Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletzung des rechtlichen Gehörs. Überraschungsentscheidung. Prozeßökonomie

 

Orientierungssatz

1. Zur Verletzung des rechtlichen Gehörs, der richterlichen Hinweispflicht und des Vorliegens einer Überraschungsentscheidung bei Zweifel über die Ausübung des Bestimmungsrechts über das Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs 6 RVO.

2. Zum Grundsatz der Prozeßökonomie.

 

Normenkette

GG Art 103 Abs 1; SGG §§ 62, 106 Abs 1, § 112 Abs 2; ZPO § 278 Abs 3; RVO § 1248 Abs 6

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 22.01.1987; Aktenzeichen L 8 J 29/86)

SG Berlin (Entscheidung vom 24.03.1986; Aktenzeichen S 27 J 782/85)

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) Erwerbsunfähigkeitsrente (EU-Rente) über den 31. Oktober 1982 hinaus anstelle des ab 1. November 1982 gezahlten Altersruhegeldes, in das die bis dahin gewährte EU-Rente umgewandelt worden ist, außerdem Erhöhung der ihr seit 1978 zufließenden EU-Rente ab 1. Mai 1981 aufgrund von 1984 entrichteten Nachentrichtungsbeiträgen.

Die 1917 geborene Klägerin ist Verfolgte iS des § 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG). Schon 1972 machte sie von einer Nachentrichtungsmöglichkeit Gebrauch nach § 10 des Gesetzes über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG). Seit 1. März 1972 bezog sie von der Beklagten eine Berufsunfähigkeitsrente (BU-Rente), ab 1. September 1978 eine Rente wegen EU. Am 30. April 1981 beantragte die Klägerin bei der Beigeladenen, weitere Beiträge nach § 10 WGSVG entrichten zu dürfen. Außerdem bat sie um Mitteilung, wie sich eine fristgerechte Nachentrichtung auf die von 1972 bis 1978 gewährte BU-Rente und auf die seit 1978 gezahlte EU-Rente auswirke. Sie hielt es für möglich, daß die Nachentrichtung bereits ab 1972 wirke. Die daraufhin von der beigeladenen LVA um Auskunft ersuchte beklagte LVA teilte der Beigeladenen mit Schreiben vom 15. Juli 1982 ua mit, bei einer Beitragszahlung in angemessener Frist könne die Neufeststellung der EU-Rente frühestens vom 1. Mai 1981 an erfolgen, wobei die Feststellung, ob die Nachentrichtung rechtzeitig gewesen und in angemessener Frist erfolgt sei, in die Zuständigkeit der Beigeladenen falle. Von diesem Schreiben übersandte die Beigeladene der Klägerin eine Kopie zur Kenntnis.

Die Klägerin erklärte sich mit Schreiben vom 2. November 1982 gegenüber der Beigeladenen bereit, acht Beiträge der Klasse 800 für die Monate Mai 1959 bis Dezember 1959 zu entrichten. Die nachzuentrichtenden Beiträge müßten auch zu einer Erhöhung der BU-Rente (gewährt von 1972 bis 1978) führen. Die Beigeladene teilte der Klägerin mit Schreiben vom 22. November 1982 mit, daß bezüglich der zu erwartenden Neufeststellung aufgrund der noch vorzunehmenden Nachentrichtung von Beiträgen auf die Kopie des Schreibens der Beklagten vom 15. Juli 1982 verwiesen werde, die die Klägerin schon erhalten habe.

Die Klägerin verklagte nun die Beklagte und die Beigeladene mit dem Antrag, ihr mitzuteilen, ab wann höhere Rente unter Berücksichtigung der von ihr vorgesehenen Nachentrichtung von Beiträgen (acht Beiträge der Klasse 800 für die Zeit von Mai bis Dezember 1959) gezahlt würde. Das Sozialgericht (SG) wies diese Klage ab, weil der Auskunftsanspruch bereits durch die Erklärung im Schreiben vom 15. Juli 1982 erfüllt worden sei (Urteil des SG Berlin vom 9. Dezember 1983). In der Berufungsinstanz erklärte die Klägerin den Rechtsstreit für erledigt, nachdem die Beklagte ihr das Schreiben vom 15. Juli 1982 "offiziell zur Kenntnis gebracht" habe. Am 8. November 1984 erließ die Beigeladene im Rahmen eines weiteren, vor dem SG Düsseldorf geführten, Rechtsstreits einen formellen Zulassungsbescheid für die Nachentrichtung der Beiträge. Am 12. Oktober 1984 konnte sie den Eingang des Nachentrichtungsbeitrages verbuchen.

Mit Bescheid vom 2. Mai 1985 wandelte die Beklagte die Rente wegen EU ab 1. November 1982 in ein Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres um. Mit einem weiteren Bescheid vom 13. Mai 1985 berechnete sie dann das Altersruhegeld unter Anrechnung der nachentrichteten Beiträge ab 1. November 1984 neu. In dem Bescheid heißt es, für die Zeit vor dem 1. November 1984 bestehe ein Anspruch auf höhere Rente nicht, weil die aufgrund der im April 1981 erfolgten Bereiterklärung, jedoch erst am 12. Oktober 1984 bei der Beigeladenen eingegangenen Beiträge nicht innerhalb angemessener Frist erbracht worden seien.

