Entscheidungsstichwort (Thema)

Formalversicherung. rückwirkende Beseitigung einer Formalversicherung

 

Orientierungssatz

1. Ein Versicherungsschutz bedingendes formales Versicherungsverhältnis wird angenommen, wenn ein zunächst mit Recht in das Unternehmensverzeichnis eingetragener Betrieb trotz einer sein Ausscheiden rechtfertigenden Betriebsveränderung weiter im Verzeichnis geführt wird und die Beiträge weiter eingezogen werden (vgl BSG vom 27.7.1972 2 RU 193/68 = BSGE 34, 230, 234). Diese Grundsätze sind auch in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung anzuwenden (vgl BSG vom 26.6.1973 8/7 RU 34/71 = BSGE 36, 71, 73).

2. Die Beendigung einer vorhandenen Formalversicherung rückwirkend für einen Zeitpunkt, welcher vor einem Unfall gelegen ist, ist nach der ständigen Rechtsprechung des RVA und des BSG grundsätzlich unstatthaft (vgl BSG vom 26.6.1973 8/7 RU 34/71 aaO und vom 19.10.1982 2 BU 117/82 = BAGUV RdSchr 56/82).

 

Normenkette

RVO § 797 Fassung: 1963-04-30, § 668 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

SG Hannover (Entscheidung vom 10.06.1985; Aktenzeichen S 19 U 200/84)

 

Tatbestand

Der beklagte Gemeindeunfallversicherungsverband (GUV) wendet sich mit der vom Sozialgericht (SG, Urteil vom 10. Juni 1985) zugelassenen Sprungrevision gegen die Feststellung dieses Gerichts, daß er der für den Unfall des Beigeladenen zu 2) (S.) zuständige Versicherungsträger ist.

S. verunglückte am 18. Oktober 1982 beim Äpfelpflücken auf dem Grundstück der früheren landwirtschaftlichen Unternehmerin H. H.; er zog sich dabei erhebliche Verletzungen zu. Aus Anlaß der Anzeige dieses Unfalles durch die beigeladene Krankenkasse erfuhr die Klägerin, daß H. die früher landwirtschaftlich genutzte Fläche bereits 1979 verpachtet hatte. Beiträge zur Klägerin wurden jedoch weiterhin entrichtet. Durch Bescheid vom 3. Juni 1983 teilte die Klägerin der H. mit, daß sie mit Wirkung vom 31. Dezember 1979 im Unternehmerverzeichnis gelöscht worden sei; seitdem gezahlte Beiträge wurden erstattet. Dieser Bescheid blieb unangefochten. Die Klägerin leistete im Wege der vorläufigen Fürsorge teilweise Heilbehandlung.

In dem angefochtenen Urteil heißt es ua, die verspätete Löschung der H. im Unternehmerverzeichnis der Klägerin sowie die weitere Beitragsentrichtung ab 1980 beruhe allein auf der pflichtwidrig unterbliebenen Mitteilung über die Verpachtung der landwirtschaftlich genutzten Flächen durch H.. Es bestehe weder für sie noch für S. Vertrauensschutz im Hinblick auf eine Unfallversicherung bei der Klägerin. S. sei vielmehr wie ein im - nicht der Landwirtschaft dienenden - Haushalt der H. Beschäftigter tätig geworden, so daß der GUV der zuständige Versicherungsträger sei.

Der Beklagte meint, das SG habe die Grundsätze, welche im Falle des Vorliegens eines formalrechtlichen Versicherungsverhältnisses anzuwenden seien, verkannt. Eine solche Formalversicherung bestehe unabhängig von der Änderung der tatsächlichen Verhältnisse weiter, solange der Versicherungsträger nicht der "ferneren Versicherung" ausdrücklich widerspreche. Eine rückwirkende Beendigung der Versicherung sei nach den bisher anerkannten Rechtsgrundsätzen nicht möglich. Die rückwirkend vorgenommene Löschung der H. im Unternehmerverzeichnis könne daher die Frage der Haftung für den Unfall des S. nicht berühren. Aufgrund der Beitragszahlung auch für den Zeitraum dieses Unfalles sei ein Vertrauenstatbestand entstanden, welcher beachtet werden müsse. H. habe den Versicherungsschutz weder erschlichen noch arglistig erwirkt. Auch katasterrechtlich gelte, daß derjenige Versicherungsträger für einen Unfall einzustehen habe, welcher die Beiträge entgegen nehme.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 10. Juni 1985 - S 19 U 200/84 - aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 10. Juni 1985 zurückzuweisen.

Sie meint, die Versicherung der landwirtschaftlichen Unternehmer in der gesetzlichen Unfallversicherung trete kraft Gesetzes ein und bestehe folglich kraft Gesetzes. Da angesichts der besonderen rechtlichen Bedingungen der landwirtschaftlichen Unfallversicherung veränderte tatsächliche Verhältnisse nur auf pflichtgemäße Anzeige der jeweiligen Unternehmer zur Kenntnis der Berufsgenossenschaft (BG) gelangten, seien die von dem Beklagten dargelegten Grundsätze über die Formalversicherung nicht anwendbar. Es sei vielmehr davon auszugehen, daß eine grobe Vernachlässigung der Meldepflichten durch den landwirtschaftlichen Unternehmer zum Verlust des Versicherungsschutzes in der gesetzlichen Unfallversicherung führe. Im übrigen werde der Verletzte durch eine materiell zutreffende Regelung nicht benachteiligt.

Die Beigeladenen stellen keine Anträge.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist nicht begründet. Das SG hat im Ergebnis zutreffend angenommen, daß S. bei seinem Unfall am 18. Oktober 1982 bei dem Beklagten versichert war.

Mit dem SG sowie allen Verfahrensbeteiligten ist davon auszugehen, daß H. infolge der Verpachtung ihrer landwirtschaftlich genutzten Flächen im Jahre 1979 im Unfallzeitpunkt kein Unternehmen der Landwirtschaft mehr betrieb und folglich die Voraussetzungen für eine weitere Versicherung in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung (§ 776 Abs 1 Nr 1 Reichsversicherungsordnung - RVO -) weggefallen waren. Der zur Bewirtschaftung behaltene Hausgarten ist, worauf das SG richtig hinweist, kein landwirtschaftliches Unternehmen (§ 778 RVO; BSGE 36, 71). Diese tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse allein vermögen jedoch nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) allein noch nicht die Zuständigkeit des Beklagten für den Unfall des S. zu begründen. Vielmehr weist der Beklagte zutreffend darauf hin, daß auch ein sog. formalrechtliches Versicherungsverhältnis (s ua Kaskel, Die Entwicklung der formellen Versicherung in der sozialen Unfallversicherung, 1927) diesen Schutz begründen kann und daß ein solches zur Klägerin bestanden haben könnte. Der erkennende Senat hat ein derartiges Versicherungsschutz bedingendes formales Verhältnis ua angenommen, wenn ein zunächst mit Recht in das Unternehmensverzeichnis eingetragener Betrieb trotz einer sein Ausscheiden rechtfertigenden Betriebsveränderung weiter im Verzeichnis geführt wird und die Beiträge weiter eingezogen werden (BSGE 34, 230, 234). Der seinerzeit ebenfalls für Fragen der gesetzlichen Unfallversicherung zuständige 8. Senat des BSG hat entschieden, daß diese Grundsätze auch in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung anzuwenden sind (BSGE 36, 71, 73; so schon RVA AN 1892, 296; 1900, 530; Kaskel aaO S 14). Ob diese auf die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts zurückgehende Rechtsprechung (s ua AN 1900, 530; 1886, 55; 1908, 531; 1915, 322; Kaskel aaO) infolge des Inkrafttretens der Vorschriften über das Zustandekommen und die Bestandskraft von Verwaltungsakten im Sozialgesetzbuch X (SGB X) eine Differenzierung und Verfeinerung zu erfahren hat, kann hier dahinstehen (s Graßl SdL 1983, 276). Denn selbst wenn im vorliegenden Falle ein formales Versicherungsverhältnis bei der Klägerin vorgelegen haben sollte, so ist dieses durch den Bescheid der Klägerin vom 3. Juni 1983 außer Kraft gesetzt worden.

Die Klägerin hat durch den genannten Bescheid die Löschung des früheren landwirtschaftlichen Unternehmens im Unternehmerverzeichnis mit dem 31. Dezember 1979 mitgeteilt und die Rückerstattung der ab 1980 gezahlten Beiträge festgelegt. Allerdings ist dieser Bescheid nach dem Unfall des S. ergangen, so daß die Beendigung einer etwa vorhandenen Formalversicherung rückwirkend für einen Zeitpunkt erfolgte, welcher vor dem Unfall gelegen ist. Eine derartige Regelung ist nach der ständigen Rechtsprechung des RVA und des BSG grundsätzlich unstatthaft (s au RVA AN 1889, 384; BSGE 36, 71, 73; BSG Beschluß vom 19. Oktober 1982 - 2 BU 117/82). Danach durfte die Klägerin die eingetretene Formalversicherung nicht rückwirkend aufheben; der Bescheid vom 3. Juni 1983 war insoweit nach dieser Rechtsprechung rechtswidrig.

Aber auch ein rechtswidriger Verwaltungsakt wird wirksam, soweit er nicht angefochten ist. Er wird nach § 39 Abs 1 Satz 3 SGB X mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekanntgegeben wird. Er bleibt nach Abs 2 dieser Vorschrift wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Dies gilt auch für den Bescheid der Klägerin vom 3. Juni 1983, da er unangefochten blieb. Dies bedeutet ua, daß ein formales Versicherungsverhältnis zwischen der Klägerin und H. rückwirkend beseitigt wurde und demgemäß im Unfallzeitpunkt nicht mehr bestand.

Allerdings darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Vorschriften über die Wirksamkeit von Bescheiden im SGB X auch nichtige und daher unwirksame Verwaltungsakte kennen (§§ 39 Abs 3, 40). Sie brauchen von niemandem beachtet zu werden. Jedoch vermögen nur "besonders schwerwiegende Fehler", wenn diese bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig sind, die Nichtigkeit und damit Unbeachtlichkeit eines Verwaltungsaktes herbeizuführen (§ 40 Abs 1 SGB X). An einem derartigen Mangel leidet der Bescheid der Klägerin vom 3. Juni 1983 nicht. Zwar verstößt die darin rückwirkend verfügte Löschung des eingetragenen landwirtschaftlichen Unternehmens der H. gegen geltendes Recht; denn schon nach § 797 iVm § 668 Abs 1 RVO wird eine Löschung im Unternehmensverzeichnis mit dem Ablauf des Geschäftsjahres wirksam, in dem sie der Unternehmerin mitgeteilt worden ist. Ein solcher Verstoß gegen einfaches materielles (Urteile vom 13. November 1985 - 1/8 RR 5/83 -; 21. Juni 1983 - 4 RJ 49/82 -; 1. April 1981 - 9 RV 43/80 -) oder formelles (hierzu: BSG SozR 1200 § 34 Nr 4, BSG Urteile vom 9. Mai 1985 - 6 RKa 39/83 -; 12. November 1980 - 1 RA 45/79 -) Recht bedingt zwar die Rechtswidrigkeit, jedoch nicht die Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes, wenn keine besonderen Umstände - hier etwa Arglist oder Schädigungsabsicht - im Einzelfall hinzutreten. Im hier zu entscheidenden Falle verfügte die Klägerin dagegen durch ihren Bescheid vom 3. Juni 1983, was bei sachgerechter Mitwirkung der H. bereits im Jahre 1979 erfolgt wäre, nämlich die Löschung des nicht mehr bestehenden landwirtschaftlichen Unternehmens. Unter diesen tatsächlichen Verhältnissen ist ein besonders schwerwiegender Mangel des Löschungs- und Erstattungsbescheides der Klägerin nicht offenkundig, so daß von der Beachtlichkeit des Bescheides der Klägerin auszugehen ist. Demzufolge ist ein etwa vorhanden gewesenes formales Versicherungsverhältnis zwischen der Klägerin und H. mit rückwirkender Kraft beseitigt worden. Aus diesem Grunde ist die Klägerin für den Unfall des S. nicht zuständig. Das SG hat vielmehr im Ergebnis richtig angenommen, daß er nach § 539 Abs 2 RVO als im Haushalt der H. wie ein Beschäftigter tätig und bei dem Beklagten versichert war.

Der Senat weicht mit dieser Entscheidung schon deshalb nicht von dem Urteil des für Streitigkeiten aus der gesetzlichen Unfallversicherung nicht mehr zuständigen 8. Senats des BSG vom 26. Juni 1973 (BSGE 36, 71) ab, weil in dem diesem Urteil zugrundeliegenden Fall auch der Bescheid über die rückwirkende Aufhebung der Formalversicherung angefochten war.

Die Revision des Beklagten war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665662

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