Leitsatz (amtlich)

Der nach FAG SV § 7 Abs 1 Nr 1 zuständige Versicherungsträger darf bei der Feststellung der Unfallrente auf Grund des FAG SV die Minderung der Erwerbsfähigkeit unabhängig von den durch die früheren Versicherungsträger in der Zeit bis zum 1945-05-08 erteilten Bescheiden bemessen. Hat jedoch ein Versicherungsträger im Bundesgebiet oder im Land Berlin eine Leistung rechtskräftig festgestellt, so bleibt der nach FAG SV § 7 Abs 1 Nr 1 zuständige Versicherungsträger in entsprechender Anwendung des FAG SV § 17 Abs 6 auch dann hieran gebunden, wenn diese Feststellung in der Zeit zwischen dem 1952-04-01 und der RVO.

 

Normenkette

SVFAG § 2 Fassung: 1953-08-07, § 7 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1953-08-07, § 17 Abs. 6 Fassung: 1953-08-07; RVO

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 29. November 1956 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Klägerin erlitt am 23. April 1919 in einem landwirtschaftlichen Betrieb einen Arbeitsunfall, der die Gebrauchsunfähigkeit der rechten Hand zur Folge hatte. Von der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft (lBG.) für die Provinz Sachsen erhielt sie deswegen eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 70 v.H., die 1945 monatlich 29,60 RM betrug. Im November 1945 beantragte sie bei der Versicherungsanstalt B... in B... SO, R... straße (VAB.) als dem damals für ganz Berlin zuständigen Träger der vereinheitlichten Sozialversicherung die Wiedergewährung einer Rente anstelle ihrer bisher bezogenen Renten aus der Unfall- und Invalidenversicherung. Die VAB. teilte der Klägerin mit Schreiben vom 8. Februar 1946 mit: "Auf Ihren Antrag wird Ihnen anstelle der bisher gezahlten Rente für die Zeit ab 1. März 1946 bis auf weiteres eine monatliche Rente im Betrage von 48,70 RM gewährt." Dieser Betrag setzte sich zusammen aus der Unfallrente von 29,60 RM, der Invalidenrente von 18,10 RM und einem Zuschlag von 1,-- RM. Die Klägerin erhielt diese Geldleistung fortlaufend in unveränderter Höhe. Am 16. Mai 1952 erteilte ihr die Versicherungsanstalt B... in B... ( VABWest ) einen förmlichen Bescheid unter Bezugnahme auf § 40 des Gesetzes zur Anpassung des Rechts der Sozialversicherung in Berlin an das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Recht vom 3. Dezember 1950 (VOBl. I S. 542 - Berliner SVAG); damit gewährte die VABWest der Klägerin aus Anlaß des Unfalls vom 23. April 1919 anstelle der von der lBG. gewährten Unfallrente vom 1. Januar 1951 an eine Verletztenrente unter Zugrundelegung einer MdE. von 70 v.H. Gleichzeitig wurde die Rente gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzes über Verbesserungen der gesetzlichen Unfallversicherung vom 10. August 1949 (UVVG) in Verbindung mit Abschnitt XIV Abs. 3 der von der VABWest erlassenen vorläufigen Regelung von Leistungen in der Unfallversicherung vom 19. Februar 1951 (VOBl. I S. 263) durch einen Zuschlag auf monatlich 42,-- DM erhöht; Grundlage hierfür war der damalige Berliner Ortslohn von 1.080,-- DM. Die frühere Invalidenrente wurde fortan getrennt als Versicherungsrente gewährt.

Auf Grund eines von Dr. E... erstatteten Gutachtens setzte die VABWest mit Bescheid vom 4. Juli 1952 gemäß § 608 der Reichsversicherungsordnung (RVO) die Verletztenrente auf 60 v.H. herab. Dieser Bescheid wurde jedoch auf die Beschwerde der Klägerin von der - inzwischen nach dem Gesetz über Zulagen und Mindestleistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung und zur Überleitung des Unfallversicherungsrechts im Lande Berlin vom 29. April 1952 zuständig gewordenen - hannoverschen lBG. im Oktober 1952 wieder zurückgezogen.

