Leitsatz (amtlich)
§ 3 Abs 1 S 1 Halbs 1 VuVO gestattet nicht, von einer ununterbrochenen Beschäftigung auf eine lückenlose Beitragsentrichtung zu schließen.
Normenkette
VuVO § 3 Abs 1 S 1 Halbs 1 Fassung: 1960-03-03; FRG § 19 Abs 2 S 1 Halbs 1 Fassung: 1960-02-25
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 18.12.1984; Aktenzeichen L 5 J 310/83) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 18.08.1983; Aktenzeichen S 3 J 6/83) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob für die vom Kläger beantragte Versichertenrente die Wartezeit erfüllt ist.
Über eine Beschäftigung und Versicherung des 1921 geborenen, aus Oberschlesien stammenden Klägers in Deutschland liegen folgende Unterlagen vor: - Quittungskarte Nr 1 der Invalidenversicherung, ausgestellt auf die Landesversicherungsanstalt Schlesien, mit 15 Wochenbeitragsmarken, deren letzte am 24. September 1939 entwertet worden ist; - Auskunft der Firma F K AG in E vom 16. November 1981, daß der Kläger vom 29. September 1939 bis 25. September 1940 im Lager L zum Dreher umgeschult worden sei; - "Arbeiter-Annahmeschein" der F K G AG in K vom 26. September 1940; - "Abgangsbescheinigung" der Firma G vom 4. Juni 1945 mit darin bestätigtem Wehrdienst vom 10. Dezember 1943 bis 19. März 1944; - bei Ausscheiden aus der G am 4. Juni 1945 ausgestellte Empfangsbescheinigung über eine Quittungskarte Nr 2 der Invalidenversicherung, lautend auf die LVA Schlesien, mit 44Wochenbeitragsmarken.
Den Antrag des Klägers auf Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit vom November 1980 lehnte die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) im streitigen Bescheid vom 26. November 1982 mit der Begründung ab, er habe von 1940 bis 1945 eine Versicherungszeit von insgesamt nur 54 Kalendermonaten zurückgelegt, so daß die Wartezeit nicht erfüllt sei.
Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 18. August 1983). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) mit der angefochtenen Entscheidung vom 18. Dezember 1984 den streitigen Bescheid und das Urteil des SG aufgehoben sowie die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Dezember 1980 verurteilt. In der Begründung ist ausgeführt, der Kläger sei nach den ärztlichen Unterlagen erwerbsunfähig (§ 1247 der Reichsversicherungsordnung -RVO- in der bis 31. Dezember 1983 geltenden Fassung). Auch habe der Kläger die nach Abs 3 Satz 1 Buchst a) aaO erforderliche Wartezeit (Versicherungszeit) von 60 Kalendermonaten zurückgelegt. Seine Behauptung, er habe von Oktober 1938 bis September 1939 ununterbrochen Pflichtbeiträge zur früheren reichsgesetzlichen Invalidenversicherung entrichtet, sei freilich durch den Inhalt der Quittungskarte Nr 1 widerlegt und durch sie zugleich ausgeschlossen, daß er während seiner - offensichtlich versicherungsfreien - Umschulung im L Lager Beiträge entrichtet habe. Die in der Quittungskarte Nr 1 nachgewiesenen 15 Wochenbeiträge seien - bei fehlender Möglichkeit einer näheren Festlegung - dem Zeitraum vom 12. Juni bis 24. September 1939 zuzuordnen. Für die Zeit ab dem Eintritt in die G am 26. September 1940 bis zum "Ende des Markenverfahrens für versicherungspflichtig Beschäftigte" am 28. Juni 1942 seien aber insgesamt 81 Wochen-Pflichtbeiträge als entrichtet nachgewiesen: Die Quittungskarte Nr 1 habe noch Raum für 37 Wochenbeiträge geboten; außerdem habe eine Versicherungskarte Nr 2 mit 44 Wochenbeiträgen vorgelegen, wie durch die oa Empfangsbescheinigung nachgewiesen sei. 11 Wochen dieses Zeitraums seien daher nicht mit Beiträgen belegt, was auf eine Unterbrechung der Versicherung schließen lasse. Für den durch die "Abgangsbescheinigung" belegten Zeitraum der Beschäftigung bei der G vom 29. Juni 1942 bis 4. Juni 1945 fänden sich keine Hinweise dafür, daß außer der Ableistung des Wehrdienstes vom 10. Dezember 1943 bis 19. März 1944 weitere Unterbrechungstatbestände vorgelegen hätten. Damit sei eine ununterbrochene Beschäftigungs- und damit Beitragszeit nachgewiesen und daher ohne Kürzung auf fünf Sechstel (§ 3 der Verordnung über die Feststellung von Leistungen aus den gesetzlichen Rentenversicherungen bei verlorenen, zerstörten, unbrauchbar gewordenen oder nicht erreichbaren Versicherungsunterlagen - Versicherungsunterlagen-Verordnung -VuVO- vom 3. März 1960 - BGBl I S 137) mit 37 Kalendermonaten (Beitrags- und Ersatzzeiten) anzurechnen. Eine unzulässige Doppelanrechnung liege hinsichtlich des Monats Juni 1942 nicht vor. Die Gesamtversicherungszeit des Klägers umfasse damit 96 Wochen oder 23 Kalendermonate sowie weitere 37 Versicherungsmonate, insgesamt also 60 Kalendermonate.