Leitsatz (amtlich)

Hat ein Versicherter während mindestens 10 Jahren für eine versicherungspflichtige Beschäftigung Sachbezüge neben Barbezügen erhalten, so wird die umgestellte Rente gleichwohl nicht nach ArVNG Art 2 § 55 Abs 1 um 10 vom Hundert erhöht, wenn die für die Beschäftigung entrichteten Beiträge oder einzelne von ihnen der höchsten Beitragsklasse zugehören und die niedrigeren Beiträge nicht volle 10 Jahre ausfüllen.

 

Normenkette

ArVNG Art. 2 § 55 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. März 1968 und das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 18. August 1967 werden aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der im Jahre 1966 gestorbene Ehemann und Rechtsvorgänger der jetzigen Klägerin (§ 1288 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) war von 1909 bis 1923 - abgesehen von Jahren des Kriegsdienstes - gegen Barlohn sowie Kost und Wohnung versicherungspflichtig beschäftigt. Während dieser Zeit wurden für ihn 521 Wochenbeiträge zur Invalidenversicherung entrichtet; sie setzen sich wie folgt zusammen:

 376 Beiträge der Klasse III

 50 Beiträge der Klasse IV

 20 Beiträge der Klasse V (seinerzeit höchste Beitragsklasse)

 75 Inflationsbeiträge.

Sonstige Versicherungszeiten mit freiem Unterhalt oder Sachbezügen neben Barbezügen hatte der Versicherte nicht zu verzeichnen. Vom 1. November 1955 an bezog er von der beklagten Landesversicherungsanstalt Invalidenrente; sie wurde umgestellt und vom 1. April 1957 an in das Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres umgewandelt (Art. 2 §§ 32, 38 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG -).

Nach dem Inkrafttreten des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 prüfte die Beklagte, ob das Altersruhegeld auf Grund des Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG nF - wegen zehnjährigen Bezugs von freiem Unterhalt neben Barbezügen - um 10 v.H. zu erhöhen sei. Sie sah die gesetzlichen Voraussetzungen nicht als erfüllt an und erteilte dem Versicherten hierüber am 18. November 1965 einen ablehnenden Bescheid.

