Entscheidungsstichwort (Thema)

Unterbrechung des Betriebsweges durch Gaststättenbesuch. Fahren ohne Führerschein

 

Orientierungssatz

1. Die Unterbrechung des Betriebsweges zur Einnahme einer Mahlzeit ist beendet, wenn der Versicherte die Außentür des Gaststättengebäudes durchschreitet, um den Betriebsweg fortzusetzen, und nicht erst mit dem Erreichen des öffentlichen Verkehrsraumes.

2. Die Gefährlichkeit, ein Fahrzeug durch eine Person steuern zu lassen, die keinen Führerschein besitzt, schließt für sich allein schon objektiv nicht den ursächlichen Zusammenhang zwischen einer wesentlich betriebsbezogenen Fahrt und dem Unternehmen aus. Der Kausalzusammenhang ist ebenfalls nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Versicherte mit dem Überlassen des Steuers an seinen Arbeitskollegen verbotswidrig - dazu gehört auch der Verstoß gegen ein Gebot des Arbeitgebers - gehandelt hat (RVO § 548 Abs 3).

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 26.02.1976; Aktenzeichen L 7 (10) U 934/74)

SG Stuttgart (Entscheidung vom 30.04.1974; Aktenzeichen S 4 U 16/74)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. Februar 1976 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger wurde am 30. November 1972 bei einem Unfall am rechten Auge verletzt; das Auge mußte operativ entfernt werden.

Am Vormittag des Unfalltages war er zusammen mit seinen Arbeitskollegen S und H im Außendienst mit Vermessungsarbeiten im Bereich der Autobahneinfahrt E beschäftigt gewesen. Mittags sollte er S im Auftrag des Arbeitgebers mit dem Firmenwagen zu dessen Wohnung in M bringen. In M unterbrachen der Kläger, S und H die Fahrt gegen 13.00 Uhr und nahmen im Gasthof "W" das Mittagessen ein. Der Firmenwagen war während dieser Zeit im Hof der Gaststätte abgestellt. Nach dem Essen fuhr der Kläger den Wagen aus der Parklücke heraus und überließ dann H auf dessen Bitte das Steuer. H war einige Zeit zuvor der Führerschein entzogen worden. Er nahm auf Kosten des Arbeitgebers Fahrunterricht und hatte für den Nachmittag eine Fahrstunde vereinbart. H wollte nach seinen Angaben den Wagen, in dem sich auch der Kläger - auf dem Beifahrersitz - und S befanden, nur bis zur Hofausfahrt fahren und dort halten. Er rutschte mit dem Fuß vom Brems- auf das Gaspedal ab und prallte mit dem Wagen gegen die Hausecke. Dabei wurde der Kläger durch Splitter der Windschutzscheibe verletzt.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 20. November 1973 eine Entschädigung mit der Begründung ab, der Unfall habe sich nicht bei einer betrieblichen Tätigkeit, sondern bei Gelegenheit einer privaten Gefälligkeit ereignet.

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 30. April 1974 die Klage abgewiesen: Die durch Einnahme des Mittagessens eingetretene Unterbrechung des Betriebsweges sei vor dem Wiedererreichen des öffentlichen Verkehrsraumes noch nicht beendet gewesen. Außerdem sei der Kläger nicht bei einer betriebsbezogenen Tätigkeit verunglückt. Es liege nicht im Betriebsinteresse, den Firmenwagen einem Fahrer zu überlassen, der keinen Führerschein besitze. Eine ernsthafte Übungsmöglichkeit habe für H auf der kurzen Strecke im Hof der Gaststätte ohnehin nicht bestanden.

Das Landessozialgericht (LSG) hat antragsgemäß das Urteil des SG sowie den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte zur Entschädigungsleistung verurteilt (Urteil vom 26. Februar 1976). Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Kläger habe den Betriebsweg (§ 548 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) unterbrochen gehabt, solange er sich während der Mittagspause innerhalb der Gaststätte befunden habe. Mit dem Durchschreiten der Außentür des Gaststättengebäudes habe der Betriebsweg jedoch wieder begonnen. Der Kläger habe zwar objektiv vernunftswidrig gehandelt, indem er - wenn auch nur für die kurze Strecke außerhalb des öffentlichen Verkehrsraumes - seinem Arbeitskollegen H das Fahrzeug samt Insassen anvertraut habe, obwohl H noch nicht wieder im Besitz eines Führerscheins gewesen sei. Die stets vorhandene Gefährlichkeit solchen Tuns habe sich hier alsbald erwiesen. Objektiv sei demnach das Verhalten des Klägers nicht betriebsdienlich gewesen. Daran ändere nichts, daß der Kläger nach seinen Angaben dem Führerscheinbewerber H eine Übungsmöglichkeit habe einräumen wollen. Es komme jedoch bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einer Tätigkeit und dem Unternehmen nicht darauf an, ob die Tätigkeit objektiv dem Unternehmen dienlich sei, es genüge vielmehr, daß der Versicherte von seinem Standpunkt aus der Meinung habe sein können, daß die Tätigkeit den Interessen des Unternehmens zu dienen geeignet sei. Nach der Überzeugung des LSG habe der Kläger die Vorstellung gehabt, im Betriebsinteresse tätig zu sein. Es entspreche auch der Lebenserfahrung, daß Vorgänge der Art, wie sie sich hier ereigneten, auf schnellen Entschlüssen beruhten, die von der subjektiven Vorstellung beherrscht würden, "es werde schon gutgehen".

