Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtstattgeben eines Beweisantrages. Fragerecht der Beteiligten an Sachverständigen. notwendig sachdienliche Fragen. Erläuterung des Sachverständigengutachtens. wesentlicher Verfahrensmangel. Gutachten als Grundlage richterlicher Überzeugungsbildung. Fragerecht der Beteiligten an den Sachverständigen. rechtliches Gehör

 

Orientierungssatz

In Ausübung des Fragerechts der Beteiligten nach § 116 S 2 SGG, das aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör folgt (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG), muß das Gericht dem ordnungsgemäß und nicht rechtsmißbräuchlich gestellten Antrag eines Beteiligten entsprechen, wenn er sachdienliche Fragen an den Sachverständigen richten will. In der unberechtigten oder der Begründung mißachteten Ablehnung eines solchen Antrages liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel (vgl BSG 1961-05-05 1 RA 67/60 = SozR Nr 160 zu § 162 SGG).

 

Normenkette

SGG § 62 Fassung: 1953-09-03; GG Art 103 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; SGG § 106 Abs 4 Fassung: 1953-09-03, § 118 Abs 1 S 1 Fassung: 1974-12-20, § 116 S 2 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 411 Abs 3; SGG § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 Fassung: 1974-07-30, § 103 Fassung: 1974-07-30

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 20.01.1982; Aktenzeichen L 3 U 548/80)

SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 11.03.1980; Aktenzeichen S 3 U 59/79)

 

Tatbestand

In Streit steht die Anerkennung einer Schwerhörigkeit als Berufskrankheit (BK) iS der Berufskrankheiten-Verordnung.

Der Kläger macht für die streitige Gesundheitsstörung die Praktikantentätigkeit bei einem Bauunternehmen im Jahre 1941 verantwortlich. Dort sei er seinen Angaben zufolge in der Putzerei sechs Wochen lang außergewöhnlichen Lärmeinwirkungen ausgesetzt gewesen. Diese Lärmbelästigung sei, so meinte Prof. Dr. K, D der -Universitätsklinik W, in seiner ärztlichen Anzeige über eine BK vom 17. November 1977, ursächlich für die bestehende Schwerhörigkeit. Demgegenüber gingen die von der beklagten Berufsgenossenschaft (BG) hinzugezogenen Gutachter (Prof. Dr. von I und Dr. S, Klinikum der J-W-G-Universität F am Main) von einer durchblutungsbedingten Innenohrschwerhörigkeit mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH aus. Sie schlossen nach dem Verlauf der Audiogrammkurve einen gewissen Einfluß durch Lärm nicht völlig aus; ihm komme allerdings -meinten sie nur untergeordnete Bedeutung zu, weshalb insoweit die MdE mit 0 vH zu bewerten sei. Mit dieser Begründung lehnte die BG den Antrag des Klägers ab (Bescheid vom 20. Dezember 1978).

Der vom Sozialgericht (SG) nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gehörte Sachverständige Prof. Dr. K hielt eine Schädigung des Gehörs durch Lärmeinwirkung in der abschließenden Beurteilung für möglich. Er schätzt die bestehende mittel- bis hochgradige Innenohrschwerhörigkeit auf 30 vH und den lärmbedingten Anteil auf 10 vH. Das SG hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung ua mit der Begründung zurückgewiesen, eine auf Lärmeinwirkung beruhende Schwerhörigkeit sei nach Prof. Dr. K allenfalls möglich; einer zusätzlichen Anhörung dieses Sachverständigen habe es entgegen dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag nicht bedurft; das Sachverständigengutachten sei eindeutig und unmißverständlich abgefaßt.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision macht der Kläger eine Verletzung des § 103 SGG geltend. Entsprechend dem Beweisantrag hätte sich das Berufungsgericht - so meint der Kläger - gedrängt fühlen müssen, Prof. Dr. K zur Erläuterung seines Gutachtens zu veranlassen. Der Sachverständige habe die ihm vom SG gestellte Beweisfrage, ob der Gehörschaden mit Wahrscheinlichkeit Folge der Lärmeinwirkung sei, nicht unmittelbar beantwortet. Er habe insoweit einen Zusammenhang für "möglich" gehalten, jedoch den lärmbedingten Anteil des Gehörschadens mit 10 vH bewertet. Daraus sei zu schließen, daß der Sachverständige einen wahrscheinlichen Ursachenzusammenhang habe bejahen wollen. Die gutachtlichen Ausführungen in bezug auf den festgestellten cochleären Schaden bestätigten dies zusätzlich. Zudem habe Prof. Dr. K in seiner BK-Anzeige einen ursächlichen Zusammenhang mit der Berufstätigkeit bejaht. Das Berufungsurteil beruhe auch auf diesem Verfahrensmangel. Im Falle der Bewertung der Lärmschwerhörigkeit mit 10 vH stünde ihm eine Stützrente zu. Das Versorgungsamt habe nämlich mit Bescheid vom 12. Dezember 1951 Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) mit einer MdE um 20 vH anerkannt.

Der Kläger beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger unter Berücksichtigung der Hochtongeräusche ab Inkrafttreten der 7. Berufskrankheitenverordnung eine 15 %ige Stützrente zu gewähren; hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat insoweit Erfolg, als das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen ist. Das Berufungsgericht ist dem Beweisantrag des Klägers, den Sachverständigen Prof. Dr. K in Ergänzung seines schriftlichen Gutachtens zu befragen, ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt (§ 160 Abs 2 Nr 3 Satz 2 SGG).