Auf die hiergegen erhobene Klage hin hat das Sozialgericht (SG) Würzburg die Beklagte am 18. August 1967 verurteilt, die Rente nach Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG zu erhöhen. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 20. März 1968 zurückgewiesen mit folgender Begründung: Der in Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG geforderte Zehnjahreszeitraum einer versicherungspflichtigen Beschäftigung mit gleichzeitigen Bar- und Sachbezügen sei mit der Beitragszeit von 521 Wochen erfüllt. Der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes stehe nicht entgegen, daß 20 Wochenbeiträge in der höchsten, also nicht mehr erhöhungsbedürftigen Beitragsklasse entrichtet worden seien. Diese Beiträge hätten allerdings für eine Aufwertung auszuscheiden. Das ergebe sich aus dem Zweck der Vorschrift, einen Ausgleich dafür zu schaffen, daß die zum Arbeitsentgelt gehörenden Sachbezüge vielfach unter ihrem wahren wirtschaftlichen Wert angesetzt worden seien, was bei der ausschließlich auf dem Entgelt beruhenden neuen Rentenberechnung zu unterdurchschnittlich niedrigen Rentenleistungen führe. Dieser Zweck sei im vorliegenden Falle nicht erreichbar, wenn die zur höchsten Beitragsklasse entrichteten Beiträge - wie die Beklagte meine - für die Erfüllung der geforderten zehn Jahre nicht berücksichtigt werden dürften; denn dann werde der Versicherte, obwohl die Sachbezüge nahezu volle zehn Jahre unterbewertet worden seien, schon wegen einiger weniger in der Klasse V entrichteter Beiträge um die Rechtswohltat des Gesetzes gebracht. Das könne nicht die Absicht des Gesetzgebers gewesen sein. Es sei, wie es das SG mit Recht getan habe, zwischen der Verwirklichung des Tatbestandes und den sich daraus ergebenden Rechtsfolgen zu unterscheiden. Der Ehemann der Klägerin habe den Tatbestand des Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG erfüllt; es könnten lediglich die mit Höchstbeiträgen belegten Zeiten nicht mehr zur Verbesserung der Rentenbemessungsgrundlage dienen. Gegenteiliges sei dem von der Beklagten angeführten Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 30. November 1965 (SozR Nr. 6 zu Art. 2 § 55 ArVNG) nicht zu entnehmen.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat das Rechtsmittel eingelegt. Zur Begründung führt sie aus: Das LSG habe Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG idF des RVÄndG verletzt. Der Wortlaut des Gesetzes scheine allerdings dem LSG Recht zu geben; ihm stehe aber die - auf einen Ausgleich für die Unterbewertung von Sachbezügen gerichtete - Zweckbestimmung der Vorschrift entgegen. Nicht vertretbar sei die Auffassung des Berufungsgerichts, daß der Zweck des Gesetzes nicht erreicht werden könnte, wenn die zur höchsten Beitragsklasse entrichteten Beiträge für die Ausfüllung des Zehnjahreszeitraumes unberücksichtigt bleiben müßten, weil dann ein Versicherter, dessen Sachbezüge nahezu volle zehn Jahre unterbewertet worden seien, schon wegen weniger in der Klasse V entrichteter Beiträge um diese Rechtswohltat gebracht würde. Dies sei eine reine Billigkeitserwägung, die bei konsequenter Anwendung zu einem offensichtlichen Gesetzesverstoß führe; denn dann müßte beispielsweise auch einem Versicherten, der nur für 501 Beitragswochen Sachbezüge nachweisen könne, die Rechtswohltat des Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG zugute kommen, da auch diesem Versicherten die Sachbezüge nahezu zehn Jahre unterbewertet worden seien. Was der Ehemann der Klägerin als Härte empfunden habe, sei eine vom Gesetzgeber bewußt in Kauf genommene Folge der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestandes. Ein Ausgleich für die Unterbewertung von freiem Unterhalt und Sachbezügen habe nur bei besonders krassem Zutagetreten - für eine Zeit von zehn Jahren - gewährt werden sollen.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin ist in der Revisionsinstanz nicht durch einen beim BSG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision ist zulässig und begründet.