Gegen die Altersruhegeldbescheide vom 2. und 13. Mai 1985 hat die Klägerin Klage erhoben mit dem Antrag, diese Bescheide aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung einer höheren EU-Rente aufgrund rechtzeitig nachentrichteter Beiträge ab 1. Mai 1981 zu verurteilen. Sie habe keinen Antrag auf Umwandlung der EU-Rente in ein Altersruhegeld gestellt. Die mithin weiter zu zahlende EU-Rente sei schon ab 1. Mai 1981 unter Berücksichtigung der nachentrichteten Beiträge zu erhöhen.

Das SG hat die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben und im übrigen die Klage abgewiesen (Urteil vom 24. März 1986). Zwar sei bei einem Empfänger von EU-Rente die Rente im Falle des § 1248 Abs 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO), sofern der Versicherte nichts anderes bestimme, von Amts wegen in das Altersruhegeld umzuwandeln. Doch stehe dem entgegen, daß die Klägerin mit der Erhebung ihrer Klage das Bestimmungsrecht des § 1248 Abs 6 RVO ausgeübt habe. Der Anspruch auf eine höhere EU-Rente scheitere an § 1419 Abs 1 RVO. Die gezahlten Beiträge könnten nur zu einer Erhöhung der Rente beim nächsten Versicherungsfall, also beim Altersruhegeld, führen. Diese Leistung wolle die Klägerin jedoch noch nicht.

Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG geändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 22. Januar 1987). Es hat im wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin habe mit der Erklärung, sie habe die Umwandlung der Rente in ein Altersruhegeld nicht beantragt, nicht schon die Rechtswidrigkeit der Umwandlung behauptet und auch von ihrem Bestimmungsrecht keinen Gebrauch gemacht. Hinsichtlich des Antrags auf höhere EU-Rente fehle es an einem Bescheid der Beklagten, so daß die Klage unzulässig sei.

Die Klägerin hat die vom erkennenden Senat zugelassene Revision eingelegt: Das Urteil des LSG leide an einem Verfahrensmangel. Es stelle eine Überraschungsentscheidung dar. Hätte das LSG sie darüber aufgeklärt, daß es an der Bedeutung ihrer Klage hinsichtlich der Geltendmachung des Bestimmungsrechts Zweifel habe, hätte sie zu Protokoll erklärt: "Die Angabe in der Klageschrift, daß die Klägerin weiterhin Rente wegen EU gewährt bekommen will, bedeutet, daß der Eintritt des Altersruhegeld-Versicherungsfalles auf einen späteren Zeitpunkt hinausgeschoben werden soll". Es verstoße auch gegen den Grundsatz der Prozeßökonomie, sie, die Klägerin, darauf zu verweisen, wieder in 1. Instanz ihren Anspruch auf höhere EU-Rente geltend zu machen.

Die Beklagte hat mit Bescheid vom 8. April 1987 den Antrag der Klägerin abgelehnt, die bis zum 31. Oktober 1982 gezahlte EU-Rente unter Berücksichtigung der am 12. Oktober 1984 und 7. Januar 1985 nachentrichteten Beiträge neu festzustellen.

Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die Revision für unbegründet.

Die Beigeladene stellt keinen Antrag.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.

Da die Klägerin, wie sich aus § 1248 Abs 6 RVO ergibt, den Versicherungsfall, der das Altersruhegeld auslöst, hinausschieben kann, ist es entscheidungserheblich, ob die Klägerin eine dahingehende Erklärung abgegeben hat oder im Verfahren noch eine dahingehende Erklärung abgeben wollte. Das LSG hat zwar festgestellt, die Klägerin habe von ihrem Bestimmungsrecht nach § 1248 Abs 6 RVO nicht Gebrauch gemacht. Doch ist der Senat an diese Feststellung nicht gebunden, da in bezug auf diese Feststellung zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

