Leitsatz (amtlich)

1. Die Rücknahmevorschriften, die im Recht der sozialen Entschädigung bei fehlerhafter Kausalitätsbeurteilung zu beachten sind, regeln die Rücknahme auch mit Wirkung für die Zukunft und schließen § 45 und § 48 Abs 3 SGB 10 aus.

2. Die Verwaltung darf einen Verwaltungsakt nicht schon dann zum Zwecke der Aussparung von Leistungserhöhungen für rechtswidrig erklären, wenn sie ihn nach dem jetzigen Erkenntnisstand nicht erlassen hätte; der Verwaltungsakt muß erwiesenermaßen rechtswidrig sein.

 

Normenkette

SGB 10 § 45 Abs 1, § 48 Abs 3; SVG § 81 Abs 5 S 3; SVG § 81 Abs 5 S 1

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 04.11.1986; Aktenzeichen L 15 V 68/85)

SG Bayreuth (Entscheidung vom 30.01.1985; Aktenzeichen S 7 V 140/84)

 

Tatbestand

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob die Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge schon dann rechtswidrig ist, wenn der ursächliche Zusammenhang zwischen Schädigung und Gesundheitsstörung entgegen der ursprünglichen Annahme der Verwaltung nicht als wahrscheinlich, sondern nur als möglich zu beurteilen ist. Die Beteiligten streiten hier darum, ob die Bewilligung der Versorgungsrente wegen degenerativer Veränderungen in den Sprunggelenken beiderseits nach Kapselriß rechts und Innenknöchelbruch links (Bescheide vom 13. Dezember 1977, 7./8. Januar 1980) rechtswidrig ist. Nachdem beim Kläger eine nicht als Wehrdienstbeschädigung anerkannte Polyarthritis rheumatica festgestellt worden war, führte der Beklagte auch die Veränderungen in den Sprunggelenken nicht mehr auf Unfälle, sondern auf diese Erkrankung zurück. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 17. Februar 1984 wurde die Rechtswidrigkeit der Anerkennungsbescheide festgestellt und für die Zukunft die Aussparung der Versorgungsrente nach § 48 Abs 3 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) angekündigt.

Das Landessozialgericht (LSG) hat diesen Bescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt, die Rechtswidrigkeit iS von § 48 SGB 10 richte sich nach der Spezialvorschrift des § 81 Abs 5 Satz 3 des Soldatenversorgungsgesetzes (SVG), wonach unzweifelhaft feststehen müsse, daß die ursprüngliche Anerkennung rechtswidrig sei. Hieran fehle es nach den eigenen Feststellungen des Beklagten und den versorgungsärztlichen Stellungnahmen; eine Mitursächlichkeit des Außendienstes und der Sportunfälle an der Wehrdienstbeschädigung sei zwar nicht wahrscheinlich, könne aber nicht ausgeschlossen werden.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision gesteht der Beklagte zwar zu, daß die zweifelsfreie Unrichtigkeit der Bewilligungsbescheide nicht nachgewiesen werden könne. Das hindere aber nur, die Bescheide für die Vergangenheit zurückzunehmen. Für die zukünftige Aussparung von Leistungserhöhungen nach § 48 Abs 3 SGB 10 genüge die einfache Unwahrscheinlichkeit ebenso wie zur Anerkennung einer Gesundheitsschädigung als Folge einer Wehrdienstbeschädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs gemäß § 81 Abs 5 Satz 1 SVG genüge.

Der Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß der Beklagte die Anerkennung der degenerativen Veränderungen in den Sprunggelenken als Folge einer Wehrdienstbeschädigung weder zurücknehmen noch daß er die Rechtswidrigkeit dieser Anerkennungsentscheidung mit der Folge einer Aussparung von zukünftigen Rentenerhöhungen feststellen darf.

Der Beklagte hat seine Entscheidung auf § 48 Abs 3 SGB 10 gestützt. Diese Vorschrift setzt voraus, daß ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 nicht zurückgenommen werden kann. § 45 SGB 10 muß also anwendbar sein, die Rücknahme jedoch daran scheitern, daß die dort neben der Rechtswidrigkeit geforderten Voraussetzungen nicht vorliegen. Ein aus diesen Gründen nicht rücknehmbarer rechtswidriger Verwaltungsakt darf aber nicht die Grundlage für an sich vorgeschriebene Leistungserhöhungen sein. Eine zu Unrecht bewilligte Leistung ist von zukünftigen Leistungserhöhungen auszusparen; das besagt § 48 Abs 3 SGB 10.

Die Meinung des Beklagten, auch im vorliegenden Fall stünden nur die Gründe des § 45 SGB 10 der Rücknahme entgegen, und deshalb dürfe nach § 48 Abs 3 SGB 10 ausgespart werden, trifft nicht zu. Für die Rücknahme gilt hier nämlich nicht § 45 SGB 10, sondern § 81 Abs 5 Satz 3 SVG. Dessen Voraussetzungen liegen hier nicht vor.

Das LSG hat für den Senat bindend festgestellt, daß zwar eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Unrichtigkeit der Kausalitätsbeurteilung in der Anerkennungsentscheidung spreche, jedoch die Möglichkeit eines durch den Wehrdienst verursachten Leidens nicht ausgeräumt werden könne. Eine Rücknahme der Bewilligungsbescheide scheitert demnach an § 81 Abs 5 Satz 3 SVG. Es wird hier allein um die Zusammenhangsfrage gestritten; dann ist die Rücknahme nur möglich, wenn "unzweifelhaft feststeht", daß die Gesundheitsstörung nicht die Folge einer Schädigung ist.

Der Beklagte geht selbst von diesen Feststellungen aus und räumt ein, daß die in § 81 Abs 5 Satz 3 SVG geregelte Rücknahme schon deshalb nicht möglich ist. Er meint aber, in § 81 Abs 5 Satz 3 SVG sei nur die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit geregelt, im übrigen richte sich die Rücknahme nach allgemeinen Vorschriften, also auch nach § 45 SGB 10. Der Rücknahme für die Zukunft stehe hier also nur die 2-Jahres-Frist des § 45 SGB 10 entgegen.

Dieser Auffassung folgt der Senat nicht. Auf § 45 SGB 10 kann nicht zurückgegriffen werden, wenn § 81 Abs 5 Satz 3 SVG anwendbar ist. Denn es handelt sich um eine Spezialregelung, die ebenso wie früher § 41 Abs 1 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung vom 6. Mai 1976 (BGBl I S 1169) und wie die gleichlautenden Vorschriften der anderen Rechtsgebiete der sozialen Entschädigung (§ 1 Abs 3 Satz 3 BVG, § 47 Abs 6 Satz 3 Zivildienstgesetz, § 52 Abs 2 Satz 4 Bundesseuchengesetz) die im Sozialrecht sonst zu beachtende Vorschrift des § 45 SGB 10 verdrängt (vgl BSG SozR 3100 § 1 Nrn 38 und 39; Urteil vom 13. Juli 1988, 9/9a RV 20/85, zur Veröffentlichung in SozR aaO Nr 41 vorgesehen) und nur dann dazu ermächtigt, Bescheide über die Anerkennung von Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen überhaupt - also für Vergangenheit und Zukunft - aufzuheben oder sich auf ihre Rechtswidrigkeit zu berufen, wenn sie zweifelsfrei fehlerhaft sind.

Die Gründe hierfür hat das LSG zutreffend dargestellt: Wenn Fehler in der Beurteilung der medizinischen Kausalität nur im Rahmen des § 81 SVG korrigiert werden können, setzt die Norm zugleich der Feststellung der Rechtswidrigkeit des entsprechenden Verwaltungsaktes Grenzen. Denn ob ein Verwaltungsakt rechtswidrig ist, beurteilt sich nicht danach, ob seine Aufhebung als Folge der Rechtswidrigkeit mit oder ohne Rückwirkung ausgesprochen wird. Nur der Umfang der Aufhebung richtet sich nach einer Abwägung von Rechtssicherheit und materieller Richtigkeit sowie einem abgestuften Vertrauensschutz, der nicht an die Rechtswidrigkeit, sondern an sonstige Sachverhaltsmerkmale anknüpft. In § 45 SGB 10 wird dieser Abwägung über Fristen, unterschiedliche Verschuldensanforderungen und die Differenzierung nach Verwaltungsakten mit oder ohne Dauerwirkung ein Rahmen vorgegeben. Im sozialen Entschädigungsrecht wird das Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaatlichkeit und Vertrauensschutz auf andere Weise gelöst: rückwirkende Aufhebungen sind zwar grundsätzlich möglich, die Rückforderung erbrachter Leistungen wird jedoch ausgeschlossen. Aus diesen unterschiedlichen gesetzlichen Folgen der Aufhebung von Verwaltungsakten kann nicht auf die vorrangig zu beurteilende Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts geschlossen werden. Wenn ein Verwaltungsakt im Versorgungsrecht nicht schon dann aufgehoben werden darf, wenn der zuvor bejahte Kausalzusammenhang sich als unwahrscheinlich erweist, sondern erst dann, wenn eine gesteigerte Beweisanforderung erfüllt ist, er nämlich unzweifelhaft unrichtig ist, kann der begünstigende Verwaltungsakt erst dann als rechtswidrig bezeichnet werden, wenn nach diesem Maßstab ein Fehler festzustellen ist. Es darf kein vernünftiger, in den Umständen des Einzelfalles begründeter Zweifel zu Gunsten des aus dem Verwaltungsakt Berechtigten mehr bleiben (BSGE 6, 113; 16, 253). Andernfalls würde, wie das LSG zu Recht ausgeführt hat, die als Privilegierung des Versorgungsberechtigten gedachte Beweiserleichterung sich zu seinen Lasten auswirken.