So sei es auch hier gewesen. Die Grenzen zu einem offensichtlich unsinnigen Verhalten habe der Kläger nicht überschritten. Zur Unfallzeit habe der Kläger daher unter Versicherungsschutz gestanden.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor: Der Unfall habe sich während der Unterbrechung des Betriebsweges ereignet. Die Essenseinnahme als eigenwirtschaftliche Verrichtung stelle einen einheitlichen Vorgang dar, der mit dem Einfahren des Fahrzeugs in den Hof der Gaststätte begonnen und erst mit dem Verlassen des Hofes nach dem Essen geendet hätte. Darüber hinaus sei durch das straf- bzw ordnungswidrige Verhalten des Klägers der Zusammenhang mit dem Betrieb gelöst worden; § 548 Abs 3 RVO gebe keinen Freibrief für ein derartig zu mißbilligendes und zu verurteilendes Verhalten. Es sei völlig lebensfremd, anzunehmen, H hätte nur bis zur Straßenausfahrt fahren und dort das Steuer an den Kläger zurückgeben wollen.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Stuttgart zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden, da sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Die Fahrt, die der Kläger am Unfalltag im Auftrag seines Arbeitgebers unternommen hat, um seinen Arbeitskollegen H zu dessen Wohnung in M zu bringen, stand als sog Betriebsweg im ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit des Klägers. Auf diesem Weg stand der Kläger nach § 548 RVO unter Versicherungsschutz. Das LSG hat angenommen, der Betriebsweg und damit die versicherte Tätigkeit seien unterbrochen gewesen, solange sich der Kläger während der Mittagspause in der Gaststätte befunden habe. Das LSG geht zutreffend davon aus, daß die Einnahme von Mahlzeiten selbst - auch während der Arbeitszeit - grundsätzlich eine dem privaten Lebensbereich zuzurechnende und damit unversicherte Verrichtung darstellt (s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl, S. 481 b ff mit Nachweisen). Die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil reichen nicht aus, um beurteilen zu können, ob aufgrund besonderer, mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängender Umstände hier die Nahrungsaufnahme selbst mit der Tätigkeit im Unternehmen ursächlich zusammenhängt (s Brackmann aaO, S. 481 c, d). Einer Zurückverweisung zu weiteren Ermittlungen und Feststellungen bedarf es aber nicht. Ist die Einnahme des Mittagessens dem privaten Bereich zuzurechnen, hat zwar während der - hier nicht nur geringfügigen - Unterbrechung des Betriebsweges kein Versicherungsschutz bestanden (Brackmann aaO, S. 481 q, r mit Nachweisen). Die eigenwirtschaftliche Tätigkeit war jedoch beendet, als der Kläger die Außentür des Gaststättengebäudes durchschritt, um den Betriebsweg fortzusetzen (für Wege von und nach dem Ort der Tätigkeit - § 550 RVO - bei Einnahme der Mahlzeit in einer Gaststätte vgl ua Brackmann aaO, S. 486 h II; BSG in Die Leistungen 1974, 126). Die Beklagte berücksichtigt mit ihrer Ansicht, erst mit dem Erreichen des öffentlichen Verkehrsraumes wäre die Unterbrechung beendet gewesen, nicht ausreichend, daß für den Beginn und die Beendigung des Versicherungsschutzes bei Betriebswegen jedenfalls nicht strengere Maßstäbe anzulegen sind als für Wege nach und von der Arbeitsstätte. Versicherungsschutz besteht nach der Rechtsprechung des Senats auch auf dem Teil eines Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit, den der Versicherte innerhalb des eingezäunten Grundstücks eines ihm gehörenden Wohnhauses nach dem Durchschreiten einer Außentür dieses Hauses zurücklegen muß, um das in einer Garage abgestellte Fahrzeug herauszufahren (BSGE 42, 293). Auch dort beginnt der Versicherungsschutz nicht erst mit dem Erreichen des öffentlichen Verkehrsraumes.

