Leitsatz (amtlich)

1. Rechtserhebliches tatsächliches Vorbringen der Beteiligten, das von den Feststellungen der ersten Instanz abweicht, muß im Tatbestand des Berufungsurteils wiedergegeben sein.

2. Hat ein Verstoß gegen diesen Grundsatz zur Folge, daß das Urteil keine sichere Grundlage für die Nachprüfung in der Revisionsinstanz bietet, so liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel vor, der bei einer statthaften Revision von Amts wegen zu beachten ist.

 

Normenkette

SGG § 136 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 153 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. April 1956 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Am 2. Juli 1954 stellte die Klägerin Versorgungsantrag. Sie machte geltend, sie habe sich durch häufigen Aufenthalt im Luftschutzkeller Gelenkrheuma zugezogen. Dieses Leiden habe sich zwar in den Jahren 1940 und 1941 nach einer Kur in Bad Salzuflen gebessert; später sei es jedoch durch ihre Evakuierung und das Wohnen in kalten Räumen sowie durch den Mangel an ärztlicher Betreuung und Medikamenten wieder schlimmer geworden, so daß sie seit dem 2. Mai 1950 gehbehindert sei.

Das Versorgungsamt lehnte den Versorgungsantrag durch Bescheid vom 10. Juli 1954 ab, weil die Antragsfrist des § 56 Bundesversorgungsgesetz (BVG) versäumt sei und ein Tatbestand des § 57 BVG, der die Geltendmachung des Rentenanspruchs auch nach Ablauf der Antragsfrist gestatte, nicht vorliege. Den Widerspruch, den die Klägerin darauf stützte, daß sie in der Hoffnung auf Besserung ihres Leidens trotz dessen Verschlimmerung im Mai 1950 zunächst noch von einem Rentenantrag abgesehen habe, wies das Landesversorgungsamt durch Bescheid vom 3. September 1954 zurück.

Mit der Klage beantragte die Klägerin sinngemäß, ihr unter Aufhebung der ablehnenden Bescheide Versorgungsrente einschließlich Pflegezulage zuzuerkennen. Sie habe zwar lange Zeit mit einer Besserung ihres Leidens gerechnet und deshalb keinen Antrag auf Versorgungsrente gestellt. Nach dem 30. September 1952 sei das Leiden aber täglich schlimmer geworden. Verschiedene Gelenke seien steif und ihr Leiden nehme weiter zu. Dies könne von ihrem Arzt, ihrem Ehemann und von ihren Nachbarn bestätigt werden. Zur Verhandlung könne sie nur mittels Krankenwagen und Tragbahre erscheinen. Invalidenrente habe sie am 1. Mai 1950 beantragt und erhalten.

Das Sozialgericht (SG.) wies die Klage ab und führte zur Begründung aus, nach §§ 56 und 84 BVG hätte die Klägerin ihren Antrag bis zum 30. September 1952 stellen müssen. Da sie dies erst am 2. Juli 1954 getan habe, sei der Antrag verspätet. Ein Ausnahmetatbestand nach § 57 BVG liege nicht vor, denn das Leiden der Klägerin habe sich nach ihren eigenen Angaben im Mai 1950 verschlimmert und sie sei durch nichts gehindert gewesen, den Versorgungsantrag rechtzeitig zu stellen. Wenn sie dies in der Hoffnung auf Besserung unterlassen habe, so rechtfertige das die verspätete Antragstellung nicht. Die Klage sei aber auch deshalb unbegründet, weil die Gesundheitsstörungen auf Zustände zurückgeführt würden, die nicht als unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des BVG anerkannt werden könnten, da ihnen seinerzeit alle Bevölkerungskreise für längere Zeit ausgesetzt waren.

Mit der Berufung machte die Klägerin geltend, ihre persönlichen Verhältnisse seien nicht geprüft worden. Sie wiederholte ihren Klagevortrag und wies darauf hin, daß sie als kranke, gelähmte Frau an ihre Wohnung gefesselt sei. Sie beantragte sinngemäß, ihr unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und der angefochtenen Bescheide Versorgungsrente mit Pflegezulage zu gewähren. Der Beklagte bat, die Berufung zurückzuweisen.