Richtig ist, daß allein das Nichtstattgeben des Beweisantrages nicht schlechthin einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt. Vielmehr ist dies erst bei einer ohne hinreichende Begründung erfolgten Ablehnung eines solchen Beweisantrages der Fall. Nach § 106 Abs 4, § 118 SGG finden die Vorschriften der Zivilprozeßordnung (ZPO) über den Zeugen- und Sachverständigenbeweis (§§ 373 f ZPO) entsprechende Anwendung. Dies gilt allerdings nur insoweit, als das SGG nichts anderes bestimmt. Eine solche Sondervorschrift ist in § 116 SGG enthalten. Danach können die Beteiligten sachdienliche Fragen an Zeugen und Sachverständigen richten lassen. In Ausübung dieses Fragerechtes der Beteiligten, das aus dem Anspruch auf rechtliches Gehört folgt (Art 103 Abs 1 Grundgesetz -GG-, § 62 SGG), muß das Gericht dem ordnungsgemäß und nicht rechtsmißbräuchlich gestellten Antrag eines Beteiligten entsprechen, wenn er sachdienliche Fragen an den Sachverständigen richten will. In der unberechtigten oder der Begründung mißachteten Ablehnung eines solchen Antrages liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel (BSG SozR Nr 160 zu § 162 SGG). So ist es hier. Der Kläger hat die erneute Anhörung des Sachverständigen beantragt. Aus dem Sachverständigengutachten in Verbindung mit dem schriftsätzlichen Vorbringen des Klägers war für das LSG erkennbar, welche der Aufklärung des Sachverhalts objektiv dienlichen Fragen an den Sachverständigen Prof. Dr. K gestellt werden sollten. Denn von dem rechtlichen Standpunkt des Berufungsgerichts war es erheblich, daß die lärmbedingte Schwerhörigkeit nach den Sachverständigen allenfalls möglich und deshalb die anspruchsbegründete Tatbestandsvoraussetzung eines wahrscheinlichen Ursachenzusammenhangs nicht gegeben sei. Das Gegenteil sollte die nochmalige gutachtliche Anhörung des Sachverständigen ergeben.

Der Sachverständige Prof. Dr. K hat die Beweisfrage 2 eines wahrscheinlichen ursächlichen Zusammenhangs nicht unmittelbar beantwortet, wie der Kläger zutreffend anführt. Vielmehr hat er eine berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit lediglich für möglich gehalten. Ob der Sachverständige mit diesem Wortgebrauch eine bewußte Unterscheidung der Beweisanforderung zwischen "möglich" und "wahrscheinlich" hat vornehmen wollen, erscheint zumindest zweifelhaft. Der Gutachtensauftrag enthält keine Orientierungshilfe für den Sachverständigen, nach welchem Wertmaßstab ein möglicher bzw wahrscheinlicher Ursachenzusammenhang zu beurteilen ist. Demgemäß konnte sich der Sachverständige bei seiner abschließenden Beurteilung nicht danach richten. Im übrigen wäre es dem Berufungsgericht auch nicht erlaubt gewesen, allein auf die zusammenfassende Beurteilung abzuheben. Maßgebend für die richterliche Überzeugungsbildung sind die gutachtlichen Ausführungen, die eine Abwägung der für und gegen den ursächlichen Zusammenhang sprechenden Umstände enthalten. Sie bilden letztlich die Grundlage für die Entscheidungsfindung eines wahrscheinlichen oder nur möglichen Ursachenzusammenhangs. Solche gutachtlichen Beurteilungskriterien fehlen. Der Sachverständige hat zwar eine lärmbedingte Hörbeeinträchtigung bejaht und die MdE entsprechend anteilig bewertet. Zur Stützung seiner Ansicht hat er auf eine cochleäre Schädigung verwiesen. Ob damit aber eindeutige Anhaltspunkte für eine durch Berufsarbeit bedingte Lärmschwerhörigkeit gegeben sind, der ursächliche Zusammenhang also wahrscheinlich ist, oder ggf welche Umstände entgegenstehen, läßt sich dem Sachverständigengutachten nicht entnehmen. Das Gutachten ist entgegen der Annahme des LSG weder deutlich noch unmißverständlich. Infolgedessen ist es unerläßlich, den Sachverständigen entsprechend dem Beweisantrag des Klägers um Erläuterung und Ergänzung seines Gutachtens zu ersuchen (§ 118 Abs 1 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO).

Ein für den Kläger günstiges Ergebnis läßt sich nicht ausschließen. Immerhin halten auch die von der Beklagten gehörten Gutachter wie auch der Landesgewerbearzt im Hessischen Sozialministerium einen gewissen Einfluß durch Lärm für möglich, wenn sie ihn auch für unbedeutend ansehen. Zudem kann der MdE-Bewertung Bedeutung zukommen. Nach dem Vorbringen des Klägers stünde ihm, vorausgesetzt die berufsbedingte MdE wäre mit zumindest 10 vH zu bewerten, eine Stützrente zu (§ 581 Abs 1 und 3 Reichsversicherungsordnung). Nach dem Bescheid des Versorgungsamtes bedingen die nach dem BVG anerkannten Schädigungsfolgen eine MdE um 20 vH.

-8-

Das Berufungsgericht wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654740

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