Nach den - mit durchgreifenden Revisionsrügen nicht wirksam angegriffenen - Feststellungen des LSG hat der Kläger, nachdem er das Fahrzeug wieder aus der Parklücke herausgefahren hatte, seinem Arbeitskollegen H das Steuer für die Fahrt bis zum Erreichen der öffentlichen Straße überlassen. Der von den drei Arbeitskollegen gemeinsam im Wagen zurückgelegte Weg war ein Teilstück des Weges, der erforderlich war, um H nach H zu bringen. Soweit der Kläger dabei auch dem Wunsch des H nach einer "Übungsmöglichkeit" entsprochen hat, ist der mit dem Zurücklegen des Weges zur öffentlichen Straße ebenfalls verfolgte betriebsbezogene Zweck der Fahrt nicht als unwesentlich in den Hintergrund gedrängt worden. Wie den Feststellungen des LSG zu entnehmen ist, hat H nicht etwa - im Einverständnis mit dem Kläger - Fahrübungen auf dem Gaststättenhof durchgeführt, sondern nur die direkte Fahrstrecke bis zum Hofausgang zurückgelegt. Die Feststellungen des LSG über die Vorstellung des Klägers, im Betriebsinteresse tätig zu sein, sind dahin zu verstehen, daß er ohne langes Überlegen darauf vertraut hat, H werde den Wagen ohne Unfall und ohne Schaden bis zur Straße fahren können, obwohl er noch nicht wieder den Führerschein besaß und die Überlassung des Steuers an ihn deshalb mit Gefahr verbunden war. Daß es gefährlich ist, ein Fahrzeug durch eine Person steuern zu lassen, die keinen Führerschein besitzt, schließt jedoch für sich allein schon objektiv nicht den ursächlichen Zusammenhang zwischen einer wesentlich betriebsbezogenen Fahrt und dem Unternehmen aus. Der Kausalzusammenhang ist ebenfalls nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Kläger mit dem Überlassen des Steuers an H verbotswidrig - dazu gehört auch der Verstoß gegen ein Gebot oder Verbot des Arbeitgebers - gehandelt hat (s § 548 Abs 3 RVO). Dies gilt auch, wenn bei einem nicht verbotswidrigen Verhalten der Arbeitsunfall gar nicht eingetreten wäre (BSG in SozR 2200 § 548 Nr 22). Wäre der Kläger durch sein verbotswidriges Verhalten einer sog selbstgeschaffenen Gefahr erlegen, hätte er allerdings im Unfallzeitpunkt nicht unter Versicherungsschutz gestanden. Der Senat hat den Begriff der selbstgeschaffenen Gefahr stets eng ausgelegt und nur mit größter Zurückhaltung angewendet (vgl BSG aaO mit Nachweisen). Einen Rechtssatz des Inhalts, daß der Versicherungsschutz entfällt, wenn der Versicherte sich bewußt einer erhöhten Gefahr aussetzt und dadurch zu Schaden kommt, gibt es nicht (BSGE 6, 164, 169). Auch leichtsinniges und unbedachtes Verhalten beseitigt nicht den ursächlichen Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit. Der Ursachenzusammenhang ist nur dann ausnahmsweise nicht mehr gegeben, wenn ein Beschäftigter sich derart sorglos und unvernünftig verhält, daß für den Eintritt des Arbeitsunfalls nicht mehr die versicherte Tätigkeit, sondern die selbstgeschaffene Gefahr als die rechtlich allein wesentliche Unfallursache anzusehen ist. So lagen die Verhältnisse hier jedoch nicht. Bei der Beurteilung der Verhaltensweise des Klägers ist zu berücksichtigen, daß der Kläger seinem Arbeitskollegen H, der bereits die - ihm erst einige Zeit zuvor entzogene - Fahrerlaubnis besessen hatte und an einem Fahrunterricht zur Wiedererlangung des Führerscheins teilnahm, nicht die Führung des Fahrzeugs im öffentlichen Verkehr, sondern nur auf dem privaten Gaststättengrundstück überlassen hat. Die strengen Voraussetzungen einer selbstgeschaffenen Gefahr lagen danach nicht vor.

Das LSG hat somit im Ergebnis mit Recht die Beklagte zur Entschädigungsleistung verurteilt. Die Revision ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655533

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