Beteiligte

der Bau-Berufsgenossenschaft Frankfurt/Main

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. Dezember 1959 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Klägerin ist Mitglied der beklagten Bau-Berufsgenossenschaft.

Die Beklagte übersandte ihr am 27. Dezember 1957 einen Vordruck für den Lohnnachweis zur Umlage 1957 und forderte sie auf, das Formular bis spätestens zum 11. Februar 1958 ausgefüllt zurückzusenden. Sie erinnerte die Klägerin am 29. Januar 1958 und am 11. Februar 1958 an den Fristablauf.

Der Lohnnachweis der Klägerin ging infolge eines Versehens ihres Helfers in Steuersachen erst am 18. April 1958 bei der Beklagten ein. In diesem Nachweis gibt die Klägerin an, sie habe im Jahre 1957 zwei Angestellte der Gefahrtarifstelle 1 (Gefahrklasse 1) und 25 Arbeitnehmer der Gefahrtarifstelle 3 (Gefahrklasse 13) mit einem Gesamtentgelt von 162.279,– DM bei 7520 Arbeitstagen beschäftigt.

Am 24. Februar 1958 hatte die Beklagte den Lohnnachweis der Klägerin selbst aufgestellt und dabei für das Jahr 1957 je einem Arbeitnehmer der Gefahrtarifstellen 1 und 2 (Gefahrklassen 1 und 3) sowie 34 beschäftigten Personen der Gefahrtarifstelle 3 (Gefahrklasse 13) bei insgesamt 8.700 Tagewerken mit einem Gesamtentgelt von 189.000,– DM angenommen. Der auf Grund dieses Lohnnachweises berechnete Heberollenauszug vom 11. April 1958 traf bei der Klägerin am 29. April 1958 ein.

Die Klägerin legte gegen den Heberollenauszug am 6. Mai 1958 Widerspruch ein.

Die Beklagte wies den Widerspruch durch Bescheid vom 26. Juni 1958 mit der Begründung zurück, die von ihr durchgeführte Einschätzung bestehe zu Recht, da der Lohnnachweis verspätet und die Entschuldigung der Klägerin nicht stichhaltig sei.

Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) Wiesbaden hat mit Urteil vom 15. Juli 1959 die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Höhe der Festsetzung im Heberollenauszug sei nur anfechtbar, wenn behauptet werde, die Beklagte hätte die Grenzen des verwaltungsmäßigen Ermessens überschritten; dies sei hier jedoch bei der um 16,4 % höheren Schätzung nicht der Fall.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt und beantragt, die Beklagte zu verurteilen, den Beitrag auf 3.509,83 DM festzusetzen und den überzahlten Betrag zurückzuzahlen.

Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 19. Dezember 1959 (veröffentlicht in Breithaupt 1960, 595) das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verurteilt, „einen den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Beitragsbescheid zu erteilen”. Das Berufungsgericht hat den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt festgestellt und ausgeführt: Seitdem § 758 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF durch § 224 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) aufgehoben worden sei, könne die Beitragsberechnung, auch wenn ihr ein nach § 752 RVO aF von der Berufsgenossenschaft selbst aufgestellter Lohnnachweis zugrunde liege, mit der Begründung angefochten werden, die Schätzung habe zu einem von dem richtigen Betrag abweichenden Ergebnis geführt. Dabei sei jede unrichtige Festsetzung des Entgeltes zu berücksichtigen und der Beitrag dann entsprechend zu berichtigen.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das ihr am 29. Januar 1960 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 18. Februar 1960 telegrafisch Revision eingelegt und das Rechtsmittel am 23. Februar 1960 begründet. Sie führt aus: Sie habe den Lohnnachweis für das Jahr 1957 nicht willkürlich, sondern nach gewissenhafter Prüfung des letzten Lohnnachweises und der wirtschaftlichen Verhältnisse in der Bauwirtschaft aufgestellt. Selbstverständlich könnten die eigenen Lohnnachweisfeststellungen der Berufsgenossenschaft nachträglich berichtigt werden. Insoweit sei sie stets nach der Verfügung des Reichsversicherungsamtes (RVA) vom 12. März 1889 (AN 1889, 194) verfahren und habe nur dann einen von ihr aufgestellten Lohnnachweis berichtigt, wenn eine Überschätzung um mehr als 100 % vorgelegen habe. Ihre Entscheidung, einen von ihr erstellten Lohnnachweis nicht zu berichtigen, könne jedoch im sozialgerichtlichen Verfahren nur dahin überprüft werden, ob der Aufstellung des Lohnnachweises ein Ermessensmißbrauch zugrunde liege (LSG Schleswig, BG 1959, 349). Das sei aber hier nicht der Fall, da der von ihr erstellte Lohnnachweis nicht 100 %, sondern nur knapp 15 % höher als der von der Klägerin verspätet eingereichte Nachweis sei. § 759 RVO (aF) widerspreche ebenfalls der Auffassung des Berufungsgerichts; denn wenn nach dieser Vorschrift das SG nur entscheide „soweit … die Genossenschaft ihn nicht als berechtigt anerkennt”, so bedinge diese Entscheidungsbefugnis der Genossenschaft doch einen breiten Spielraum, innerhalb dessen die Entscheidungsbefugnis ausgeübt werde. Die Befugnis der Genossenschaft, zu entscheiden, ob sie den Einspruch als berechtigt anerkennen wolle oder nicht, hätte keinen Sinn, wenn es auf den tatsächlich, wenn auch verspätet eingereichten Lohnnachweis ankäme. Die Ansicht des Berufungsgerichts, die Entgeltsfeststellungen durch die Berufsgenossenschaft seien uneingeschränkt nachprüfbar, widerspräche dem Sinn des § 752 RVO (aF) und würde dazu führen, daß jede von den tatsächlichen Gegebenheiten noch so geringfügig abweichende Schätzung berichtigt werden müsse. Dies hätte schon deshalb unhaltbare Ergebnisse, weil durch den geschätzten Lohnnachweis die Höhe der Beiträge der anderen Mitglieder mitbestimmt würde. Wegen der kleinsten Differenz könnte ein Mitglied die Berufsgenossenschaft zwingen, eine neue Umlageberechnung aufzustellen. Der Fehlbetrag, der bei einer Berichtigung des geschätzten Lohnnachweises entstehe, müßte im nächsten Jahr von den pünktlichen Mitgliedern zusätzlich aufgebracht werden. Nur im Falle eines Ermessensmißbrauchs sei es gerechtfertigt, der Gesamtheit der Mitglieder der Berufsgenossenschaft den Unterschiedsbetrag aufzubürden.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 15. Juli 1959 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die Revision der Beklagten ist zulässig; sie ist jedoch nur zum Teil begründet.

Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Heberollenauszug der Beklagten von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit in den Tatsacheninstanzen, auch soweit er auf dem von der Beklagten aufgestellten Lohnnachweis beruht, in vollem Umfang nachprüfbar ist.

Bei der Aufstellung eines Lohnnachweises auf Grund des § 752 RVO in der bis zum 30.6.1963 geltenden Fassung –aF– (vgl. § 743 RVO in der seit dem 1.7.1963 geltenden Fassung) übt die Berufsgenossenschaft, wie schon dem Wortlaut dieser Vorschrift zu entnehmen ist, kein „Ermessen” aus, sondern trifft im Wege der Beweiswürdigung tatsächliche Feststellungen, indem sie unbekannte Tatsachen – die Anzahl der Beschäftigten, die Lohnsumme und die Gefahrklasse – dadurch ermittelt, daß sie unter Anwendung von Erfahrungssätzen Schlüsse aus bekannten Tatsachen zieht, zB aus Zahlen der vorangegangenen Umlagejahre und aus den statistischen Unterlagen über die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung des Gewerbezweiges unter Berücksichtigung der ggf. vorhandenen besonderen Umstände des Einzelfalles. Ihr steht nicht im Rahmen eines sogenannten Handlungsermessens (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 6. Aufl., Bd. I, Seite 238 x) die Wahl zwischen mehreren, der Höhe nach unterschiedlichen Lohnnachweisen zu, sondern die Tatsachenwürdigung kann nur zu einem richtigen Ergebnis führen. Dieses Ergebnis einer solchen Beweiswürdigung kann von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit deshalb in den Tatsacheninstanzen in vollem Umfang nachgeprüft und durch das Ergebnis einer eigenen Beweiswürdigung ersetzt werden, wobei die Gerichte auch weitere, erst von ihnen ermittelte Tatsachen berücksichtigen können und müssen. Daraus ergibt sich, daß die Gerichte bei der Feststellung der für die Beitragsberechnung maßgebenden Beschäftigtenzahlen und Lohnsummen auch die nachträglich vom Unternehmer hierüber gemachten Angaben zum Gegenstand ihrer Prüfung machen müssen.

Die Angriffe der Revision gegen diese Auffassung sind nicht berechtigt.

Sofern das RVA nur dann einen von der Berufsgenossenschaft aufgestellten Lohnnachweis beanstandete, wenn er eine Überschätzung um mehr als das Doppelte enthielt, beruhte dies darauf, daß das RVA diese Lohnnachweise nur im Wege der auf die „Beachtung der gesetzlichen und staturarischen Vorschriften” beschränkten Rechtsaufsicht nachprüfe, da gegen die Entscheidung des Vorstandes der Berufsgenossenschaft damals ein Rechtsmittel nicht auf einen unrichtigen Ansatz des Entgeltes oder der Gefahrklasse gestützt werden konnte (vgl. § 102 Abs. 2, 3 GUVG = § 758 Abs. 3, 4 RVO idF des Gesetzes vom 20. Dezember 1928 – RGBl I, 405 – aF). Daraus ergibt sich aber nicht, daß das RVA die Aufstellung des Lohnnachweises durch die Berufsgenossenschaft als Ermessensentscheidung ansah. Vielmehr vertrat schon das RVA die Auffassung, daß es unzulässig sei, unabhängig von den Verhältnissen des Einzelfalles den doppelten durchschnittlichen Ortslohn einem nach § 752 RVO aF aufgestellten Lohnnachweis zugrunde zu legen. (AN 1886, 275; ebenso Lauterbach, Die Unfallversicherung, 2. Aufl., § 752 Anm. 3). Das Schrifttum zu der insoweit rechtlich ähnlichen Vorschrift des § 217 der Abgabenordnung (AO) ist ebenfalls der Ansicht, daß die Finanzbehörde bei der Schätzung der Besteuerungsgrundlagen alle erreichbaren Unterlagen zu berücksichtigen habe und ihr deshalb ein Ermessensspielraum nicht zustehe (vgl. Hübschamm/Hepp/Spitaler, AO § 217 Anm. 10; Riewald, Reichsabgabenordnung und Steueranpassungsgesetz, Bd. 2, § 217 Anm. 6).

Der Hinweis der Revision auf § 759 RVO aF geht ebenfalls fehl; denn die Regelung, daß das Sozialgericht auf die Klage entscheide, „soweit” die Genossenschaft den Einspruch nicht als berechtigt anerkenne, deutete nicht auf eine Ermessensentscheidung der Berufsgenossenschaft hin, sondern entsprach dem auch in § 85 SGG niedergelegten Grundsatz, daß die Behörde dem Widerspruch abhelfen kann. Eine „recht auffällige Fassung” des Gesetzes ist hierin entgegen der Meinung der Revision nicht zu sehen.

