Leitsatz (amtlich)

Die Voraussetzung für das vorzeitige Altersruhegeld nach AVG § 25 Abs 2, daß der Versicherte seit mindestens einem Jahr ununterbrochen arbeitslos ist, entfällt nicht deshalb, weil er im Laufe des Jahreszeitraums während einer verhältnismäßig geringfügigen Zeit (hier: 7 Wochen) infolge Krankheit arbeitsunfähig war.

Die mit dem Jahresablauf eingetretene gesetzliche Vermutung, der Versicherte könne wegen seines Alters nicht mehr in Arbeit vermittelt werden, wird auch nicht dadurch entkräftet, daß er über das Jahresende hinaus noch mehrere Monate lang krank und arbeitsunfähig gewesen ist.

 

Normenkette

AVG § 25 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1248 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. April 1962 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger begehrt vorzeitiges Altersruhegeld nach § 25 Abs. 2 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG). Die Beteiligten streiten darüber, ob die Voraussetzung der einjährigen ununterbrochenen Arbeitslosigkeit erfüllt ist, obwohl der Kläger im Laufe des Jahres krank und arbeitsunfähig geworden ist.

Der im April 1896 geborene Kläger meldete sich am 1. Juli 1957 beim Arbeitsamt arbeitslos; von da an bis zum 6. Mai 1958 (10 Monate und eine Woche) unterzog er sich regelmäßig der Meldekontrolle. Vom 7. Mai 1958 bis 15. Februar 1959 (9 Monate und eine Woche) war er arbeitsunfähig krank. Anschließend meldete er sich wieder arbeitslos und wiederholte seine regelmäßigen Meldungen beim Arbeitsamt bis zum 18. Februar 1960 (ein Jahr).

Der Kläger beantragte im Juni 1958 vorzeitiges Altersruhegeld. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 20. März 1959 ab. Die Klage hatte Erfolg. Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Beklagte zur Zahlung von Rente vom 1. Juli 1958 an. Die Berufung der Beklagten wurde zurückgewiesen. Während des Berufungsverfahrens bewilligte sie die Rente vom 1. Februar 1960 an. Der Rechtsstreit beschränkte sich nunmehr darauf, ob dem Kläger Rente auch für die Zeit vom 1. Juli 1958 bis 31. Januar 1960 zusteht. Das Landessozialgericht (LSG) hielt den Anspruch auch insoweit für begründet (Urteil vom 6. April 1962).

Nach der Auffassung des LSG wird die Arbeitslosigkeit durch eine akute Erkrankung nicht unterbrochen. Der Begriff der Arbeitslosigkeit sei (nach feststehender Rechtsprechung) dem Recht der Arbeitslosenversicherung zu entnehmen. Die dort in § 75 Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) vorgeschriebenen Begriffsmerkmale Beschäftigungslosigkeit und Arbeitnehmereigenschaft seien beim Kläger gegeben. Er habe trotz seiner Erkrankung der Arbeitsvermittlung im Sinne des § 76 AVAVG zur Verfügung gestanden; denn er sei auch während seiner Erkrankung ernstlich arbeitsbereit gewesen. Aus den §§ 77, 87 Abs. 5 und 146 AVAVG, in denen das Zusammentreffen von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung und Krankengeld- bzw. Erwerbsunfähigkeitsrente geregelt ist, sei zu entnehmen, daß eine Erkrankung des Arbeitslosen an seiner Eigenschaft als Arbeitsloser nichts ändere. Allerdings müsse er dann während des verlangten Jahreszeitraumes dem Arbeitsmarkt tatsächlich zur Verfügung gestanden haben und jedenfalls bei Beginn der Arbeitslosigkeit arbeitsfähig gewesen sein. Krankheitszeiten nach Ablauf des Jahreszeitraumes seien ohne Bedeutung. Die Rente habe den Charakter eines Altersruhegeldes und könne deshalb nicht allgemein wegen Wegfalls der Voraussetzungen entzogen werden, sondern nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes nur bei Aufnahme einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit.

Mit der - zugelassenen - Revision beantragt die Beklagte,

unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile die Klage abzuweisen.

Sie rügt fehlerhafte Anwendung des § 25 Abs. 2 AVG. Nach ihrer Ansicht liegt keine Arbeitslosigkeit vor, wenn der Versicherte nicht nur vorübergehend erkrankt, weil es dann an der nach § 76 AVAVG erforderlichen objektiven Verfügbarkeit fehle. Für die Gewährung der Rente sei auch erforderlich, daß der Versicherte weiterhin arbeitslos sei; der Kläger aber habe auch nach dem 1. Juli 1958 bis zum 15. Februar 1959 dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung gestanden.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Der Kläger hat schon für die Zeit vom 1. Juli 1958 an Anspruch auf vorzeitiges Altersruhegeld.

Nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AVG erhält der Versicherte, der das 60. Lebensjahr vollendet, die Wartezeit von 180 Monaten erfüllt hat und seit mindestens einem Jahr ununterbrochen arbeitslos ist, auf Antrag Altersruhegeld für die weitere Dauer der Arbeitslosigkeit. Im Fall des Klägers ist die Entscheidung über den Anspruch allein davon abhängig, ob er am 1. Juli 1958 seit mindestens einem Jahr ununterbrochen arbeitslos gewesen ist. Das setzt nach der Auslegung, die das Gesetz in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bisher gefunden hat, voraus, daß er in dem hiernach maßgeblichen Jahreszeitraum im Sinne der §§ 75, 76 AVAVG als Arbeitnehmer anzusehen, vermittlungsfähig und ernstlich bereit gewesen ist, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben (BSG 14, 53; 15, 131; 18, 287; 20, 190). Dabei ist jedoch auch den Besonderheiten des Rechts der Rentenversicherung Rechnung zu tragen. Wenn § 75 Abs. 1 AVAVG darauf abstellt, daß der Arbeitslose "vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht", so ist diese Vorschrift im Rahmen des § 25 Abs. 2 AVG nicht uneingeschränkt anwendbar, weil es sich bei der hier (§ 25 Abs. 2 AVG) vorausgesetzten Arbeitslosigkeit gerade nicht um das nur vorübergehende Fehlen eines Beschäftigungsverhältnisses handelt; denn auch wenn bei einem (nicht berufsunfähigen) Versicherten schon bei Beginn des maßgeblichen Jahreszeitraumes feststeht, daß er nie mehr beschäftigt werden wird, ist er im Sinne von § 25 Abs. 2 Satz 1 AVG arbeitslos. Das vorzeitige Altersruhegeld nach dieser Vorschrift soll denjenigen über 60 Jahre alten Versicherten zugute kommen, die auf unabsehbare Zeit aus dem Arbeitsleben ausgeschieden sind, obwohl sie arbeitsfähig und arbeitswillig sind und dies durch einjährige vergebliche Bemühungen um eine Arbeitsstelle bewiesen haben. Das Gesetz vermutet bei ihnen, daß sie wegen ihres Alters nicht mehr vermittelt werden können. Die Voraussetzungen für das vorzeitige Altersruhegeld sind jedoch nicht gegeben, wenn die Arbeitsvermittlung in dem Jahreszeitraum wegen Arbeitsunfähigkeit nicht möglich ist. Für diesen Fall wird vielmehr im allgemeinen Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit in Betracht kommen.

Eine auf Krankheit beruhende Arbeitsunfähigkeit des Versicherten während des Jahreszeitraumes, auf den es das Gesetz abstellt, hat demnach zur Folge, daß der Versicherte nicht seit mindestens einem Jahr "ununterbrochen" arbeitslos gewesen ist. Wie bereits der 11. Senat des BSG entschieden hat (vgl. BSG 20, 190; 21, 24), ist jedoch eine durch Krankheit bedingte nur "geringfügige" Unterbrechung der Arbeitslosigkeit unschädlich. Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung nach eigener Prüfung der Rechtslage an; denn Krankheitszeiten von kurzer Dauer beeinträchtigen den Nachweis der Unvermittelbarkeit nicht mehr als Aushilfstätigkeiten im Sinne von § 25 Abs. 2 Satz 4 AVG. Der Senat konnte - ebenso wie der 11. Senat in dem genannten Urteil vom 16. April 1964 (BSG 21, 24) - offen lassen, welche zeitliche Begrenzung dem Begriff "geringfügig" beizumessen ist. Beim Kläger betrug die in den Jahreszeitraum fallende Krankheitszeit rund 7 Wochen; sie macht also noch nicht einmal ein Sechstel der notwendigen Gesamtzeit von 12 Monaten aus. Hiernach bestehen keine Bedenken, die Zeit der Erkrankung des Klägers als verhältnismäßig geringfügig außer Betracht zu lassen, zumal sie von seinem Willen unabhängig war und der Vermutung, daß er wegen seines Alters nicht mehr vermittlungsfähig sei, nicht entgegensteht. Er gehörte somit zum Kreis der durch § 25 Abs. 2 Satz 1 AVG begünstigten Arbeitslosen.

Der Rentenanspruch entfiel - entgegen der Meinung der Beklagten - auch nicht deshalb, weil nach dem Wortlaut von § 25 Abs. 2 Satz 1 AVG das vorzeitige Altersruhegeld "für die weitere Dauer der Arbeitslosigkeit" gewährt wird, der Kläger aber über das Ende des Jahreszeitraums hinaus noch mehrere Monate lang, nämlich bis zum 15. Februar 1959, arbeitsunfähig krank war. Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, kommt den Worten "für die weitere Dauer der Arbeitslosigkeit" eine rechtliche Bedeutung allein im Zusammenhang mit den im Gesetz ausdrücklich aufgeführten Gründen für den Wegfall des vorzeitigen Altersruhegeldes zu, nämlich dann, wenn der Berechtigte in eine "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" eintritt. Nur in diesem Fall kann der (einmal entstandene) Rentenanspruch nicht verwirklicht werden, falls die Beschäftigung oder Tätigkeit über eine gelegentliche Aushilfe hinausgeht (§ 25 Abs. 2 Satz 4 AVG). Der Umstand, daß der Kläger auch noch über das Ende des Jahreszeitraums hinaus krank war, kann - ohne daß es auf die tatsächliche Dauer dieser Erkrankung ankäme - auch deshalb außer Betracht bleiben, weil dadurch die Vermutung, daß er wegen seines Alters nicht mehr vermittlungsfähig sei, nicht widerlegt ist.

Der Kläger ist somit am 1. Juli 1958 seit mindestens einem Jahr ununterbrochen arbeitslos im Sinn von § 25 Abs. 2 Satz 1 AVG gewesen und erfüllt deshalb schon von diesem Zeitpunkt an die Voraussetzungen zur Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes. Die Revision der Beklagten muß daher zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 290

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