Leitsatz (amtlich)

Wenn das Gericht es für geboten hält, bedeutsame Erklärungen aus dem Sachvortrag eines Beteiligten (SGG § 69) in der mündlichen Verhandlung durch die Sitzungsniederschrift festzuhalten, um sie für die Urteilsbegründung zu verwerten, so hat es dem Beteiligten die Niederschrift über seine Angaben vorzulesen oder zur Durchsicht vorzulegen; in der Niederschrift ist nach SGG § 122 Abs 2 zu vermerken, daß dies geschehen ist und ob der Beteiligte die Niederschrift genehmigt hat oder welche Einwendungen er erhoben hat. Ist aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung nicht ersichtlich, daß SGG § 122 Abs beachtet worden ist, so leidet das Verfahren an einem wesentlichen Mangel.

 

Normenkette

SGG § 122 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 69 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 29. April 1959 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Durch die Bescheide vom 27. März 1953 gewährte der Beklagte dem Kläger ab 1. Februar 1947 nach dem Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG) und ab 1. Oktober 1950 nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen doppelseitiger Lungentuberkulose Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. Mit der Berufung gegen diese Bescheide begehrte der Kläger auch die Anerkennung einer Aortenanomalie als Schädigungsfolge und Rente nach einer MdE um 70 v.H. Im Berufungsverfahren vor dem Oberversicherungsamt (OVA) Wiesbaden erklärte sich der Beklagte bereit, dem Kläger wegen der Aortenanomalie einen neuen Bescheid zu erteilen, lehnte aber durch Bescheid vom 18. September 1953 nach ärztlicher Begutachtung eine Rentenerhöhung ab, weil eine Aortenanomalie nicht bestehe. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger wiederum Berufung bei dem OVA ein, die Berufung ging am 1. Januar 1954 als Klage auf das Sozialgericht (SG) Wiesbaden über. Durch Urteil vom 1. April 1955 wies das SG die Klage gegen die Bescheide vom 27. März 1953 und vom 18. September 1953 ab, weil keine Aortenanomalie bestehe und die MdE mit 30 v.H. zutreffend bewertet sei; der Herzklappenfehler sei keine Schädigungsfolge. Hiergegen legte der Kläger Berufung beim Hessischen Landessozialgericht (LSG) in Darmstadt ein. Durch Urteil vom 5. September 1956 wies das LSG die Berufung zurück, weil die MdE 30 v.H. betrage, eine Aortenanomalie nicht vorliege und das kombinierte Mitralvitium keine Schädigungsfolge sei; im übrigen könne die Frage, ob das Mitralvitium und die chronische Mandelentzündung Schädigungsfolgen seien, in diesem Rechtsstreit nicht entschieden werden, weil darüber der Beklagte bisher keinen Bescheid erteilt habe. Auf die Revision des Klägers hob das Bundessozialgericht (BSG) durch Urteil vom 29. Oktober 1958 das Urteil des LSG auf und verwies die Sache an das LSG zurück: Das Klagebegehren erstrecke sich nicht nur auf die Gewährung einer höheren Rente wegen der anerkannten Lungentuberkulose, sondern auch auf die Anerkennung der Herzstörungen als Schädigungsfolgen; das LSG müsse auch darüber entscheiden, ob der Kläger eine chronische Mandelentzündung habe und ob sie gegebenenfalls eine Schädigungsfolge sei, ferner ob es wahrscheinlich sei, daß sie zu Herzbeschwerden oder zu einem Herzleiden geführt habe und ob der Kläger möglicherweise eine höhere Rente zu beanspruchen habe. In der mündlichen Verhandlung vom 29. April 1959 hörte das LSG den Kläger zur Sache. Durch Urteil vom gleichen Tage wies es die Berufung wiederum zurück: Die MdE infolge der Lungentuberkulose sei mit 30 v.H. richtig bewertet; eine Aortenanomalie liege nicht vor; das kombinierte Mitralvitium sei keine Schädigungsfolge, der Kläger habe 1943 keine Mandelentzündung durchgemacht, auf die das Mitralvitium zurückzuführen wäre; weder bei der Untersuchung durch Dr. V... im Dezember 1952 noch bei der Untersuchung durch Dr. S... im August 1953 habe er etwas von einer Mandelentzündung im Jahre 1943 erwähnt: als er im August 1953 seine Kinderkrankheiten aufgezählt habe, habe er ausdrücklich erklärt, während der Militärdienstzeit keine Erkrankungen gehabt zu haben: erst in der Widerspruchsschrift vom 8. Oktober 1956 habe er behauptet, in der Zeit von November bis Dezember 1943 in Allenstein Angina gehabt zu haben in der mündlichen Verhandlung habe er dann ausgesagt, er habe damals mit 20 Mann in einem Saal gelegen, die an Angina erkrankt gewesen seien, dabei habe er sich angesteckt, eine Behandlung durch einen Arzt sei nicht erfolgt; diese Angaben seien unglaubhaft angesichts der Tatsache, daß der Kläger bei allen früheren Untersuchungen von einer Angina nichts erwähnt, vielmehr gesagt habe, er habe während der Militärdienstzeit keine Erkrankungen durchgemacht. Das Urteil wurde dem Kläger am 13. Juni 1959 zugestellt. Am 13. Juli 1959 legte er Revision ein und beantragte,

das Urteil des Hessischen LSG vom 29. April 1959 aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Am 12. September 1959 - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis 14. September 1959 - begründete er die Revision: Das Verfahren des LSG sei mangelhaft; das LSG habe nach der Beratung neues tatsächliches Vorbringen entgegengenommen und sodann, ohne hierüber erneut zu beraten, das Urteil verkündet; es habe somit ohne geheime Beratung entschieden und damit gegen § 61 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 192 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) verstoßen. Das LSG habe aber auch § 122 Abs. 2 SGG verletzt; denn es habe dem Kläger die Niederschrift über seine Aussage nicht vorgelesen oder zur Durchsicht vorgelegt: im übrigen habe das LSG nicht die in dem Urteil des BSG vom 29. Oktober 1958 aufgezeigten Mängel ausgeräumt; nach dem Urteil des BSG habe das LSG aufklären müssen, ob eine chronische Mandelentzündung vorliege, ob diese, wenn sie vorliege, eine Schädigungsfolge sei, ob es wahrscheinlich sei, daß sie zu Herzbeschwerden oder zu einem Herzleiden geführt habe und ob der Kläger gegebenenfalls deswegen eine höhere Rente beanspruchen könne; diesen Aufklärungsgeboten des BSG sei das LSG nicht ordnungsgemäß nachgekommen; es habe die Grenzen seines Rechts, die Beweise frei zu würdigen (§ 128 SGG), überschritten und seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 103 SGG) verletzt.

Der Beklagte beantragte,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

sie als unbegründet zurückzuweisen.

II

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; der Kläger rügt mit Recht, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel.