Die Ansicht des erkennenden Senats widerspricht nicht dem Sinn des § 752 RVO aF. Diese Vorschrift dient nicht dazu, das säumige Mitglied durch einen bewußt zu hoch angesetzten Beitrag zu bestrafen (vgl. RVA AN 1916, 411, 412; AN 1886, 275/276; Lauterbach, aaO, § 752 Anm. 3; RVO-Mitgl.Komm., 2. Aufl., § 752 Anm. 5; Moesle/Rabeling, Unfallversicherung, 3. Aufl., § 752 Anm. 5; Schulte-Holthausen, Unfallversicherung, 4. Aufl., § 752 Anm. 5; Schraeder/Strich, Die Deutsche Unfallversicherung, § 752 Anm. 5; Bereiter-Hahn, Unfallversicherung, § 743 Anm. 2). Sie soll auch nicht eine unanfechtbare Grundlage für die Berechnung des Beitrages des säumigen Unternehmers geben, sondern die Berufsgenossenschaft nur so stellen, als hätte der Unternehmer selbst den Lohnnachweis erbracht. Dem Unternehmer ist es jedoch nicht verwehrt, den Ansatz des Entgeltes mit der Begründung anzugreifen, der von ihm selbst rechtzeitig eingereichte und der Beitragsabrechnung zugrunde gelegte Lohnnachweis entspreche nicht den Tatsachen, er habe sich zu seinen Ungunsten geirrt (vgl. RVO-Mitgl.Komm., aaO, § 758 Anm. 3; Moesle/Rabeling, aaO, § 758 Anm. 5; Schraeder/Strich aaO, § 758 Anm. 5; Schulte-Holthausen, aaO, § 758 Anm. 5). Ähnlich ist die Rechtslage, wenn der Unternehmer überhaupt keinen Lohnnachweis erbracht hat und deshalb ein den tatsächlichen Gegebenheiten nicht entsprechender Beitragsbescheid ergangen ist. Der Sinn dieser Vorschrift besteht vornehmlich darin, daß die Berufsgenossenschaft bei Säumnis des Unternehmers überhaupt selbst den Lohnnachweis aufstellen darf, was auch für die Fälle von Bedeutung ist, in deren der Unternehmer keine ausreichenden Unterlagen besitzt.

Ebenso rechtfertigt der Hinweis der Revision auf die große Zahl der säumigen Mitglieder und die dadurch bedingte verwaltungsmäßige „außerordentliche Mehrbelastung” keine andere rechtliche Beurteilung. Es kann hier dahinstehen, ob dies in dem behaupteten Umfang zutrifft. Es war jedenfalls nicht allein Zweck des § 752 RVO aF, die Unternehmer zu einer fristgerechten Abgabe der Lohnnachweise anzuhalten. Hierfür war eine Ordnungsstrafe nach § 909 Nr. 3 RVO aF (nunmehr § 773 RVO) das im Gesetz vorgesehene und geeignete Mittel.

Die vom erkennenden Senat vertretene Ansicht führt schließlich nicht zu untragbaren Ergebnissen. Schon den §§ 758, 760, 761 RVO aF ist zu entnehmen, daß der Gesetzgeber mit nachträglichen Änderungen der Beitragshöhe gerechnet hat. Diese Änderungen sind nicht nur, wie die Revision meint, dann geboten, wenn der unrichtige Ansatz des Entgeltes oder der Gefahrklasse auf einem Irrtum der Berufsgenossenschaft beruht. Die Rechtswidrigkeit eines Beitragsbescheides richtet sich nicht danach, ob ihm die Berufsgenossenschaft schuldlos oder schuldhaft einen unrichtigen Lohnnachweis zugrunde gelegt hat.

Die Beklagte ist durch das Urteil des LSG jedoch beschwert, soweit das Berufungsgericht sie verurteilt hat, „einen den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Beitragsbescheid zu erteilen.”

Da § 752 RVO aF der Berufsgenossenschaft keinen Ermessensspielraum einräumt und der durch die Berufsgenossenschaft aufgestellte Lohnnachweis deshalb von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit in den Tatsacheninstanzen in vollem Umfang nachprüfbar ist, hat das Berufungsgericht selbst auch über die Beitragshöhe zu entscheiden, wenn sie – wie hier – umstritten ist. Eine Verurteilung, „einen den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Beitragsbescheid zu erteilen”, spricht im Ergebnis eine rechtlich unzulässige Zurückverweisung (vgl. BSG 7, 126, 128; 9, 285, 288; Brackmann, aaO, Seite 248 d) an die Berufsgenossenschaft aus.

Für eine abschließende Entscheidung des erkennenden Senats fehlen die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen darüber, welche Zahlen in den Lohnnachweis für das Jahr 1957 einzusetzen sind. Das Berufungsgericht hat lediglich die Angaben der Klägerin in ihrem nachgereichten Lohnnachweis wiedergegeben, ohne darzulegen, ob es diesen Lohnnachweis für richtig erachtet oder nicht. Es ist insbesondere nicht auf die von der Beklagten in ihrem Schriftsatz vom 3.3.1959 geltend gemachten Zweifel an der Richtigkeit des Lohnnachweises eingegangen.

Die Streitsache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Diesem obliegt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens.

 

Fundstellen

BSGE, 271

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