Das Landessozialgericht (LSG.) wies mit Urteil vom 26. April 1956 die Berufung zurück; Revision wurde nicht zugelassen. Im Tatbestand seines Urteils gab das LSG. neben der Prozeßgeschichte nur den Antrag des Beklagten wieder und nahm im übrigen auf die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten Bezug. Zur Begründung führte es aus, der angefochtene Bescheid sei rechtmäßig, weil die Klägerin ihren Antrag verspätet gestellt habe und ein Ausnahmefall nach § 57 BVG - wie im sozialgerichtlichen Urteil näher dargelegt sei - nicht vorliege.

Mit der am 28. Juni 1956 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingelegten Revision macht die Klägerin geltend, das LSG. hätte ihre Berufung nicht zurückweisen dürfen, ohne zuvor zu klären, wann ihr Leiden einen rentenberechtigenden Grad erreicht und ob es sich in den letzten 6 Monaten vor Antragstellung wesentlich verschlimmert habe, Zu Ermittlungen in dieser Richtung habe Anlaß bestanden, denn die Klägerin habe in der Klage und in der Berufung darauf hingewiesen, daß ihr Leiden von Tag zu Tag zunehme; auch ihre krankheitsbedingte völlige Hilflosigkeit sei daraus erkennbar gewesen. Den nötigen Aufschluß über die Entwicklung ihres Leidens hätte sich das LSG. durch Einvernahme des behandelnden Arztes verschaffen können. Wäre dies geschehen, so hätte sich herausgestellt, daß das Leiden zwar schon vor Mai 1950 begonnen, sich aber erst viel später wesentlich verschlimmert habe. Das Berufungsgericht habe es sich zu einfach gemacht, wenn es kurzerhand auf die Ausführungen des Erstrichters Bezug genommen habe, zumal diese den Verhältnissen der Klägerin in keiner Weise gerecht geworden seien. Auch materiell könne der Versorgungsanspruch nicht in Zweifel gezogen werden, denn die Klägerin sei nicht nur der allgemeinen Belastung durch den Aufenthalt in Luftschutzräumen ausgesetzt gewesen, sondern habe sich infolge ihrer Evakuierung in ungeheizten Wohnräumen aufhalten, bei einem Fliegerangriff in Stendal mitten im Winter in einem Laufgraben Schutz suchen und beim Rücktransport nach Ruhrort im Dezember 1945 12 Tage in offenen Waggons zubringen müssen.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide und des angefochtenen Urteils zur Anerkennung ihrer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge und zur Gewährung von Versorgung nach dem BVG zu verurteilen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Ein wesentlicher Verfahrensmangel sei nicht gerügt, über den ursächlichen Zusammenhang bestünde kein Streit.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist auch statthaft und damit zulässig, denn die Klägerin rügt mit Erfolg einen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG. (§§ 160, 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).

Das LSG. hat die ihm obliegende Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) verletzt, weil es angenommen hat, ein Ausnahmefall nach § 57 BVG, der die Klägerin berechtige, ihren Versorgungsanspruch nach Ablauf der Frist des § 56 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 letzter Halbsatz BVG anzumelden, sei nicht gegeben, ohne sich zuvor die für diese Annahme nötige Gewißheit über den Verlauf des Leidens der Klägerin zu verschaffen. Dies rügt die Revision mit Recht, wenn sie vorträgt, das LSG. habe es zu Unrecht unterlassen, die Entwicklung des Leidens im einzelnen zu ermitteln, obwohl Klage und Berufungsschrift Anlaß hierzu gegeben hätten. Danach habe das Leiden zwar schon vor Mai 1950 begonnen und es habe sich im Mai 1950 die erste Gehbehinderung eingestellt; indessen habe die Klägerin mehrfach darauf hingewiesen, das Leiden nehme von Tag zu Tag zu und mache sie nunmehr völlig hilflos und gehunfähig. Daraus sei ersichtlich gewesen, daß eine wesentliche Verschlimmerung des Leidens nicht schon im Mai 1950, sondern erst viel später eingetreten sei. Den nötigen Aufschluß hierüber habe sich das LSG. durch die von der Klägerin angeregte Einvernahme des behandelnden Arztes verschaffen können, die eine Bestätigung ihrer Angaben ergeben hätte. Das LSG. habe jedoch davon abgesehen.

Nach der Rechtsprechung des BSG. kommt es für die Frage, ob das Berufungsgericht seine Sachaufklärungspflicht und damit § 103 SGG verletzt hat, darauf an, ob der dem LSG. zur Zeit der Urteilsfällung bekannte Sachverhalt von dessen sachlich-rechtlichem Standpunkt aus zur Entscheidung des Rechtsstreits ausreichte oder ob er das LSG. zu weiteren Ermittlungen drängen mußte (vgl. BSG. in SozR. SGG § 103 Bl. Da 2 Nr. 7). Zutreffend ging das LSG. davon aus, der Antrag der Klägerin sei nicht innerhalb der Frist des § 56 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 letzter Halbsatz BVG gestellt worden. Deshalb kam es nach Auffassung des LSG. darauf an, ob der Antrag gemäß § 57 BVG nach Ablauf dieser Frist noch gestellt werden durfte. Anhaltspunkte für einen Tatbestand nach § 57 Abs. 1 Nr. 2 BVG ergaben sich aus der Klage, der Berufungsschrift und den übrigen Schriftsätzen der Klägerin. Nachdem zunächst von einer Gehbehinderung ab Mai 1950 die Rede war, hatte die Klägerin schon in der Klage vorgetragen, ihr Leiden sei nach dem 30. September 1952 täglich schlimmer geworden, verschiedene Gelenke seien steif geworden und ihr Leiden nehme täglich weiter zu, was ihr Hausarzt, ihr Ehemann und ihre Nachbarn bestätigen könnten. Sie hatte darauf hingewiesen, daß sie zur Verhandlung nur mittels Krankenwagen und Tragbahre erscheinen könne und war der Verhandlung deshalb ferngeblieben. Mit der Berufung hatte sie geltend gemacht, ihre Verhältnisse seien noch nicht geprüft worden. Sie sei jetzt eine kranke, gelähmte Frau, die ihre Wohnung nicht mehr verlassen könne. Ihr Leiden verschlimmere sich täglich. Unter diesen Umständen konnte das LSG. eine wesentliche Verschlimmerung des Leidens innerhalb von 6 Monaten vor der Antragstellung oder später und damit die Berechtigung, den Versorgungsantrag nachträglich zu stellen, nicht ohne genaue Kenntnis und medizinische Beurteilung des Krankheitsverlaufs ausschließen. Der dem LSG. zur Zeit der Urteilsfällung bekannte Sachverhalt drängte vielmehr zu entsprechenden Ermittlungen, die sich das LSG. auf dem von der Klägerin bereits in erster Instanz vorgeschlagenen Weg hätte verschaffen können. Da das LSG. dies unterlassen hat, ist es seiner Sachaufklärungspflicht nicht nachgekommen. Im sozialgerichtlichen Verfahren ist jede Verletzung einer zwingenden Verfahrensvorschrift, die aus rechtsstaatlichen Gründen im öffentlichen Interesse erlassen ist, als wesentlicher Verfahrensmangel anzusehen (vgl. BSG. in SozR. SGG § 162 Bl. Da 6 Nr. 28). Da § 103 SGG zu diesen zwingenden Verfahrensnormen gehört, leidet das Verfahren des LSG. an einem wesentlichen Mangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, dessen substantiierte und begründete Rüge die Revision statthaft macht. Im übrigen ist die Rüge der Klägerin auch unter dem Gesichtspunkt des § 128 SGG begründet, denn bei der Beurteilung der Frage, ob und wann sich das Leiden der Klägerin wesentlich verschlimmert hat, durfte das LSG. von der Anhörung eines ärztlichen Sachverständigen nur absehen, wenn es die hierzu erforderliche medizinische Sachkunde selbst besaß und darlegte, worauf diese beruhte (vgl. BSG. in SozR. SGG § 128 Bl. Da 19 Nr. 45). Sein Urteil läßt Ausführungen hierzu vermissen.

Darüber hinaus leidet das angefochtene Urteil an einem Verfahrensmangel, der bei Prüfung der infolge Durchgreifens der Verfahrensrüge statthaft gewordenen Revision von Amts wegen zu berücksichtigen ist, weil er dem Berufungsurteil die Fähigkeit nimmt, Grundlage des weiteren Verfahrens, insbesondere eines auf die Sache eingehenden Revisionsurteils zu sein (vgl. BSG-Bd. 2 S. 254, Bd. 7 S. 230 (234)). Das angefochtene Urteil verletzt nämlich § 136 SGG, der nach § 153 Abs. 1 SGG auch für das Berufungsverfahren gilt. Der Tatbestand des landessozialgerichtlichen Urteils entspricht nicht den Anforderungen dieser Vorschrift. Wenn auch nach § 136 Abs. 2 Satz 1 SGG die Darstellung des Tatbestandes durch Bezugnahme auf den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze ersetzt werden kann, soweit sich aus ihnen der Sach- und Streitstand richtig und vollständig ergibt, so sind doch nach Satz 2 dieser Bestimmung in jedem Fall die erhobenen Ansprüche genügend zu kennzeichnen. Im Berufungsurteil ist daher das Berufungsbegehren nach Gegenstand und Grund stets kurz darzustellen. Dies kann nicht durch Verweisung auf das erstinstanzliche Urteil geschehen. Von dieser Verpflichtung ist das Berufungsgericht auch dann nicht befreit, wenn es nach Lage der Akten entscheidet und sich das Berufungsbegehren aus den vorbereitenden Schriftsätzen ergibt, weil andernfalls für das Revisionsgericht nicht nachprüfbar wäre, worin das Berufungsgericht das Berufungsbegehren erblickt und ob es darüber entschieden hat (§ 123 SGG). Das angefochtene Urteil läßt diese Kennzeichnung des Berufungsbegehrens vermissen. Im übrigen hat es auch das wesentliche tatsächliche Vorbringen der Berufung verkannt. Dieses bestand darin, die Feststellung des Erstrichters zu überprüfen, nach der sich das Leiden der Klägerin nur im Mai 1950 wesentlich verschlimmert hatte, und sie durch die Feststellung einer längstens 6 Monate vor Antragstellung eingetretenen wesentlichen Verschlimmerung zu ersetzen. Dieses entscheidende Anliegen der Berufung hat das LSG. weder im Tatbestand noch in den Gründen erwähnt, sondern nur die Rechtsauffassung zu dem vom Erstrichter festgestellten nach der Behauptung der Berufung unzutreffenden Sachverhalt überprüft. Hat aber das Berufungsurteil rechtserhebliches Vorbringen der Berufung weder erkannt, noch festgestellt, noch gewürdigt, so erfüllt es seine Funktion im Instanzenzug nicht und kann nicht Grundlage eines ordnungsgemäßen Revisionsverfahrens sein (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts 7. Aufl. S. 247 und 686; Peters-Sautter-Wolff, Komm. z. SGG § 136 Anm. 5 letzter Absatz; Baumbach-Lauterbach, Komm.z.ZPO, 25. Aufl., § 313 Anm. 4 E; Stein-Jonas, Komm.z.ZPO, 18. Aufl., § 551 Anm. II 7c).

Da nicht auszuschließen ist, daß das Urteil des LSG. bei Beachtung der §§ 103, 128 und 136 SGG anders ausgefallen wäre, beruht es auf der Verletzung dieser Vorschriften (§ 162 Abs. 2 SGG). Die Revision ist somit begründet und muß zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen führen. Da die Feststellungen des LSG. als mangelhaft aufzuheben sind und die Sache hinsichtlich der Entwicklung des Leidens der Klägerin noch weiterer Aufklärung bedarf, ist eine Entscheidung des Senats in der Sache selbst nicht möglich. Der Rechtsstreit mußte daher zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).

Bei seiner neuen Verhandlung und Entscheidung wird das LSG. auch die Rechtsprechung des BSG., insbesondere des erkennenden Senats über die Besetzung eines Senats des LSG. mit zwei an das LSG. abgeordneten Sozialgerichtsräten als Hilfsrichter zu beachten haben (vgl. BSG. Bd. 9 S. 137, SozR. SGG § 216 Bl. Da 1 Nr. 10).

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

NJW 1960, 1077

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