Nach der für die Entscheidung maßgebenden Neufassung des Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG durch das RVÄndG - diese Fassung gilt auch für Versicherungsfälle vor dem 1. Juli 1965 (Art. 5 § 4 Abs. 1 RVÄndG) - ist eine nach Art. 2 §§ 32 und 33 ArVNG umgestellte sogenannte Altrente um 10 v.H. zu erhöhen, wenn der Versicherte während mindestens zehn Jahren für eine versicherungspflichtige Beschäftigung neben Barbezügen als Sach- oder Dienstleistungen freien Unterhalt (Kost) oder entsprechend Sachbezüge erhalten hat. Diese dem Wortlaut des Gesetzes zu entnehmenden Voraussetzungen hat der Ehemann der Klägerin insofern erfüllt, als er mindestens zehn Jahre, nämlich 521 Wochen lang gegen die beiden angeführten Arten von Bezügen versicherungspflichtig beschäftigt war. Gleichwohl hat die Beklagte mit Recht eine Erhöhung der Rente abgelehnt, weil ein Teil der während der zehn Jahre für den Versicherten entrichteten Beiträge - für 20 Wochen - der seinerzeit höchsten Beitragsklasse zugehören und die niedrigeren Beiträge nicht volle zehn Jahre ausfüllen. Art. 2 § 55 will, wie das BSG wiederholt betont (SozR Nrn. 5 und 6 zu Art. 2 § 55 ArVNG) und auch das LSG nicht verkannt hat, einen gewissen Ausgleich dafür schaffen, daß vor der Rentenreform von 1957 Sachbezüge unterbewertet worden sind und die dadurch verursachte Unterversicherung sowohl bei der Umstellung der Altrenten als auch bei der Berechnung der Renten aus Versicherungsfällen nach 1956 zu unangemessen niedrigen Leistungen geführt hätte. Der so gekennzeichnete Zweck der gesetzlichen Regelung ist nicht als bloßer, im Gesetz nicht zum Ausdruck gekommener Beweggrund zu verstehen, vielmehr bedeutet er bei sinngemäßer und dem Zusammenhang der in Rede stehenden Übergangsvorschrift angepaßter Auslegung eine Einschränkung des sich aus dem Wortlaut scheinbar ergebenden Tatbestandes. Wenn für einen Versicherten bei gleichzeitiger Bar- und Naturalentlohnung stets die höchsten Beiträge entrichtet worden sind, so liegt es auf der Hand, daß es jeglicher Berechtigung und jeglichen Sinnes entbehren würde, die umgestellte Rente um 10 v.H. zu erhöhen; denn ein Versicherter, dem ohnehin die höchsten Beiträge gutgebracht worden sind, wäre auch bei richtiger Bewertung seiner Sachbezüge nicht zu einer höheren Rente gelangt. Die Voraussetzungen für eine Erhöhung der Rente nach Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG sind aber auch dann nicht erfüllt, wenn zwar die gleichzeitigen Bar- und Naturalleistungen, nicht aber die unter der Höchstklasse liegenden Beiträge volle zehn Jahre ausfüllen. Dies ist der Art der getroffenen Regelung und dem Ausmaß der vorgesehenen Rechtswohltat zu entnehmen. Wenn das LSG meint, in dem zu entscheidenden Falle hätten die 20 Wochenbeiträge der höchsten, also nicht mehr erhöhungsbedürftigen und erhöhungsfähigen Beitragsklasse allerdings "für eine Aufwertung auszuscheiden", sie ständen aber der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes nicht entgegen, so verkennt es, daß der Gesetzgeber des Jahres 1957 hinsichtlich der Aufbesserung der unangemessen niedrigen Altrenten bewußt von einer individuellen Erhöhung der Beiträge abgesehen hat, um die Rentenversicherungsträger nicht mit einer kaum zu bewältigenden Verwaltungsarbeit zu überfordern, und deshalb zu einer generellen - pauschalen - Erhöhung jener Renten geschritten ist (vgl. BSG SozR Nr. 5, Bl. Aa 4, zu Art. 2 § 55 ArVNG; Hartmann in Mitteilungen der LVA Württemberg 1966, 34). Die Erhöhung der umgestellten Rente um 10 v.H. bezieht sich nicht etwa nur auf den Teil der Rente, welcher der Zeitdauer der gleichzeitigen Bar- und Naturalentlohnung oder gar nur der in dieser Zeit unter der höchsten Beitragsklasse liegenden Beitragsleistung entspricht, sondern auf die Gesamtrente. Dies hat zur Folge, daß die frühere Unterbewertung der Sachbezüge nur im Grenzfalle mit 10 v.H., in der Regel aber - je nach Gestaltung des Versicherungsverhältnisses - um ein Mehrfaches dieses Vomhundertsatzes aufgebessert wird. Die durch Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG geschaffene, pauschal umschriebene Rechtswohltat ist also in ihrer Auswirkung so bedeutsam, daß verständlicherweise nicht jedwede geringfügige Unterbewertung von Sachbezügen, sondern nur eine solche von einem erheblichen zeitlichen Ausmaß - nach dem Willen des Gesetzes von zehn Jahren - geeignet ist, sie auszulösen.

Hiernach ist die Rechtsfolge der Rentenerhöhung nach Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG nicht nur an die Voraussetzung geknüpft, daß der gleichzeitige Bezug von Lohn- und Sachwerten sich über zehn Jahre erstreckt, vielmehr muß es sich auch für die gesamten zehn Jahre um Beitragszeiten handeln, die nicht bereits mit Beiträgen der höchsten Klasse ausgefüllt sind. Diese letztere Voraussetzung hat der Ehemann der Klägerin nicht erfüllt. Daß der Anspruch auf Erhöhung an dem Fehlen von nur wenigen Monaten scheitert, muß auf das Ergebnis ohne Einfluß bleiben; es ist eine Folge der pauschalen Regelung. In einer vergleichbaren Lage befinden sich Versicherte, die nur neun Jahre und 11 Monate Sachwerte neben Lohn, im übrigen aber nur Lohn bezogen haben.

Nach alledem stand dem Versicherten und steht der Klägerin kein Anspruch auf Erhöhung der Rente zu. Die auf einer abweichenden Rechtsauffassung beruhenden Urteile der Vorinstanzen müssen aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284857

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