Das LSG hat insoweit den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt. Die Klägerin hat dies gerügt. Nach dem in § 62 SGG wiederholten Grundsatz, der schon in Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) garantiert ist, ist den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren. Inhalt dieses Grundsatzes ist, daß den Beteiligten von Amts wegen die Möglichkeit gegeben werden muß, sich zu allen rechtserheblichen Tatsachen zu äußern. Auch nach der Beweisaufnahme muß daher den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden (§ 128 Abs 2 SGG). Haben die Beteiligten einen rechtlichen Gesichtspunkt übersehen oder für unerheblich gehalten, so kann das Gericht, wenn ihm dies erkennbar ist, seine Entscheidung auf diesen Gesichtspunkt nur stützen, wenn es den Beteiligten vorher Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat (§ 202 SGG, § 278 Abs 3 der Zivilprozeßordnung -ZPO-; Urteil des erkennenden Senats vom 15. Oktober 1986 - 5b RJ 24/86 - SozR 1500 § 62 Nr 20; Meyer-Ladewig, Komm zum SGG, 3. Aufl, 1987, § 62 Nr 8). Die §§ 202 SGG, 278 Abs 3 ZPO sollen verhindern, daß die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden und damit die Möglichkeit verlieren, ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen oder weiteren Beweis anzubieten, wie es zur umfassenden Erklärung des Rechtsstreits angebracht wäre. Ganz ebenso stellt sich die Rechtslage dar, wenn die Beteiligten mit einer Tatsachenwürdigung überrascht werden, für die bisher Hinweise gefehlt haben (vgl Urteil des Senats vom 15. Oktober 1986 aa0). So ist es auch hier. Die Klägerin hat gegen die Bescheide geklagt, mit denen insbesondere die BU-Rente in ein Altersruhegeld umgewandelt wurden, ua mit der Begründung, sie habe die "Umwandlung nicht beantragt". In der Erhebung dieser Klage hat das SG - wie das LSG im Tatbestand seines Urteils richtig erwähnt - die Ausübung des Rechtes der Klägerin gesehen, das Altersruhegeld noch hinauszuschieben. Diese Auslegung liegt sehr nahe. Denn wenn die Klägerin die Altersruhegeldbescheide anfocht mit der Begründung, sie habe sie nicht beantragt, so sagt der Wortlaut "nicht beantragt" zunächst zwar nur, daß die Bescheide ohne ihren Willen ergangen waren. Zusammen mit der Klage ergibt sich jedoch, daß die Bescheide auch gegen ihren Willen ergangen waren, und daß die Klägerin diese Bescheide weiterhin verhindern wollte. Das Bestimmungsrecht nach § 1248 Abs 6 RVO kann der Versicherte solange ausüben, bis der Bescheid über das Altersruhegeld bindend geworden ist (Verbandskomm, § 1248 RVO, Anm 26; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, § 1248 Anm 8). Darauf hat bereits das SG hingewiesen. Der Vorsitzende des Berufungsgerichts hätte also die Klägerin in Ausübung seiner sich aus den §§ 112 Abs 2, 153 Abs 1 SGG ergebenden Verpflichtung nur zu fragen brauchen, wenn Zweifel hinsichtlich der Bedeutung der Erklärung der Klägerin bestanden hätten - trotz der naheliegenden Auslegung, die bereits das SG vorgenommen hatte. Bereits vor der mündlichen Verhandlung ergibt sich die gleiche Verpflichtung aus § 106 Abs 1 SGG. Die Klägerin wurde somit durch die vom LSG vorgenommene Auslegung ihres Verhaltens gegenüber den Altersruhegeldbescheiden überrascht. Die Auslegung des LSG war nicht vorauszusehen. Es war nicht einmal vorauszusehen, daß das LSG überhaupt eine Auslegung vornehmen würde angesichts des Umstandes, daß es von der Klägerin eine verbindliche Erklärung hätte erhalten können. Das Urteil des LSG beruht insoweit auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs.

Das Urteil des LSG leidet auch an einem Verfahrensmangel, soweit es die Klage deshalb abweist, weil noch ein Bescheid der Beklagten fehle. Noch das SG hatte geglaubt, in der Sache selbst entscheiden zu können. Sowohl das Gericht wie die Parteien unterliegen im Prozeß der Pflicht, den Fortgang des Prozesses zu fördern und nach Kräften dafür zu sorgen, daß der Streitstoff umfassend und zügig entschieden wird (Prozeßförderungspflicht, Grundsatz der Prozeßökonomie). Das Bundessozialgericht (BSG) sieht es deshalb als einen Verfahrensmangel an, wenn das Gericht die Klage als unzulässig abweist, ohne den Beteiligten Gelegenheit zu geben, das Vorverfahren zu Ende zu führen (BSGE 20, 199, 201). Vielmehr ist es verfahrensrechtlich geboten, die Möglichkeit zu prüfen, noch im vorliegenden Rechtsstreit alsbald zu der von den Beteiligten gewünschten Sachentscheidung zu kommen (BSG aa0 S 201). Die Klage sogleich als unzulässig abzuweisen und damit die Beteiligung ohne zwingenden Grund auf einen neuen Rechtsstreit zu verweisen, ist deshalb verfahrensfehlerhaft (BSG aa0).

Die nach alledem erforderliche Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß die Beklagte während des Revisionsverfahrens am 8. April 1987 eine Neufeststellung der bis zum 31. Oktober 1982 gezahlten EU-Rente unter Berücksichtigung der am 12. Oktober 1984 und 7. Januar 1985 nachentrichteten Beiträge abgelehnt hat. Insoweit ist die Anwendung des § 171 Abs 2 SGG schon deswegen ausgeschlossen, weil wegen der aufgezeigten Verfahrensmängel das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen ist. In diesem Fall spricht die Prozeßökonomie dafür, den neuen Bescheid so zu behandeln, als wäre er im Berufungsverfahren erlassen worden, so daß die Rechtshängigkeit nach § 171 Abs 2 SGG beim SG entfällt (ebenso bereits BSGE 9, 78).

Das LSG wird auch über die Kosten der Revisionsinstanz zu befinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659130

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt SGB Office Professional . Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge