Krankenversicherung des Beigeladenen zuständig sei.

Mit ihrer vor dem Sozialgericht (SG) erhobenen Feststellungsklage hatte die Klägerin Erfolg. Das SG Bayreuth stellte fest (Urteil vom 22. Februar 1974), daß die Klägerin für die Pflichtversicherung des Beigeladenen zuständig sei. Mit ihrer dagegen eingelegten Berufung blieb die Beklagte ohne Erfolg. Das Bayerische Landessozialgericht - LSG - (Urteil vom 4. Juni 1975) ging davon aus, daß der Beigeladene am 1. August 1971 bei Beginn der Umschulungsmaßnahme Mitglied der Klägerin gewesen sei, denn ihm sei von diesem Zeitpunkt an Unterhaltsgeld gewährt worden. Auf das Datum des Bewilligungsbescheids komme es nicht an. Durch die spätere Übergabe der Mitgliedschaftsbescheinigung der Beklagten habe die einmal begründete Zuständigkeit der Klägerin nicht beseitigt werden können.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom erkennenden Senat zugelassene Revision der Beklagten. Sie hält § 159 AFG und § 517 RVO für verletzt und führt aus, daß der Beigeladene ihr ordnungsgemäß beigetreten sei und dadurch Mitgliedschaftsrechte erworben habe, weil Hinderungsgründe im Zeitpunkt des Beitritts nicht entgegengestanden hätten. Die spätere Bewilligung von Unterhaltsgeld könne die rechtmäßig begründete Versicherung nicht zu einer Fehlversicherung machen. Bei dieser Rechtslage bedürfe es noch nicht einmal der Prüfung, ob, wie das LSG für das Land Nordrhein-Westfalen entschieden habe, nicht der Beitritt zur Ersatzkasse sogar neben der Versicherungszugehörigkeit nach § 159 Abs. 4 AFG zulässig sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Bayerischen LSG vom 4. Juni 1975 und das Urteil des SG Bayreuth vom 22. Februar 1974 -- S 2 Kr 18/73 - aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die Vorentscheidungen für zutreffend.

Der Beigeladene stellt keine Anträge.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Die klagende AOK ist für die Durchführung der Umschulungs- und der Beschäftigungsversicherung zuständig.

Der Beigeladene erhielt für die am 1. August 1971 begonnene Umschulungsmaßnahme vom ArbA Unterhaltsgeld nach § 44 AFG. Als Bezieher von Unterhaltsgeld war er gemäß § 155 Abs 1 AFG für den Fall der Krankheit pflichtversichert. Da die Umschulung in der Form eines Beschäftigungsverhältnisses gegen Entgelt durchgeführt wurde - er sollte zum Industriekaufmann ausgebildet werden -, unterlag der Beigeladene gleichzeitig der Krankenversicherungspflicht nach § 165 Abs 1 Nr 2 RVO. Die beiden Pflichtversicherungsverhältnisse stehen jedoch nicht unabhängig nebeneinander, vielmehr muß dem in § 312 Abs 1 RVO zum Ausdruck kommenden allgemeinen krankenversicherungsrechtlichen Grundsatz Rechnung getragen werden, daß eine mehrfache Pflichtmitgliedschaft bei gesetzlichen Krankenkassen nicht zulässig ist. In diesem Zusammenhang ist von der Regelung des § 155 Abs 2 Satz 2 AFG auszugehen, weil durch die Leistung des ArbAs, soweit daraus Rechte und Pflichten zur Krankenversicherung erwachsen, an die Stelle der versicherungspflichtigen Beschäftigung der Bezug der Leistung nach dem AFG - hier das Unterhaltsgeld - tritt. Diese Regelung wirkt sich, wie der Senat bereits in dem - zur Veröffentlichung vorgesehenen - Urteil vom 15. Dezember 1976 - 3 RK 52/75 - entschieden hat, im Hinblick auf die Mitgliedschaft zur Krankenversicherung aus. Entsteht auf diese Art die Möglichkeit, daß mit der mehrfachen Versicherungspflicht auch die Mitgliedschaft zu mehreren Kassen verbunden sein könnte, so bestimmt für diesen speziellen Fall § 159 Abs 4 AFG ausdrücklich, daß die Krankenversicherung für die Beschäftigung von dem Krankenversicherungsträger durchzuführen ist, der nach den besonderen Regeln der Absätze 1 bis 3 dieser Vorschrift für zuständig erklärt wird. Das bedeutet, daß die gesamte Krankenversicherung zur Mitgliedschaft bei einer Kasse führt, und zwar bei derjenigen, die die Umschulungsversicherung durchzuführen hat. Die Beschäftigungsversicherung verliert demnach ihre mitgliedschaftsbegründende Bedeutung.

Für die Frage, welche Kasse die Umschulungsversicherung durchzuführen hat, stellt das Gesetz in § 159 Abs 1 bis 3 AFG entscheidend auf den örtlichen Wirkungsbereich der Kasse ab, denn für die Durchführung der Mitgliedschaft kann nur eine Krankenkasse zuständig werden, wenn ihr Bereich den Wohn- oder Aufenthaltsort des Versicherten umfaßt, der auch die Zuständigkeit des ArbA begründet hat. Zu welcher Kassenart die Mitgliedschaftskasse gehört (vgl § 225 RVO), ist hingegen von sekundärer Bedeutung. Insoweit begründet § 159 Abs 1 AFG die Zuständigkeit der Kasse, der der Versicherte schon angehört hatte oder noch angehört - modifiziert allerdings durch ein Vetorecht des Versicherten -, und § 159 Abs 2 AFG bestimmt lediglich eine Auffangzuständigkeit der Ortskrankenkasse. Wenn § 159 Abs 1 AFG zur näheren Bestimmung auf die Kasse verweist, der der Versicherte "... im Zeitpunkt ... des Beginns der Umschulungsmaßnahme ..." angehört oder der er "... zuletzt vor diesem Zeitpunkt ..." angehört hat, so trägt die Vorschrift dem Gedanken der Versicherungskontinuität Rechnung. Der Versicherte soll die Möglichkeit erhalten, seine mitgliedschaftlichen Beziehungen zu einer Kasse, sofern sie noch bestehen oder bis zuletzt bestanden haben, auch während der Umschulung weiterzuführen. Damit wird also an eine Mitgliedschaft angeknüpft, die vor der Umschulungsmaßnahme begründet gewesen sein muß, auch wenn der Wortlaut des Gesetzes das möglicherweise nicht so eindeutig zum Ausdruck bringt. Keinesfalls kann aber eine Krankenversicherung auf Grund der (Umschulungs-) Beschäftigung - wenn sie erst zum gleichen Zeitpunkt wie die vom ArbA geförderte Maßnahme beginnt - dazu dienen, eine Zuständigkeit nach § 159 Abs 1 AFG auszulösen. Das stünde zunächst einmal schon im Widerspruch zu der Grundsatzentscheidung des § 159 Abs 4 AFG, daß die Beschäftigungsversicherung gegenüber der Umschulungsversicherung nicht mitgliedschaftsbegründend sein kann, und außerdem ließe sich das auch nicht aus dem Gedanken der Versicherungskontinuität herleiten.

An diesem Ergebnis ändert sich nichts dadurch, daß das ArbA den Bescheid über die Bewilligung des Unterhaltsgeldes erst am 22. September 1971 erlassen hat, obwohl die Umschulung bereits am 1. August begonnen hatte. Mit der Bewilligung tritt die Umschulungsversicherung rückwirkend an die Stelle der Beschäftigungsversicherung. Diese Folge ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus § 159 AFG, sie trägt aber den § 306 RVO zugrunde liegenden Prinzipien der mitgliedschaftlichen Zuordnung Rechnung, wie sie auch in der - in der strittigen Zeit noch nicht geltenden, aber durch § 21 Nr 19 des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes vom 7. August 1974 (BGBl I 1881) späterhin eingeführten - Vorschrift des § 306 Abs 3 RVO Ausdruck gefunden haben. Danach beginnt die Mitgliedschaft der Empfänger berufsfördernder Maßnahmen zur Rehabilitation - übereinstimmend mit dem Beginn der Versicherungspflicht (§ 165 Abs 1 Nr 4 RVO) - mit dem Tage, von dem an Übergangsgeld bezogen wird. Das ist der Tag, für den erstmalig die Zahlung geleistet wird (siehe die Begründung zur Einfügung des § 306 Abs 3 RVO im Entwurf eines Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation, BT-Drucks 7/1237, S. 65: Wird das Übergangsgeld für einen zurückliegenden Zeitraum gezahlt, dann beginnt die Mitgliedschaft rückwirkend). Es besteht kein Grund, die Empfänger von Unterhaltsgeld anderen Grundsätzen zu unterwerfen, da diese Leistung für vergleichbare berufliche Maßnahmen gewährt wird und die Versicherungspflicht gleicherweise mit dem Beginn der Zahlung von Unterhaltsgeld eintritt (vgl. § 155 Abs 1 iVm § 159 Abs 1 AFG).

Die Mitgliedschaft des Beigeladenen zur Klägerin wird auch durch seine Beitrittserklärung zur Beklagten, die bei der Ersatzkasse am 4. August 1971 eingegangen ist, nicht beseitigt. Wie bereits dargelegt, tritt die Beschäftigungsversicherung hinter die Umschulungsversicherung zurück. Dieser Grundsatz gilt nach § 159 Abs 4 AFG für jede Art von Beschäftigungsversicherung, da das Gesetz keine Ausnahmen vorsieht; er gilt mithin auch für eine Versicherung, die auf freier Willensentschließung des Versicherten beruht. Eine solche Willensentschließung (Beitrittserklärung) ist auch nicht gleichzusetzen mit der Erklärung des Versicherten, die § 159 Abs 1 (am Ende) AFG vorsieht. Jene Vorschrift gesteht dem Versicherten die Befugnis zu, die Mitgliedschaft bei der nach § 159 Abs 1 AFG an sich zuständigen Krankenkasse abzulehnen. Diese Erklärung hat einen ausschließlich negativen Charakter und beschränkt sich darauf, die Mitgliedschaft bei einer ganz bestimmten Kasse auszuschlagen. Die Beitrittserklärung zu einer Ersatzkasse verfolgt hingegen ein ganz anderes Ziel, durch sie soll gerade eine Mitgliedschaft begründet werden. Eine solche Begründung der Mitgliedschaft allein führt aber noch nicht dazu, andere Mitgliedschaften auszuschließen (vgl BSG in SozR Nr 2 zu § 507 RVO); dieser Effekt wird vielmehr erst durch die Befreiung von der Mitgliedschaft nach §§ 517, 518 RVO erreicht.

Der Senat hat schließlich noch die Frage geprüft, ob für den Beigeladenen eine doppelte Mitgliedschaft bestanden haben könnte, und zwar hinsichtlich der Umschulungsversicherung bei der Klägerin und hinsichtlich der Beschäftigungsversicherung bei der Beklagten. Jede einzelne Mitgliedschaft wäre dann jeweils für sich aus einem bestimmten Rechtsverhältnis - einmal das Umschulungsverhältnis, zum anderen das Beschäftigungsverhältnis - herzuleiten und bestünde unabhängig von der anderen. Eine solche Versicherungsgestaltung ist jedoch abzulehnen; denn wenn die zwei Rechtsverhältnisse zu unterschiedlichen Mitgliedschaften führten, so stünde das einmal im Widerspruch zu der Grundsatzregelung der §§ 309, 312 RVO und - vor allem - auch im Widerspruch zu der speziellen Regelung in § 159 Abs 4 AFG, die gerade dazu dienen soll, eine einheitliche Mitgliedschaft herbeizuführen. Das Urteil des Senats vom 23. Juni 1972 (BSGE 34, 203, 204) steht der hier vertretenen Auffassung nicht entgegen, denn in jenem Fall war die doppelte Mitgliedschaft zur gesetzlichen Pflichtkasse und zur Ersatzkasse deshalb bejaht worden, weil zwei Beschäftigungsverhältnisse nebeneinander bestanden hatten.

Da die Vorinstanzen zutreffend die Zuständigkeit der Klägerin zur Durchführung der Pflichtversicherung des Beigeladenen bejaht haben, war die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649890

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