Gegen einen unterschiedlichen Grad der Gewißheit für die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit und mit Wirkung für die Zukunft spricht auch die erkennbare Absicht des Gesetzes, den Grundgedanken der bewährten Regelung des § 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes für die Kriegsopferversorgung in das neue Recht zu übernehmen. Auch diese Vorschrift kannte den Unterschied, den der Beklagte sieht, nicht.

Sogar wenn man der Auffassung des Beklagten folgen und annehmen wollte, § 81 Abs 5 Satz 3 SVG regele nur die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit unabhängig von § 45 SGB 10, wäre die umstrittene Aussparung nach § 48 Abs 3 SGB 10 nicht vertretbar. Auch dann könnte nicht festgestellt werden, der die Gesundheitsstörung anerkennende Verwaltungsakt sei rechtswidrig.

Die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes ist nicht immer schon dann statthaft, wenn ein bewilligender Verwaltungsakt nicht ergehen würde. Es handelt sich nämlich nicht um die erstmalige Entscheidung über eine Leistung, die zu bewilligen ist, wenn der ursächliche Zusammenhang wahrscheinlich, und die zu versagen ist, wenn der ursächliche Zusammenhang nicht wahrscheinlich ist. Der Verwaltungsakt, der in den meisten Fällen zudem nicht aufdeckt, ob er auf Wahrscheinlichkeitsüberlegungen oder Gewißheit beruht, gestaltet die Rechtslage. Zu seiner Rücknahme bedarf es der Feststellung der Rechtswidrigkeit, die nicht schon dann gegeben ist, wenn im Aufhebungszeitpunkt die Leistung nicht bewilligt würde. Es muß sich vielmehr erweisen (vgl zB BVerwG Buchholz 427.3 § 335a LAG Nr 64, insbesondere S 44), daß der bereits ergangene Verwaltungsakt rechtswidrig ist. Man darf sich nicht mit der Feststellung begnügen, daß er wahrscheinlich rechtswidrig ist, wenn die Möglichkeit besteht, daß er doch rechtmäßig ist. Aufgehoben werden kann nur, wenn unter Hinzuziehung aller Erkenntnismöglichkeiten die Überzeugung besteht, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig ist. Letztlich darf also kein vernünftiger Zweifel an der Rechtswidrigkeit bestehen. Besondere Beweiserleichterungen sind insoweit nicht vorgesehen. Das gilt unabhängig davon, ob die Beweisanforderungen, die zum Erlaß des Verwaltungsaktes geführt haben, andere waren, ob also Glaubhaftmachung genügte, ob innerhalb eines Spielraums Ermessen ausgeübt worden ist, oder ob die Kausalität nur wahrscheinlich sein muß (wie zB auch im Unfallversicherungsrecht; vgl BSG SozR 2200 § 548 Nr 38; § 551 Nr 1; BSGE 32, 202, 209). Auch für die Unfallversicherung verdeutlicht das Gesetz punktuell, daß nicht jede abweichende Kausalitätsbeurteilung, sondern nur die offenkundig falsche dazu berechtigt, den kraft Rechtsvermutung bejahten Zusammenhang zwischen einer Berufskrankheit und dem Tod abzuändern (vgl § 589 Abs 2 Satz 2 RVO).

Wenn im Versorgungsrecht ein Verwaltungsakt nach dem Wortlaut des Gesetzes erst dann als rechtswidrig aufgehoben werden kann, wenn unzweifelhaft feststeht, daß die anerkannte Gesundheitsstörung nicht Folge einer Schädigung ist, so wird hiermit nur ausdrücklich ausgesprochen, was auch nach allgemeinem Verwaltungsverfahrensrecht zu fordern ist, bevor ein Verwaltungsakt nach § 45 SGB 10 zurückgenommen werden kann. Der aufzuhebende Verwaltungsakt muß erwiesenermaßen rechtswidrig sein (so auch zu § 48 Verwaltungsverfahrensgesetz: Kopp, VwVfG 4. Aufl § 48 RdNr 105, Stelkens/Bonk/Leonhardt, VwVfG, 2. Aufl § 48 RdNr 9b jeweils mwN).

Auch wenn die Rechtslage auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeitsbeurteilungen durch einen Verwaltungsakt geregelt wurde, ist dieser nicht "wahrscheinlich rechtmäßig", sondern rechtmäßig oder rechtswidrig wie jeder andere Verwaltungsakt auch. Er kann nicht aufgehoben werden, wenn er wahrscheinlich unrichtig ist, sondern wenn er nach allgemeinen Beweisregeln rechtswidrig ist. Erst wenn diese Überzeugung gewonnen werden kann, darf er nach § 45 SGB 10 aufgehoben werden oder - wenn dies an den dort normierten Fristen und Verschuldensanforderungen scheitern sollte - darf die auf ihm beruhende Leistung von weiteren Erhöhungen ausgespart werden. Der Rechtsstreit wäre nicht anders zu entscheiden, wenn in § 81 Abs 5 Satz 3 SVG nicht durch eine Spezialregelung diese Rechtslage ausdrücklich klargestellt wäre.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 190

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