Leitsatz (amtlich)

Ist im Falle einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Erkrankung das Arbeitslosengeld nicht nach AVAVG § 185 förmlich entzogen, sondern die Auszahlung während der Krankheitszeit nur eingestellt worden, so ist nach Beendigung der Erkrankung kein neuer Leistungsantrag erforderlich. Vielmehr ist AVAVG § 77 entsprechend anzuwenden; das Arbeitslosengeld ruht lediglich.

 

Normenkette

AVAVG § 77 Fassung: 1957-04-03, § 185

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 3. April 1963 und des Sozialgerichts München vom 24. November 1960 sowie der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 18. Mai 1960 aufgehoben und der Bescheid der Beklagten vom 8. März 1960 abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin einen neuen Bescheid über die Gewährung von Arbeitslosengeld für die Zeit vom 1. bis zum 6. März 1960 zu erteilen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Die Klägerin war vom 1. Oktober 1950 bis zum 30. September 1959 als Angestellte beim Versorgungsamt München beschäftigt. Nach ihrer Entlassung erhielt sie Übergangsgeld für die Zeit vom 1. Oktober bis zum 8. Dezember 1959. Am 1. Oktober 1959 meldete sie sich arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld (Alg). Dieses wurde ihr ab 12. Dezember 1959 für die Dauer von längstens 234 Tagen bewilligt; die Anspruchsdauer wurde später durch rechtskräftiges Urteil des Sozialgerichts (SG) auf längstens 312 Wochentage festgesetzt. Im Februar 1960 erkrankte die Klägerin an Grippe und war vom 5. bis zum 29. Februar arbeitsunfähig; sie bezog während dieser Zeit Krankengeld. Am 7. März 1960 beantragte sie Wiederbewilligung des Alg; dem wurde am nächsten Tage mit Wirkung vom 7. März an stattgegeben. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch; sie begehrte Zuerkennung auch für die Zeit vom 1. bis zum 6. März, da sie schon ab 1. März gesundgeschrieben worden sei und sich bei ihrer Meldung an die ihr bekanntgegebene Meldezeit gehalten habe.

Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Die zugelassene Berufung der Klägerin wies das Landessozialgericht (LSG) zurück. Es war der Auffassung, daß von einem "Ruhen" des Alg nach § 77 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) nur gesprochen werden könne, wenn ein Arbeitsloser trotz des Bezuges von Krankengeld noch Anspruch auf Alg habe. Ein solcher bestehe jedoch grundsätzlich nur, wenn sämtliche Anspruchsvoraussetzungen erfüllt seien und u. a. Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung vorliege. Beeinträchtige aber die Krankheit, für die Krankengeld bezogen werde, das Leistungsvermögen so sehr, daß der Arbeitslose während ihrer Dauer nicht zur Verfügung stehe, entfalle ein Anspruch auf Alg, und damit könne die Ruhensbestimmung des § 77 AVAVG keine Anwendung finden. Da die Krankheit der Klägerin ihre Arbeitsunfähigkeit und ihre vorübergehende Nichtverfügbarkeit für den allgemeinen Arbeitsmarkt bewirkt habe, sei ihr Anspruch auf Alg daher gemäß §§ 74, 76 AVAVG erloschen. Es habe allerdings keiner förmlichen Entziehung dieses Anspruchs bedurft, weil sich die Klägerin mit Beginn ihrer Krankheit abgemeldet habe. Damit sei eine Unterbrechung ihres Alg-Anspruchs eingetreten. Ein Anspruch auf Wiederbewilligung habe ihr daher frühestens vom Zeitpunkt ihrer Meldung am 7. März 1960 zugestanden. Der Einwand der Klägerin, aus dem ihr übergebenen Merkblatt gehe nicht hervor, wann sich ein wieder gesundgeschriebener Arbeitsloser beim Arbeitsamt melden müsse, sei ohne ohne Bedeutung. Dies gelte um so mehr, als sich aus dem Merkblatt ergebe, daß sich jeder Arbeitslose vor Inanspruchnahme von Alg oder Arbeitslosenhilfe (Alhi) bei der Arbeitsvermittlung als arbeitslos gemeldet haben müsse, weil die Vermittlung in Arbeit jedem Leistungsbezug vorgehe. Revision wurde zugelassen.

Gegen das Urteil legte die Klägerin Revision ein. Sie ist der Ansicht, es handele sich bei der Ruhensbestimmung des § 77 AVAVG gegenüber § 76 um eine Sondervorschrift, die vorgehe. Außerdem komme es bei § 77 nicht auf den Grad der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung an, weil lediglich von dem Zusammentreffen von Arbeitslosen- und Krankengeld die Rede sei. Andernfalls wäre § 77 in der Mehrzahl aller Fälle überflüssig, was vom Gesetzgeber nicht gewollt sein könne. Ferner sei ihr der Anspruch auf Alg und dessen Auszahlung gemäß § 177 AVAVG durch formellen, schriftlichen Bescheid bewilligt worden. Nach den Regeln des Verwaltungsrechts könne ein derartiger Verwaltungsakt nur in der gleichen Form widerrufen, aufgehoben oder zurückgenommen werden, in der er erlassen sei. Wenn die Beklagte den bewilligten Anspruch auf Alg gemäß § 185 AVAVG habe entziehen wollen, hätte es hierfür eines formellen Bescheides bedurft, der jedoch nicht ergangen sei.

Hilfsweise rügt die Klägerin noch mangelnde Sachaufklärung durch das LSG. Sowohl in der Meldekarte wie auch im Merkblatt für Arbeitslose sei nicht die Pflicht des Arbeitslosen vermerkt, sich unmittelbar nach Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit beim Arbeitsamt zu melden. Das LSG hätte daher aufklären müssen, ob die Klägerin auf diese Pflicht zumindest von ihrer zuständigen Vermittlungsstelle bei ihrer Arbeitsunfähigkeitsmeldung genügend hingewiesen worden sei. Ein diesbezügliches Verschulden der Vermittlungsstelle gehe zu Lasten der Beklagten.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des Bayerischen LSG vom 3. April 1963 und des SG München vom 24. November 1960 sowie den Bescheid der Beklagten vom 8. März 1960 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18. Mai 1960 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Arbeitslosengeld für die Zeit vom 1. März bis 6. März 1960 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II.

Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist zulässig und begründet.

Die Klägerin hatte trotz der Bewilligungsverfügung vom 2. Oktober 1959 für die Zeit vom 5. bis zum 29. Februar 1960 keinen Anspruch auf Alg, weil sie wegen ihrer Erkrankung der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stand und damit eine Voraussetzung für die Leistung nicht erfüllte (§ 76 AVAVG). Die Beklagte wäre daher berechtigt gewesen, ihr das Alg für die Zeit vom 5. Februar 1959 an nach § 185 AVAVG zu entziehen, und zwar durch förmlichen Bescheid. Wäre dies geschehen, so hätte die Klägerin wegen § 185 Abs. 5 AVAVG nach ihrer Gesundung nur dann wieder Alg erhalten können, wenn sie es erneut beantragt und die zur Entscheidung zuständige Stelle das (Wieder)Vorliegen der Voraussetzungen - darunter auch die erneute Arbeitslosmeldung - festgestellt hätte. Diesen Weg der Entziehung hat die Beklagte jedoch nicht gewählt, sondern sie hat lediglich die Krankmeldung auf der Meldekarte eingetragen und das Alg vom 5. Februar 1960 an nicht mehr gezahlt.

Bei dieser Handhabung ist der Alg-Anspruch mit dem Wiedereintritt der Verfügbarkeit wieder uneingeschränkt wirksam geworden. Die Rechtslage ist praktisch genauso wie im Falle des § 77 AVAVG, wo der Alg-Anspruch ruht, wenn er mit einem Anspruch u. a. auf Krankengeld zusammentrifft. Zwar ist jene Vorschrift auf den vorliegenden Fall nicht unmittelbar anzuwenden; denn sie hat zur Voraussetzung, daß neben dem Anspruch auf Krankengeld auch ein solcher auf Alg besteht, und das gerade war bei der Klägerin wegen Fehlens der Verfügbarkeit nicht der Fall. Wäre aber § 77 anzuwenden, so würde der während der Nichtverfügbarkeit ruhende Alg-Anspruch von dem Zeitpunkt an ohne ausdrückliche Bewilligung in gleicher Weise wiederaufleben, in dem die Verfügbarkeit wieder eingetreten war, ohne daß eine neue Meldung oder ein Antrag erforderlich wäre. Dem Senat erscheint deshalb für Fälle der vorliegenden Art eine entsprechende Anwendung des § 77 AVAVG geboten. Der Anspruch auf Alg ruht mithin auch in Fällen, in denen jemand wegen Arbeitsunfähigkeit der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung steht und Krankengeld bezieht, ohne daß ihm das Alg für die Dauer der Erkrankung ausdrücklich entzogen worden ist.

Im vorliegenden Fall kommt noch hinzu, daß ein Arbeitsloser aus dem Merkblatt nicht entnehmen konnte, wie er sich zu verhalten hatte. Es heißt dort nur, er habe sich unverzüglich unter Angabe des Grundes beim Arbeitsamt abzumelden (was die Klägerin getan hat), und weiter, er habe, wenn der Bezug unterbrochen war, den Arbeitsvermittler aufzusuchen, um Nachteile zu vermeiden. Bei dieser Fassung des Merkblatts konnte man davon ausgehen, daß nicht unmittelbar nach Beendigung der Erkrankung erneut ein förmlicher Antrag gestellt werden müsse, sondern daß das bisher bewilligte Alg automatisch wiederaufleben werde. Es genügt somit in derartigen Fällen, wenn der Arbeitslose an dem nächsten für ihn zuständigen Meldetag wieder beim Arbeitsamt vorspricht. Erfolgt die Meldung allerdings noch später, so muß nach § 98 AVAVG das Alg für den Meldezeitraum versagt werden.

Die Beklagte war daher wie geschehen zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2529977

BSGE, 286

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