Im November 1953 übernahm die Beklagte die weitere Rentenzahlung gemäß § 7 des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Gesetzes vom 7. August 1953 (FremdRG). Sie ließ die Klägerin im August 1955 durch Dr. R... begutachten, dem hierbei aufgegeben wurde, unabhängig von früheren Rentenfestsetzungen die jetzigen Unfallfolgen und den dadurch bedingten Grad der MdE. festzustellen. Auf Grund dieses Gutachtens, das einen dem Verlust der rechten Hand gleichkommenden Befund ergab und die MdE. mit 60 v.H. bewertete, setzte die Beklagte mit Bescheid vom 19. Oktober 1955 unter Bezugnahme auf das FremdRG und § 1585 Abs. 2 RVO eine Dauerrente von 60 v.H. vom 1. November 1955 an fest; da zugleich die für den Zuschlag nach dem UVVG maßgebende Bemessungsgrundlage auf 990,-- DM herabgesetzt wurde, betrug die Rente nunmehr monatlich 33,-- DM.

In der Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG.) wurde die Klägerin von dem Sitzungsarzt Dr. N... untersucht; dieser schätzte die MdE. auf 60 v.H. Das SG. hat die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen (Urteil vom 20. Juli 1956): Der Nachweis einer wesentlichen Änderung im Befund (§ 608 RVO) sei nicht erforderlich, da es sich um die erstmalige Feststellung einer selbständigen Leistung nach § 2 FremdRG handele; hierbei seien die Voraussetzungen der Rentengewährung nach den im Zeitpunkt der Feststellung maßgeblichen Verhältnissen ohne Bindung an Bescheide früherer Versicherungsträger neu zu überprüfen. Die Ausnahmevorschrift des § 17 Abs. 6 FremdRG sei nicht anwendbar; denn die VABWest habe die Leistung erst am 16. Mai 1952 festgestellt. Der Umstand, daß diese Feststellung rückwirkend vom 1. Januar 1951 an erfolgt sei, habe keine Bedeutung, denn es komme auf den Zeitpunkt der Bescheiderteilung an. Nach den übereinstimmenden ärztlichen Gutachten sei die MdE. mit 60 v.H. zu bewerten.

Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG.) am 29. November 1956 die Beklagte verurteilt, der Klägerin aus Anlaß ihres Unfalls vom 23. April 1919 über den 31. Oktober 1955 hinaus die ihr bis dahin gewährte Verletztenrente weiterzuzahlen: Zwar seien bei der ersten Feststellung nach § 2 FremdRG die Leistungsvoraussetzungen grundsätzlich ohne Bindung an Bescheide früherer Versicherungsträger neu zu überprüfen. Entgegen der Ansicht des SG. finde aber hier die Ausnahmeregelung des § 17 Abs. 6 FremdRG Anwendung. Der Leistungsanspruch der Klägerin gegen die VABWest als Versicherungsträger im Lande Berlin sei nämlich nicht erst durch deren Bescheid vom 16. Mai 1952 begründet worden; vielmehr liege bereits in der Mitteilung der damals noch für ganz Berlin einheitlichen VAB vom 8. Februar 1946 eine auch die spätere VABWest bindende rechtskräftige Leistungsfeststellung im Sinne des § 17 Abs. 6 FremdRG. Bei der VABWest handele es sich nicht um einen erst nach der Konstituierung des Landes Berlin neu errichteten West-Berliner Versicherungsträger, sondern nur um die Fortführung der ursprünglich in Ost-Berlin gelegenen, für ganz Berlin zuständig gewesenen einheitlichen VAB. Die formlose Mitteilung vom 8. Februar 1946 sei einem rechtskräftigen Bescheid gleichzusetzen. Die Voraussetzungen des hiernach anzuwendenden § 608 RVO seien nicht erfüllt. - Das LSG. hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 12. Januar 1957 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 24. Januar 1957 Revision eingelegt und zugleich begründet: Das LSG. habe § 608 RVO und § 17 Abs. 6 FremdRG unrichtig angewandt. Die frühere einheitliche VAB., von der die Mitteilung vom 8. Februar 1946 an die Klägerin stammte, sei kein Versicherungsträger im Lande Berlin gewesen. Diese Mitteilung genüge außerdem nicht den sich aus § 17 Abs. 6 FremdRG ergebenden formellen Erfordernissen. Der diesen Erfordernissen entsprechende förmliche Bescheid der VABWest vom 16. Mai 1952 hingegen komme nicht in Betracht, da er erst nach dem 31. März 1952 ergangen sei. Der angefochtene Bescheid der Beklagten habe demnach nicht den Voraussetzungen des § 608 RVO unterlegen. Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG. zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie meint, der Bescheid der VABWest vom 16. Mai 1952 sei als Feststellung im Sinne des § 17 Abs. 6 FremdRG anzusehen. Im übrigen schließt sie sich den Entscheidungsgründen des LSG. an.

II

Die Revision ist statthaft durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG) und demnach zulässig. Sie ist jedoch unbegründet.

Zutreffend sind beide Vorinstanzen zunächst davon ausgegangen, daß der nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 FremdRG zuständige Versicherungsträger grundsätzlich bei der ersten Feststellung einer Unfallrente auf Grund des FremdRG die MdE. unabhängig von den durch die früheren Versicherungsträger in der Zeit bis zum 8. Mai 1945 erteilten Bescheiden bemessen darf. Das entspricht der in Schrifttum und Rechtsprechung herrschenden Auffassung (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 5. Aufl., S. 294 d III, IV, 294 k V; Hoernigk-Jahn-Wickenhagen, Fremdrenten- und Auslandsrenten-Gesetz, Kommentar, 2. Aufl., Anm. 1i zu § 2, S. 57; Haensel-Lippert, Fremdrenten- und Auslandsrenten-Gesetz, Handkommentar, 2. Aufl., Anm. a zu § 2 S. 20; Wickenhagen, BG. 1953 S. 391 [393]; LSG. Schleswig, Urteil vom 23.9.1958 - L 6 U 90/57 -; ebenso bereits zur Auslegung des Bayerischen Flüchtlingsrentengesetzes vom 3.12.1947: Bayer. LVAmt, Breithaupt 1952 S. 553; 1953 S. 621). Dies bedeutet, daß die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid die Rente ohne den Nachweis einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse (§ 608 RVO) neu feststellen durfte, falls sie hieran nicht durch § 17 Abs. 6 FremdRG gehindert war.

Im Ergebnis zutreffend hat das LSG. die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Vorschrift bejaht. Ob es mit Recht hierbei die Mitteilung der VAB. vom 8. Februar 1946 in Betracht gezogen hat, muß allerdings als fraglich angesehen werden; die vom LSG. angeführten Erfordernisse - der Text der Mitteilung müsse genügend bestimmt sein und auf die Übernahme einer eingegangenen Verpflichtung schließen lassen (ebenso Hoernigk-Jahn-Wickenhagen a.a.O., Anm. 22 b zu § 17 Abs. 6 S. 157) - dürften schwerlich bei einem Schreiben als erfüllt zu bezeichnen sein, in welchem weder auf den Unfall noch auf den für die Entschädigung früher zuständig gewesenen Versicherungsträger Bezug genommen und vor allem nicht einmal der Vomhundertsatz der für die Unfallrente maßgebenden MdE. angegeben worden ist. Einer Entscheidung dieser Frage bedurfte es indessen nicht, denn die Heranziehung des § 17 Abs. 6 FremdRG ist auf jeden Fall im Hinblick auf den Bescheid vom 16. Mai 1952 über die Gewährung einer Verletztenrente nach dem Berliner SVAG gerechtfertigt.

Diesen Bescheid hat die Klägerin von der VABWest - zweifellos einem Versicherungsträger im Lande Berlin im Sinne des § 17 Abs. 6 FremdRG - erhalten. Der Bescheid trägt - wenn er auch nicht von einem Rentenausschuß beschlossen wurde - alle Merkmale einer förmlichen Feststellung (§§ 1583, 1588, 1589 RVO); er bringt eindeutig den Verpflichtungswillen des Versicherungsträgers zum Ausdruck und enthält die vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung (§ 1590 RVO). Den formellen Anforderungen an eine rechtskräftige Leistungsfeststellung im Sinne des § 17 Abs. 6 FremdRG ist damit ohne Zweifel genügt.

Die VABWest hat diese Leistung nun zwar nicht bereits am 1. April 1952 rechtskräftig festgestellt, sondern erst sechs Wochen später, also in der Zeit zwischen dem Inkrafttreten des FremdRG und seiner Verkündung (10. August 1953). Angesichts des Wortlauts des § 17 Abs. 6 FremdRG kann also die für die Klägerin festgestellte Verletztenrente nicht ohne weiteres als Leistung im Sinne dieses Gesetzes gelten. Der in § 17 Abs. 6 FremdRG enthaltene Grundgedanke einer Wahrung des Besitzstandes gilt indessen auch für derartige Fälle. Der erkennende Senat schließt sich deshalb dem bereits in der Rechtsprechung des 1. Senats (vgl. BSG. 4 S. 96 [101]; SozR. FremdRG § 17 Bl. Aa 2 Nr. 3) vertretenen Standpunkt insoweit an, als auf rechtskräftige Leistungsfeststellungen, die in der Zeit zwischen dem 1. April 1952 und dem 10. August 1953 getroffen worden sind, die Vorschrift des § 17 Abs. 6 FremdRG entsprechend anzuwenden ist (vgl. Brackmann a.a.O. S. 294 k IV, IX, X). Nach Meinung des Senats wird dies dadurch gerechtfertigt, daß bei der Abfassung der hier behandelten Vorschrift offenbar der lange Zeitraum von fast 16 Monaten, der zwischen dem Inkrafttreten des Gesetzes und seiner Verkündung verstrichen war, nicht hinreichend berücksichtigt worden ist. Die Begründung zu § 18 Abs. 6 des Regierungsentwurfs (Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode 1949, Anlage-Bd. 22, Drucksache Nr. 4 201, S. 28) deutet jedenfalls darauf hin, daß der Gesetzgeber ursprünglich mit einer Verkündung des FremdRG in kürzerer Zeit nach dem 1. April 1952 gerechnet hat. In der Zeit zwischen dem 1. April 1952 und der Verkündung des FremdRG sind die nach dem damals geltenden Recht leistungspflichtigen Versicherungsträger - wie im vorliegenden Fall die VABWest - bei der Feststellung von Leistungen noch im Rahmen ihrer Zuständigkeit tätig geworden. Der Senat ist der Ansicht, daß nach dem Sinn des FremdRG kein hinreichender Grund ersichtlich wird, die in diesem Zeitraum getroffenen Leistungsfeststellungen von dem Grundsatz der Besitzstandswahrung auszunehmen.

Die entsprechende Anwendung des § 17 Abs. 6 FremdRG auf den Bescheid der VABWest vom 16. Mai 1952 hat zur Folge, daß die Beklagte an diesen Bescheid gebunden war und eine neue Rentenfeststellung - insbesondere eine Herabsetzung des Grades der MdE. sowie der Bemessungsgrundlage für den nach dem UVVG zu gewährenden Zuschlag - nur nach Maßgabe der allgemeinen Vorschriften der ROV vornehmen durfte.

Die hierfür in Betracht kommenden Voraussetzungen des § 608 RVO waren - wie den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG. zu entnehmen ist - nicht gegeben. Das LSG. hat demnach mit Recht die Beklagte zur Weitergewährung der Verletztenrente von 70 v.H. über den 31. Oktober 1955 hinaus verurteilt.

Die Revision war daher zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 273

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