Es kann dahingestellt bleiben, ob es zutrifft, daß das LSG nach der Beratung noch tatsächliches Vorbringen entgegengenommen, also erneut verhandelt und sodann das Urteil verkündet hat, ohne nochmals zu beraten; die Revision ist jedenfalls deshalb statthaft, weil der Kläger zutreffend eine Verletzung des § 122 Abs. 2 SGG rügt. Nach § 122 Abs. 2 SGG ist die Niederschrift über die Aussage eines Zeugen, Sachverständigen oder Beteiligten diesem vorzulesen oder zur Durchsicht vorzulegen, in der Niederschrift ist zu vermerken, daß dies geschehen und die Niederschrift genehmigt ist oder welche Einwendungen erhoben sind. Das LSG hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 29. April 1959 persönlich gehört und sein tatsächliches Vorbringen, insbesondere über seine früheren Erkrankungen, zu Protokoll genommen, es hat die Angaben des Klägers, die es im Protokoll festgehalten hat, in seinem Urteil ausgewertet und gewürdigt. Es hat dem Kläger die Niederschrift über seine Angaben aber nicht vorgelesen oder zur Durchsicht vorgelegt und in der Niederschrift vermerkt, daß dies geschehen sei. Von der Beobachtung dieser Förmlichkeit hat das LSG aber nicht absehen dürfen. Zwar hat das Gericht nicht alle Erklärungen des Klägers, die tatsächliches Vorbringen zur Begründung des Klagebegehrens enthalten haben, in die Sitzungsniederschrift aufnehmen müssen; es besteht nicht grundsätzlich eine Pflicht des Gerichts, den Inhalt des Sachvortrags der Beteiligten in der Sitzungsniederschrift festzuhalten, der Gang der Verhandlung ist nur "im allgemeinen" anzugeben (§ 128 Abs. 3 SGG i.V.m. § 160 Abs. 1 ZPO), nur "wesentliche Vorgänge der Verhandlung" im Sinne des § 122 Abs. 1 SGG sind in die Sitzungsniederschrift aufzunehmen. Es hat sich bei der Anhörung des Klägers auch nicht um eine Beweisaufnahme gehandelt, deren Ergebnis im Protokoll festzuhalten ist (§ 122 Abs. 3 SGG i.V.m. § 160 Abs. 2 Nr. 3 und 4 ZPO), die "Aussage" des Klägers ist kein Beweismittel im Sinne der zivilprozeßrechtlichen Parteivernehmung gewesen (vgl. Beschluß des BSG vom 31. Oktober 1956, SozR Nr. 1 zu § 445 ZPO). Von den Erklärungen der Beteiligten müssen nur die Anträge und die prozeßrechtlich und materiellrechtlich erheblichen Erklärungen, durch die der geltend gemachte Anspruch ganz oder teilweise erledigt wird - wie Verzicht, Vergleich, Anerkenntnis, Klagerücknahme, Rücknahme eines Rechtsmittels - in das Protokoll aufgenommen werden (§ 122 Abs. 1 u. 3 SGG i.V.m. § 160 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Wenn aber das Gericht nach seinem Ermessen andere Erklärungen der Beteiligten als "wesentliche Vorgänge der Verhandlung" ansieht und sie deshalb in die Sitzungsniederschrift aufnimmt, so müssen diese Erklärungen in der Form des § 122 Abs. 2 SGG festgestellt werden. Hält es das Gericht danach für geboten, bedeutsame Erklärungen eines Beteiligten in der mündlichen Verhandlung durch die Sitzungsniederschrift festzuhalten, um sie im Urteil auszuwerten und seine Urteilsbegründung darauf zu stützen, so hat es dem Beteiligten die Niederschrift über seine Angaben vorzulesen oder zur Durchsicht vorzulegen und zu vermerken, daß dies geschehen und die Niederschrift genehmigt ist. § 122 Abs. 2 SGG soll gewährleisten, daß die protokollierten Erklärungen des Beteiligten inhaltlich das wiedergeben, was der Beteiligte gesagt hat: der Einwand, daß das Protokoll die Erklärungen wörtlich oder dem Sinne nach nicht richtig wiedergebe, soll damit ausgeschlossen werden. Diese Vorschrift spricht zwar von "Aussagen"... von Beteiligten, solche Aussagen gibt es als Beweismittel im sozialgerichtlichen Verfahren nicht; gemeint sind hier aber die mündlichen Erklärungen eines Beteiligten, die das Gericht als "wesentliche Vorgänge der Verhandlung" in der Sitzungsniederschrift festhält. Diese Erklärungen sind zwar nicht Ergebnisse einer Beweisaufnahme, sie sind aber im gleichen Maße die Grundlage des Urteils wie diese. Es ist daher auch sinnvoll, sie in derselben Form niederzulegen wie die Aussagen von Zeugen und Sachverständigen (vgl. auch Urteil des BSG vom 19.7.1961, 11 RV 140/60).

Das LSG hat sein Urteil sonach gestützt auf protokollierte "Aussagen" des Klägers, die es nicht in der Form des § 122 Abs. 2 SGG festgehalten hat. Dies ist ein Mangel des Verfahrens, die Rüge dieses Mangels durch den Kläger macht die Revision statthaft, es bedarf keiner Prüfung, ob noch weitere Verfahrensmängel vorliegen. Der Kläger hat die Revision frist- und formgerecht eingelegt, sie ist daher zulässig. Sie ist auch begründet, denn es ist möglich, daß das LSG, wenn es die Vorschriften über die Förmlichkeiten der Sitzungsniederschrift beachtet, zu einem anderen Ergebnis gelangt. Das Urteil ist daher aufzuheben, die Sache ist zu neuer Verhandlung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2308656

MDR 1961, 968

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