Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtsmittel. Rekurs. Berufung. Zulässigkeit

 

Orientierungssatz

1. Ist ein beim Landesversicherungsamt für das Saarland anhängiger Rekurs nach § 1 Nr 9 SGGEG 5 auf das LSG übergegangen, so ist die Zulässigkeit des Rechtsmittels nach altem und nach neuem Recht zu prüfen (Anschluß BSG 1963-01-30 2 RU 109/61 = SozR Nr 3 zu § 1547 RVO).

2. Nur bei einer bewußten und gewollten Abweichung von der grundsätzlichen Entscheidung des RVA durch ein OVA ist der Rekurs trotz des Vorliegens von Ausschlußgründen zulässig (vgl BSG 1957-02-26 2 RU 100/54 = SozR Nr 40 zu § 215 SGG).

 

Normenkette

SGG §§ 215, 145

 

Verfahrensgang

LSG für das Saarland (Entscheidung vom 02.09.1959)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 2. September 1959 wird aufgehoben.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Oberversicherungsamts für das Saarland vom 17. August 1954 wird als unzulässig verworfen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger hat sich durch zwei Arbeitsunfälle die beiden Zeigefinger verletzt.

Von dem ersten Unfall, den der Kläger im Herbst 1940 erlitt, wurde der linke Zeigefinger betroffen. Die Beklagte, bei welcher der Kläger erst im Jahre 1951 einen Entschädigungsanspruch geltend machte, lehnte durch Bescheid vom 5. August 1952 den Anspruch ab mit der Begründung, der Unfall vom Jahre 1940 habe eine meßbare Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nicht hinterlassen. Der Kläger nahm seine hiergegen eingelegte Berufung in der mündlichen Verhandlung vor dem Oberversicherungsamt (OVA) am 12. November 1952 zurück.

Bei dem zweiten Unfall am 8. August 1950 verletzte sich der Kläger den rechten Zeigefinger. Die Beklagte gewährte ihm durch Bescheid vom 22. Januar 1951 eine vorläufige Rente von 20 v. H. wegen Beugebehinderung des im Endgelenk versteiften rechten Zeigefingers. Durch Bescheid vom 25. August 1952 wurde die Rente nicht mehr gewährt, da infolge Gewöhnung und Anpassung nur noch eine MdE von 10 v. H. vorliege. In dem gegen beide Bescheide anhängig gewordenen Berufungsverfahren verpflichtete sich die Beklagte durch Vergleich in der Verhandlung vor dem OVA am 12. November 1952, dem Kläger vom 1. Oktober 1952 an eine Dauerrente von 20 v. H. zu zahlen.

Bei einer Nachuntersuchung im September 1953 erhob Dr. U einen unveränderten Befund, meinte aber, es könne weitere Gewöhnung angenommen werden; die MdE betrage 10 v. H. Hierauf entzog die Beklagte die Dauerrente durch Bescheid vom 16. September 1953.

Auf die Berufung des Klägers hat das OVA für das Saarland am 17. August 1954 die Beklagte verurteilt, dem Kläger vom 1. November 1953 an eine Dauerrente von 10 v. H. zu gewähren: Nach § 608 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gebe nur eine wesentliche Änderung der maßgebenden Verhältnisse die Möglichkeit, die rechtskräftige Feststellung einer Entschädigung abzuändern. Vorliegend handle es sich bei dem von den Sachverständigen festgestellten Befund um einen Dauerzustand des rechten Zeigefingers, der sich durch den fast gleichen Befund des linken Zeigefingers in stärkerem Maße als sonst bemerkbar mache. In diesem objektiven Befund sei nach dem Gutachten des Dr. U gegenüber dem Untersuchungsergebnis des Vorjahres keine Änderung eingetreten. Es werde lediglich weitere Gewöhnung angenommen. Daß die weitere Gewöhnung ohne Änderung im objektiven Befund als eine die Entziehung der Rente rechtfertigende Änderung in den Verhältnissen anzusehen sei, habe im vorliegenden Falle die Spruchkammer unter Würdigung der ganzen Umstände nicht anerkennen können. Sie habe zwar nicht verkannt, daß sich der Kläger inzwischen wohl in weitestem Maße mit seinem Handschaden abgefunden habe. Doch sei er dadurch nach wie vor in seiner Erwerbsfähigkeit in nennenswertem, wenn auch nicht erheblichem Maße beeinträchtigt. Der Gerichtsarzt habe auch die Gesamterwerbseinbuße immerhin noch auf 10 v. H. geschätzt. Danach wäre es unbillig, dem Kläger die Rente ganz zu entziehen. Unbillig wäre es aber auch, der Beklagten, obwohl der Eintritt einer gewissen Besserung nicht von der Hand zu weisen sei, die Verpflichtung zur fortdauernden Gewährung der bisher gezahlten Rente von 20 v. H. aufzuerlegen, vor allem, weil der Kläger durch seine Verletzungen, schon gemessen an seinem Verdienst, nicht mehr als um 10 v. H. erwerbsgemindert sei. Da einerseits nur eine Herabsetzung der Rente für gerechtfertigt gehalten werde, andererseits nach den gesetzlichen Bestimmungen bei einer MdE von weniger als 20 v. H. eine Rente grundsätzlich nicht gewährt werde, sei es bei der besonderen Lage des Falles zulässig und angemessen erschienen, eine Teilrente von 10 v. H. festzusetzen, wobei der Schaden der linken Hand im Hinblick auf den an der anderen Hand ebenfalls um 10 v. H. zu bemessen und zur Stützung des zweiten Schadens heranzuziehen gewesen sei, so daß auch die Rente von 10 v. H. entsprechend der Vorschrift des § 559 a Abs. 3 Satz 1 RVO zur Auszahlung kommen könne. Das OVA hat seine Entscheidung als endgültig bezeichnet (§ 1700 Nr. 8 RVO i. V. m. § 5 Nr. 3 h der Verordnung vom 5. Dezember 1947).

Der von der Beklagten hiergegen eingelegte Rekurs ist nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) im Saarland als Berufung auf das Landessozialgericht (LSG) für das Saarland übergegangen. Das LSG hat durch Urteil vom 2. September 1959 das Urteil des OVA aufgehoben und die Klage abgewiesen: Die Berufung der Beklagten sei nach altem wie nach neuem Verfahrensrecht statthaft. § 1700 Nr. 8 RVO stehe der Statthaftigkeit nicht entgegen, da das OVA bewußt von der Grundsätzlichen Entscheidung (GE) des Reichsversicherungsamts (RVA) Nr. 5286 (AN 1939, 190) abgewichen sei, trotzdem aber die Sache nicht gemäß § 1693 RVO an das Landesversicherungsamt abgegeben habe. Die Abweichungen beträfen die Grundsätze Nr. 7 und 11 der GE 5286. Nach Nr. 7 werde eine Rente von weniger als 20 v. H. nur gewährt, wenn die Voraussetzungen des § 559 a Abs. 3 und 4 RVO für den zur Entscheidung stehenden Unfall in dem für den Rentenbeginn maßgebenden Zeitpunkt erfüllt seien. Dies sei beim Kläger nicht der Fall, denn bezüglich des Unfalls von 1940 sei durch den - infolge Zurücknahme der Berufung rechtskräftig gewordenen - Bescheid vom 5. August 1952 festgestellt, daß meßbare Unfallfolgen nicht bestünden. Das OVA hätte somit dem Kläger eine Rente von 10 v. H. nicht auf Grund des § 559 a Abs. 3 RVO zusprechen dürfen. Wenn es entgegen der rechtskräftigen Feststellung geglaubt habe, eine meßbare MdE aus dem früheren Unfall annehmen zu dürfen, so hätte es gemäß dem Grundsatz Nr. 11 der GE 5286 eine Gesamtrente bilden müssen.

Die Abweichung von der GE 5286 sei auch bewußt erfolgt, da das OVA seine Entscheidung mit Billigkeitserwägungen im Hinblick auf die besondere Lage des Falles begründet habe; dies lasse erkennen, daß das OVA die maßgebenden gesetzlichen Vorschriften und Grundsätze absichtlich nicht angewandt habe. Hinzu komme, daß das OVA in anderen Fällen die GE berücksichtigt habe.

Der Einwand des Klägers, zur fraglichen Zeit habe im Saarland die Vorschrift des § 1693 RVO nur bezüglich der GEen des Landesversicherungsamts gegolten, treffe nicht zu. Aus mehreren Saarländischen Verordnungen ergebe sich, daß das Landesversicherungsamt Rechtsnachfolger des RVA für den Bereich des Saarlandes gewesen sei. Deshalb seien auch die GEen des RVA für das Saarland weiter gültig geblieben. § 1693 RVO sei im Saarland nach 1945 nicht geändert worden; es hätte aber der Ersetzung des Hinweises auf das RVA durch einen solchen auf das Saarländische Landesversicherungsamt in dieser Vorschrift bedurft, wenn die Bindung des OVA an GEen auf die des Landesversicherungsamts allein hätte beschränkt werden sollen.

Nach neuem Verfahrensrecht sei die Statthaftigkeit der Berufung nicht durch § 145 Nr. 4 SGG ausgeschlossen, da der Ausnahmefall dieser Vorschrift - Abhängigkeit der Rentengewährung - hier vorliege; es komme hierbei nicht darauf an, ob der Kläger oder die Beklagte das Rechtsmittel eingelegt habe. Selbst wenn aber der Berufungsausschlußgrund des § 145 Nr. 4 SGG vorläge, sei die Berufung doch in sinngemäßer Anwendung des § 150 Nr. 1 SGG als zulässig anzusehen (BSG 1, 62).

Dem Kläger könne eine Rente von 10 v. H. nicht gewährt werden; an den Grundsätzen Nr. 7 und 11 der GE 5286 sei festzuhalten.

Für Billigkeitserwägungen bestehe kein Anlaß.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 13. Oktober 1959 zugestellte Urteil hat der Kläger am 21. Oktober 1959 Revision eingelegt und sie am 19. November 1959 wie folgt begründet: Zu Unrecht habe das LSG an Stelle eines Prozeßurteils ein Sachurteil gefällt. Seine Auffassung, der Rekurs der Beklagten sei zulässig gewesen, treffe nicht zu. Die Gründe des OVA-Urteils ergäben keine Anhaltspunkte dafür, daß das OVA bewußt und gewollt gegen die GE 5286 verstoßen habe. Vielmehr sei zu vermuten, daß das OVA diese GE übersehen habe.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des OVA vom 17. August 1954 als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.

Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei.

II

Die Revision ist statthaft durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, daher zulässig. Sie hatte auch Erfolg, da das LSG zu Unrecht das als Berufung übergeleitete Rechtsmittel der Beklagten als zulässig erachtet hat.

Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Zulässigkeit der ihm zur Entscheidung vorliegenden Berufung sich nicht allein nach den Vorschriften der §§ 143 ff SGG richtet. Für Fälle der hier gegebenen Art, in denen eine beim Landesversicherungsamt für das Saarland als Rekurs anhängig gewesene Sache auf Grund des § 1 Nr. 9 des Gesetzes Nr. 629 zur Einführung der Sozialgerichtsbarkeit im Saarland vom 18. Juni 1958 (Amtsblatt des Saarlandes 1958, 1224 = BABl 1958, 615) auf das LSG für das Saarland übergegangen ist, hat der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 30. Januar 1963 (2 RU 109/61) entschieden, daß die Zulässigkeit des Rechtsmittels nach altem und nach neuem Verfahrensrecht zu prüfen ist. Bei dieser Prüfung hat das LSG jedoch die Vorschriften des alten Verfahrensrechts unrichtig angewandt.

Da es sich um die Neufeststellung einer Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse handelte, war der Rekurs der Beklagten ausgeschlossen (§ 1700 Nr. 8 RVO i. V. m. § 5 Nr. 3 Buchst. h der Verordnung über die Neugestaltung des Rechtszugs in der Sozialversicherung des Saarlandes vom 5. Dezember 1947, Amtsblatt des Saarlandes 1948, 103). Dies hat das OVA in der Rechtsmittelbelehrung seines Urteils zutreffend erklärt. Das LSG hat allerdings gemeint, dem Ausschluß des Rekurses stehe hier der Umstand entgegen, daß das OVA seine Abgabepflicht gemäß § 1693 RVO verletzt habe. Dieser Auffassung konnte der erkennende Senat nicht beipflichten. Dabei bedurfte es keiner Prüfung der Frage, ob § 1693 RVO aus den vom Kläger angeführten Gesichtspunkten etwa als unanwendbar anzusehen sei. Auch wenn man nämlich mit dem LSG davon ausgeht, daß zur fraglichen Zeit § 1693 RVO im Saarland mit Bezug auf GEen des RVA uneingeschränkt weitergegolten habe, läßt sich die vom LSG hieraus gezogene Schlußfolgerung nicht halten.

Nach § 1693 Abs. 1 RVO war das OVA in Fällen der Unzulässigkeit des Rekurses zur Abgabe der Sache verpflichtet, wenn a) es von einer GE des RVA abweichen wollte oder b) die Sache eine noch nicht festgestellte Auslegung gesetzlicher Vorschriften von grundsätzlicher Bedeutung betraf. Während im Falle zu b) eine Verletzung der Abgabepflicht den Ausschluß des Rekurses nicht berührte (vgl. RVA, AN 1914, 622 Nr. 2727; EuM 33, 533), hat die Rechtsprechung für den Fall zu a) angenommen, daß bei einer bewußten Abweichung des OVA von einer GE des RVA der Rekurs trotz des Vorliegens von Ausschlußgründen zulässig sei (vgl. RVA, AN 1926, 457 Nr. 3236; EuM 42, 28). Dem hat der erkennende Senat auch bei Übergangsfällen der hier gegebenen Art beigepflichtet (vgl. SozR SGG § 215 Bl. Da 13 Nr. 40).

Entgegen der vom LSG vertretenen Auffassung lassen jedoch die Gründe des Urteils vom 17. August 1954 keineswegs erkennen, daß das OVA bewußt von der GE 5286 des RVA abgewichen wäre. Hierfür würde es jedenfalls nicht ausreichen, wenn die Entscheidung des OVA zu gewissen Leitsätzen dieser GE objektiv in Widerspruch stünde; übrigens kämen in diesem Zusammenhang die vom LSG als verletzt erachteten Leitsätze Nr. 7 und 11 weniger in Betracht als vielmehr möglicherweise der Leitsatz 4 Satz 2 der angeführten GE. Das RVA hat eine bewußte Abweichung, welche den an sich ausgeschlossenen Rekurs statthaft werden ließ, nur in Fällen angenommen, in denen das OVA von einer GE des RVA abweichen wollte, also eine Änderung der RVA-Rechtsprechung offensichtlich für erwünscht hielt (vgl. EuM 42, 28). Ein solcher bewußter Wille ist jedoch der Begründung des hier zu prüfenden OVA-Urteils nicht mit hinreichender Sicherheit zu entnehmen. Offensichtlich hat das OVA vielmehr angenommen, mit seinen von Billigkeitserwägungen ausgehenden Gedankengängen sich im Rahmen des Gesetzes (§ 559 a RVO) zu halten, ohne die GE 5286 des RVA hierbei überhaupt in Betracht zu ziehen. Eine bewußte und gewollte Abweichung von bestimmten Leitsätzen dieser GE kann dem OVA hiernach nicht nachgewiesen werden.

Das Rechtsmittel der Beklagten war somit nach dem früheren Verfahrensrecht nicht statthaft. Eine sinngemäße Heranziehung des § 150 Nr. 1 SGG (BSG 1, 62, 67) kommt bei der Zulässigkeitsprüfung nach dem alten Verfahrensrecht nicht in Betracht (vgl. SozR SGG § 215 Bl. Da 13 Nr. 40). Das LSG hat mithin zu Unrecht in der Sache selbst entschieden; es hätte - wie die Revision zutreffend vorträgt - die Berufung der Beklagten als unzulässig ansehen und sie verwerfen müssen. Auf die begründete Revision war daher das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2379711

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