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision bringt die Beklagte vor, dem Berufungsgericht könne nicht darin gefolgt werden, daß während der Beschäftigungszeit vom 29. Juni 1942 bis zum 4. Juni 1945, abgesehen vom Kriegsdienst, keine weiteren Unterbrechungen der Beitragsleistung erfolgt seien. Für diese Überzeugungsbildung fehle es an den erforderlichen Grundlagen. Statt zum Nachweis der Beitragszeiten hätte das LSG nach den Umständen des Falles nur zu deren Glaubhaftmachung kommen dürfen, so daß gemäß § 3 Abs 1 VuVO nur eine gekürzte Beitragszeit hätte festgestellt werden können. Dann aber lägen nur 54 Kalendermonate vor. Die Wartezeit wäre aber auch dann nicht erfüllt, wenn der Monat Juni 1942 glaubhaft als mit einem Monatsbeitrag belegt angesehen würde. Auch dann wäre nämlich die Kürzung auf fünf Sechstel vorzunehmen gewesen. Im übrigen lasse sich nicht feststellen, daß für den Monat Juni 1942 kein Wochenbeitrag entrichtet worden sei.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung des Klägers als unbegründet zurückzuweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Der Kläger hat die für eine Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit erforderliche Wartezeit von 60 Kalendermonaten nicht erfüllt.
Die Zeitspanne der Beschäftigung des Klägers vom 29. Juni 1942 bis 4. Juni 1945 ist nicht mit Versicherungsunterlagen belegt. Nach § 3 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 VuVO werden für das einzelne Jahr nicht nachgewiesener Beitragszeiten fünf Sechstel als Beitragszeit angerechnet (vgl für den Anwendungsbereich des Fremdrentengesetzes -FRG- die vergleichbare Vorschrift des § 19 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 1 aaO). Daß eine Beitragszeit "nicht nachgewiesen" ist, ist Tatbestandsmerkmal der Vorschrift; welche rechtliche Tragweite diesem Tatbestandsmerkmal beizumessen ist, unterliegt der materiell-rechtlichen Prüfung durch das Revisionsgericht. Einer solchen revisionsrichterlichen Rechtskontrolle steht nicht entgegen, daß das LSG im angefochtenen Urteil ausdrücklich für "nachgewiesen" erachtet hat, daß der Kläger eine "Beschäftigungs- und damit Beitragsleistung" in dieser Zeit nicht unterbrochen hatte. In Auslegung des - in § 19 Abs 2 Satz 1 FRG ebenfalls enthaltenen - Tatbestandsmerkmals der "nicht nachgewiesenen" Zeit hat der erkennende Senat bereits vor geraumer Zeit entschieden, es sei dem Tatrichter rechtlich nicht gestattet, davon auszugehen, "daß ... schon allein durch Beweis des Anfangs- und Endtermins einer Beschäftigungszeit eine ununterbrochene Beschäftigung zwischen beiden Zeitpunkten bewiesen sein kann" (BSGE 38, 80, 83 = SozR 5050 § 19 Nr 1 S 4). Vielmehr könnten Beschäftigungs- und Beitragszeiten erst dann "nachgewiesen" sein, wenn das Tatsachengericht überzeugt sei, daß im Einzelfall "eine höhere Beitrags- oder Beschäftigungsdichte (als fünf Sechstel) erreicht worden" sei. Da für die Anwendung von § 3 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 VuVO - anders als nach § 19 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 1 FRG - das Nicht-Nachgewiesensein nicht einer Beschäftigung, sondern ausschließlich einer "Beitragszeit" rechtsrelevant ist, bezieht sich bei Anwendung dieser Vorschrift das Tatbestandsmerkmal des Nachweises auf die "Aussagekraft für die zu vermutende Beitragsdichte" (BSGE 51, 234, 237 = SozR 5745 § 3 Nr 3). Dieser Vermutung des Verordnungsgebers liegt nämlich die statistisch abgesicherte Erfahrung zugrunde, daß es für eine bestimmte Beschäftigung regelmäßig keine lückenlose Beitragsleistung gibt, vor allem Krankheit oder Arbeitslosigkeit zu Beitragslücken zu führen pflegten und die durchschnittliche Beitragsdichte auch bei einer ununterbrochenen B e s c h ä f t i g u n g nur 10 Monate pro Jahr beträgt (BSGE 31, 271, 272 = SozR Nr 2 zu § 3 VuVO; BSG 51, 234, 235; SozR Nr 4 zu § 19 FRG; SozR Nr 4 zu § 15 FRG).
Die nachgewiesene Zeit einer versicherungspflichtigen Beschäftigung mit glaubhafter Beitragsleistung ist nach allem solange "nicht nachgewiesene Beitragszeit" iS von § 3 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 VuVO, als die in dieser Vorschrift klar zum Ausdruck kommende Vermutung (BSG aaO) des Verordnungsgebers nicht widerlegt ist, daß sie nur zu fünf Sechsteln mit Beiträgen belegt ist. Hauptanwendungsfall der Widerlegung der Fünf-Sechstel-Vermutung ist naturgemäß das Vorliegen von lückenlosen, auch die Beitragsdichte nachweisenden Versicherungsunterlagen wie Quittungskarten, Versicherungskarten, andere Versicherungsnachweise, ausnahmsweise aber auch von anderen Unterlagen vergleichbarer Beweiskraft. Entscheidend ist hierbei, daß es sich um Beweisstücke handelt, die geeignet sind, die Vermutung des Verordnungsgebers dahin zu widerlegen, daß, entgegen dem Regelfall, Beiträge ununterbrochen geleistet worden sind.
In bezug auf die im konkreten Fall streitige, mit ihren Anfangs- und Endzeitpunkten vom LSG bindend festgestellten Zeiten einer versicherungspflichtigen Beschäftigung des Klägers mit glaubhafter Beitragsleistung bei der G vom 29. Juni 1942 bis 4. Juni 1945 ist im angefochtenen Urteil ausgeführt, es fänden sich keine Hinweise darauf, daß außer der Ableistung des Wehrdienstes noch weitere Unterbrechungstatbestände vorgelegen hätten. Daher sei mit der für den vollen Beweis erforderlichen, an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß der Kläger "eine ununterbrochene Beschäftigungs- und damit Beitragszeit zurückgelegt hat". Das Berufungsgericht schließt also von der Nichtunterbrechung der Beschäftigung auf eine Lückenlosigkeit auch der Beitragsleistung für die gleiche Zeit. Das ist nach den vorstehenden Ausführungen rechtlich unstatthaft; wie dargelegt vermutet der Verordnungsgeber in § 3 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 VuVO auch bei unterbrochener Beschäftigung eine Beitragsdichte von nur fünf Sechsteln, so daß die vom LSG angestellte Schlußfolgerung materiell rechtsfehlerhaft ist. Ihr Ergebnis begründet daher keine Tatsachenfeststellungen, an die der erkennende Senat nach § 163 SGG gebunden sein könnte.
Da das LSG zur Widerlegung der Vermutung des Verordnungsgebers, daß auch eine nachgewiesene ununterbrochene Beschäftigung nicht voll mit Beiträgen belegt ist, keine Ausführungen gemacht hat, ist die streitige Spanne einer Beschäftigung bei der G vom 29. Juni 1942 bis 4. Juni 1945 "nicht nachgewiesene Beitragszeit" iS von § 3 aaO mit der Folge, daß dem Kläger nur fünf Sechstel des Zeitraums als Beitragszeit gutgebracht werden können. Hiernach sind - auch unter Berücksichtigung des Wehrdienstes - für die Jahre 1942, 1943 und 1945 mindestens je ein Kalendermonat von den 60 Kalendermonaten abzuziehen, die das LSG als insgesamt vorliegend erachtet hat. Dann aber ist die Wartezeit für die vom Kläger beanspruchte Versichertenrente nicht erfüllt.
Auf die begründete Revision der Beklagten war daher das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das zutreffende Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen