Leitsatz (amtlich)

Ein ununterbrochenes Beschäftigungsverhältnis von mindestens 10jähriger Dauer bei demselben Arbeitgeber iS des VuVO § 3 Abs 1 kann auch dann vorliegen, wenn es zeitweilig nicht versicherungspflichtig war.

In diesem Zusammenhang ist auch eine an das Beschäftigungsverhältnis anschließende Dienstzeit als Beamter bei der Errechnung des 10-Jahres- Zeitraumes mitzuzählen.

Der Kriegsdienst im 1. Weltkrieg hat ein bei demselben Arbeitgeber bestehendes Beschäftigungsverhältnis unterbrochen.

 

Normenkette

VuVO § 3 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1965-12-22

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 9. September 1969 und das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 30. Januar 1968 aufgehoben.

Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 7. November 1966 verurteilt, dem Kläger Altersruhegeld vom 1. Juli 1965 an unter Anrechnung einer vollen Beitragszeit vom 3. April 1919 bis 31. Juli 1926 zu gewähren.

Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der am 28. November 1899 geborene Kläger war vom 1. Februar 1915 bis 27. Mai 1918 und vom 3. April 1919 bis 31. Juli 1926 im Dienst der deutschen Eisenbahn als Arbeiter, Dienstanfänger und Hilfsbetriebsassistent beschäftigt gewesen. In der Zwischenzeit leistete er Kriegsdienst. Für ihn sind auch für die Zeit vom 28. November 1915 an - mit Ausnahme seiner Kriegsdienstzeit - Beiträge zur Invalidenversicherung abgeführt worden; die Beitragsunterlagen sind jedoch verlorengegangen. Seit dem 1. August 1926 war er als Beamter bei der Deutschen Reichsbahn tätig. Jetzt ist er - seit Dezember 1964 - als Bundesbahnoberinspektor i. R. pensioniert.

Durch bindend gewordenen Bescheid vom 13. Januar 1965 hatte die Beklagte den Antrag auf Gewährung von Altersruhegeld abgelehnt. Dabei hatte sie von der erwähnten Beitragszeit den Zeitraum vom 28. November 1915 bis 31. Juli 1926 mit Ausnahme der Kriegsdienstzeit gemäß § 3 Abs. 1 der Verordnung (VO) über die Feststellung von Leistungen aus den gesetzlichen Rentenversicherungen bei verlorenen, zerstörten, unbrauchbar gewordenen oder nicht erreichbaren Versicherungsunterlagen (Versicherungsunterlagen-Verordnung, VuVO) vom 3. März 1960 (BGBl I 137) zu fünf Sechstel als glaubhaft gemachte Beitragszeit angerechnet. Zusammen mit der Ersatzzeit des Kriegsdienstes und weiteren Zeiten einer freiwilligen Versicherung ergaben sich nur insgesamt 166 Monate an anrechnungsfähigen Versicherungszeiten. Der Kläger erhält jedoch vom 1. Januar 1965 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Durch die VO zur Änderung der genannten Versicherungsunterlagen-Verordnung vom 22. Dezember 1965 (BGBl I 2139) erhielt § 3 Abs. 1 Satz 1 VuVO einen weiteren Halbsatz, wonach die nicht nachgewiesenen Beitragszeiten eines ununterbrochenen Beschäftigungsverhältnisses von mindestens zehnjähriger Dauer bei demselben Arbeitgeber in vollem Umfang anzurechnen sind. Unter Berufung hierauf beantragte der Kläger im Oktober 1966 erneut die Gewährung von Altersruhegeld. Die Beklagte hielt die genannte Vorschrift für unanwendbar und lehnte deshalb durch Bescheid vom 7. November 1966 erneut die Zahlung von Altersruhegeld ab. Hiergegen erhob der Kläger Klage. Das Sozialgericht (SG) Marburg hat durch Urteil vom 30. Januar 1968 unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 7. November 1966 festgestellt, daß die Zeit vom 28. November 1915 bis 31. Juli 1926 mit Ausnahme der Kriegsdienstzeit in vollem Umfang als Versicherungszeit anzurechnen sei. Auf die Berufung der Beklagten hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) die seiner Ansicht nach in Wahrheit vorliegende Klage auf Zahlung von Altersruhegeld vom 1. Juli 1965 an durch Urteil vom 9. September 1969 (Breithaupt 1970, 133) abgewiesen, indem es zugleich das Urteil des SG Marburg vom 30. Januar 1968 aufhob. Es war der Ansicht, zwar wäre nach Art. 2 Nr. 2 der genannten VO vom 22. Dezember 1965 von Amts wegen das begehrte Altersruhegeld neu festzustellen, wenn durch sie ein Anspruch auf eine Leistung oder eine höhere Leistung begründet worden sei. Ferner sei es richtig, daß erst infolge dieser Änderungs-VO die Möglichkeit bestehe, die an der Erfüllung der Wartezeit fehlenden 14 Monate möglicherweise durch Hinzurechnung eines weiteren Sechstels zu erhalten. Dabei würde die volle Anrechnung der fraglichen Zeit in jedem Falle zur Erfüllung der Wartezeit von 180 Monaten führen. Es genüge aber auch lediglich die Anrechnung der Zeit vom 3. April 1919 bis 31. Juli 1926, da selbst dann die noch erforderliche Zahl von 14 Beitragsmonaten um ein Geringes überschritten würde. Jedoch sei weder das eine noch das andere möglich. Eine volle Anrechnung der vor dem Kriegsdienst des ersten Weltkriegs vorhandenen Beschäftigungszeiten könne nicht erfolgen, weil dieser das Beschäftigungsverhältnis unterbrochen habe, Es sei aber auch die weitere Frage zu verneinen, ob die Zeit nach dem Kriegsdienst deshalb voll anzurechnen sei, weil der Kläger zusammen mit seinem Dienst als Beamter vom 1. August 1926 an mindestens zehn Jahre bei demselben Arbeitgeber beschäftigt gewesen sei. Eine Dienstzeit als Beamter stelle kein Beschäftigungsverhältnis im Sinne des § 3 VuVO dar, da es sich hierbei stets um ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis gehandelt haben müsse.

Das LSG hat in seinem Urteil die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen. Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt mit dem Antrag,

in Abänderung des angefochtenen Urteils unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 7. November 1966 diese zu verurteilen, vom 1. Juli 1965 an Altersruhegeld mit der Maßgabe zu zahlen, daß die Pflichtbeitragszeiten vom 28. November 1915 bis 31. Juli 1926 in vollem Umfang anzurechnen sind.

Gerügt wird unrichtige Anwendung des § 3 VuVO.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen,

da das angefochtene Urteil richtig sei.

II.

Die Revision des Klägers ist im wesentlichen begründet.

Nach dem hier zunächst maßgebenden Satz 1 des § 3 Abs. 1 VuVO idF vom 3. März 1960 wurden ursprünglich für das einzelne Jahr nicht nachgewiesener Beitragszeiten, also nach den §§ 1, 10 glaubhaft gemachter Zeiten, nur fünf Sechstel als Beitragszeit angerechnet. Bei der Feststellung dieser Kürzungsquote war der Gesetzgeber von der durch Fehlzeiten, insbesondere durch Krankheit und Arbeitslosigkeit sowie unbezahlten Urlaub verminderten durchschnittlichen Beitragsdichte in der deutschen Rentenversicherung ausgegangen, die anhand vollständig erhaltener Versicherungsunterlagen statistisch ermittelt worden war. Die hiergegen geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken sind vom Bundesverfassungsgericht nicht für begründet erachtet worden (vgl. SozR Vers-Unterlagen VO § 3 Bl. Ab. 1 Nr. 1).

Diese Regelung führte jedoch zu Härten, wenn der Versicherte über lange Zeiträume hinweg bei demselben Arbeitgeber tätig war. In solchen Fällen konnte nicht allgemein davon ausgegangen werden, daß die durchschnittliche Beitragsdichte in diesen Zeiten nur zehn Monate pro Jahr betrug (BR-Drucks. 550/65; vgl. auch Ludwig, DVZ 1966, 40, 120, der dazu die Frage aufwirft, ob die neue Regelung mit ihrer Vermutung einer ununterbrochenen Beitragsleistung nicht über das Ziel hinausgeht und zu günstig für den Versicherten ist). Deshalb wurde, nachdem bereits § 19 Abs. 2 des Fremdrentengesetzes durch Art. 1 § 4 des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 entsprechend geändert worden war, auch § 3 Abs. 1 VuVO durch die bereits genannte VO vom 22. Dezember 1965 ergänzt. Nach dem jetzigen letzten Halbsatz des § 3 Abs. 1 VuVO werden die nicht nachgewiesenen Beitragszeiten eines ununterbrochenen Beschäftigungsverhältnisses von mindestens zehnjähriger Dauer bei demselben Arbeitgeber in vollem Umfang angerechnet.

Nach dem Wortlaut werden die nicht nachgewiesenen Beitragszeiten dem ununterbrochenen, mindestens zehnjährigem Beschäftigungsverhältnis gegenübergestellt. Das spricht bereits dafür, daß dieses nicht identisch mit dem versicherungspflichtigen Beschäftigungverhältnis ist. Das hat aber insbesondere dann Bedeutung, wenn z. B. von einem zehnjährigen Beschäftigungsverhältnis die Anfangszeiten versicherungsfreie Lehrlingszeiten waren oder solche, die vor Vollendung des 16. Lebensjahres lagen, der früheren Grenze für den Beginn der Versicherungspflicht (was auch beim Kläger zutraf), oder wenn in der Angestelltenversicherung die letzten Jahre wegen Überschreitens der jeweiligen Jahresarbeitsverdienstgrenze versicherungsfrei waren. Alsdann kämen nur die verbleibenden nicht nachgewiesenen Beitragszeiten für eine ungekürzte Anrechnung in Betracht. Auf diesen Rest jedoch die Neuregelung nicht anzuwenden, besteht kein Anlaß. Der gegenteiligen Ansicht des LSG, daß in dem letzten Halbsatz des § 3 Abs. 1 Satz 1 VuVO mit dem mindestens zehnjährigen Beschäftigungsverhältnis nur ein mindestens zehnjähriges Versicherungsverhältnis gemeint sein könne, kann nicht gefolgt werden. Weder der Sinn und Zweck dieser Vorschrift noch ihre Entstehungsgeschichte bieten Anlaß zu einer solchen Einschränkung (so auch LSG München, Bayer. Amtsbl. 1970 B 10, Ludwig aaO und M. Schmidt, Mitt. der LVA Ober- und Mittelfranken 1970, 53, 61).

In diesem Zusammenhang muß alsdann aber auch eine anschließende Dienstzeit als Beamter herangezogen werden, um zu ermitteln, ob ein mindestens zehnjähriges Beschäftigungsverhältnis bei demselben Arbeitgeber vorgelegen hat. Daß sie nicht schon deshalb unberücksichtigt bleiben kann, weil sie nicht versicherungspflichtig ist, ist bereits dargelegt. Im übrigen aber ist sie ebenfalls als Beschäftigungsverhältnis im Sinne der genannten Vorschrift zu verstehen. Das folgt einmal aus Vorschriften wie denen des § 1229 Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO - und des § 6 Abs. 1 Nr. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -, wonach Beamte "versicherungsfrei" sind, sodann aus dem Rechtsinstitut der Nachversicherung für den Fall ihres Ausscheidens ohne beamtenrechtliche Versorgung. Dementsprechend ist das Beamtenverhältnis sozialversicherungsrechtlich stets als Beschäftigungsverhältnis angesehen worden (vgl. RVA GE Nr. 3947 und 4235, An. 1931, 32 und 487 sowie Nr. 4926, An. 1935, 413). Beamte sind deshalb sozialversicherungsrechtliche als Arbeitnehmer zu betrachten (BSG 20, 123, 126).

Damit ist die Zeit vom 3. April 1919 bis 31. Juli 1926 nunmehr voll anzurechnen, da der Kläger unter Einschluß seiner Beamtenzeit bei der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft, der Rechtsnachfolgerin der vorangegangenen deutschen Staatsbahnverwaltungen und der Deutschen Reichsbahn (vgl. das Reichsbahn-Gesetz vom 30. August 1924, RGBl II 272) ein mehr als zehnjähriges Beschäftigungsverhältnis bei demselben Arbeitgeber (vgl. VerbKomm. § 19 FRG Note 11) aufzuweisen hat. Denn bei der Prüfung, ob der Versicherte ein ununterbrochenes Beschäftigungverhältnis von mindestens zehnjähriger Dauer bei "demselben Arbeitgeber" zurückgelegt hat, ist nicht in erster Linie auf die Person des Arbeitgebers abzustellen, sondern auf den Betrieb. Ein Wechsel des Inhabers eines Betriebes oder der Rechtsform des Betriebsinhabers sind deshalb unbeachtlich. Auf die wechselnde Bezeichnung des Unternehmers oder seiner Rechtsform kommt es nicht an. Somit ist die Wartezeit für das begehrte Altersruhegeld nach den nicht angefochtenen Feststellungen des LSG erfüllt.

Dagegen kann der Kläger nicht die ungekürzte Anrechnung der Zeit vom 28. November 1915 bis 27. Mai 1918 verlangen, da sein Beschäftigungsverhältnis bei der Deutschen Eisenbahnverwaltung durch den Kriegsdienst unterbrochen war. Wie die entsprechende Frage für den zweiten Weltkrieg zu beantworten ist, braucht hier nicht untersucht zu werden (vgl. dazu Baldus, Mitt. LVA Rheinprovinz 1967, 307 und Manns, Mitt. LVA Hessen 1968, 117 sowie Schmidt aaO S. 62). Für die Zeit des ersten Weltkrieges gibt es weder gesetzliche Bestimmungen noch vertragliche Regelungen, die bei einer Einberufung zum Wehrdienst oder Kriegsdienst den Fortbestand eines zuvor begründeten Beschäftigungsverhältnisses fingieren. Es muß daher hier eine Unterbrechung angenommen werden. In einer etwaigen abweichenden Behandlung der Kriegsdienstzeiten des ersten und des zweiten Weltkrieges würde im übrigen auch entgegen der Ansicht des Klägers keine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes des Art. 3 GG liegen. Die vorstehend geschilderte unterschiedliche Behandlung würde für alle Betroffenen gleichmäßig gelten. Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet nicht, daß die für den zweiten Weltkrieg maßgebende Rechtslage sich auch auf die Teilnehmer früherer Kriege auswirken müßte. Es handelt sich vielmehr in Wahrheit um die Regelung verschiedener Sachverhalte. Außerdem übersieht der Kläger in diesem Zusammenhang, daß Beamte, die vor ihrer Ernennung als Arbeiter oder Angestellte im Dienst eines öffentlich-rechtlichen Dienstherren gestanden haben, ohnehin eine gewisse Doppelversorgung genießen. Einmal wird ihnen der Kriegsdienst sowohl in der Rentenversicherung als Ersatzzeit als auch bei der Ermittlung der ruhegehaltsfähigen Dienstzeit angerechnet (BSG SozR § 1251 Nr. 42). Darüber hinaus wird ihnen aber auch noch in der Regel die Zeit ihres Dienstes als Arbeiter oder Angestellte als ruhegehaltsfähig anerkannt, wofür nur ein begrenzter Ausgleich vorgesehen ist (vgl. z. B. § 115 Abs. 2 des Bundesbeamtengesetzes).

Damit rechtfertigt sich die aus der Urteilsformel ersichtliche Entscheidung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 271

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