Entscheidungsstichwort (Thema)

Verwertung von gerichtskundigen Tatsachen

 

Orientierungssatz

Ein Verstoß gegen SGG § 128 Abs 2 sowie eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegen vor, wenn Gerichtskunde verwertet wird, ohne die Beteiligten zuvor darauf hinzuweisen.

 

Normenkette

SGG § 170 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1953-09-03, § 62 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 13.10.1976; Aktenzeichen L 4 An 24/75)

SG Lübeck (Entscheidung vom 04.02.1975; Aktenzeichen S 7 An 173/74)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 13. Oktober 1976 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) bzw Berufsunfähigkeit (BU) zu gewähren ist.

Die 1918 geborene Klägerin war nach einer kaufmännischen Lehre als Kontoristin, Kanzleiangestellte und Verwaltungsangestellte beschäftigt. Seit November 1973 ist sie arbeitsunfähig krank.

Den im Januar 1974 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte nach Einholung medizinischer Gutachten mit Bescheid vom 14. März 1974 ab, weil die Klägerin in ihrem bisherigen Beruf (als Protokollführerin) noch mindestens halbschichtig tätig sein könne.

Der Klage auf Gewährung einer Rente wegen EU, hilfsweise wegen BU gab das Sozialgericht mit Urteil vom 4. Februar 1975 im Hilfsantrag statt; das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und auf die der Beklagten die Klage in vollem Umfang abgewiesen (Urteil vom 13. Oktober 1976). Nach seiner Ansicht ist die Klägerin nicht berufsunfähig und erst recht nicht erwerbsunfähig. Ihr Leistungsvermögen lasse die Verrichtung leichter körperlicher und einfacher geistiger Arbeiten im Wechsel zwischen Sitzen und Stehen mit den üblichen Pausen ohne Zeitdruck, besondere Verantwortung oder ständigen Publikumsverkehr zu. Arbeiten dieser Art seien der Klägerin "etwa bis zur Jahresmitte 1975" vollschichtig zumutbar gewesen. In Betracht kämen Tätigkeiten in der Postein- und -ausgangsstelle sowie das Führen von Listen, Karteien und Registraturen. Nach der gesicherten Erfahrung, die der LSG-Senat "in zahlreichen im wesentlichen gleichgelagerten Streitfällen aufgrund von Stellungnahmen berufskundiger Sachverständiger gewonnen" habe, stellten diese Arbeiten keine besonderen Anforderungen an das Leistungsvermögen. Für die Zeit ab der Jahresmitte 1975 könne die Klägerin die angeführten Arbeiten halb- bis untervollschichtig ausführen. Dabei sei ihr der Teilzeitarbeitsmarkt nicht praktisch verschlossen. Dies gehe aus den in anderen Streitverfahren durchgeführten Ermittlungen, insbesondere den Auskünften der Bundesanstalt für Arbeit über weibliche Teilzeitarbeitskräfte im Bereich der Dienstleistungsberufe hervor.

Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision beantragt die Klägerin (sinngemäß),

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben bzw. abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr Rente wegen EU ab 1. Juni 1974, mindestens wegen BU zu gewähren.

Zur Begründung beruft sie sich auf den Beschluß des Großen Senats des BSG vom 10. Dezember 1976 zur Teilzeitarbeit. Darüber hinaus macht sie als Verfahrensmangel geltend, das LSG habe sich auf gerichtskundige Tatsachen gestützt, die es ihr nicht bekanntgemacht habe und zu denen sie sich nicht habe äußern können.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist insofern begründet, als der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Soweit es sich um die Zeit vom 1. Juni 1974 bis zur "Jahresmitte 1975" handelt, rügt die Klägerin mit Recht einen wesentlichen Verfahrensmangel. Das Berufungsgericht hat sich bei der Feststellung der für die Klägerin nach ihrem Leistungsvermögen geeigneten Arbeiten auf eine "gesicherte Erfahrung" berufen, die es in "zahlreichen, im wesentlichen gleichgelagerten Streitfällen" gewonnen habe. Damit haben die Richter des LSG ihre Gerichtskunde verwertet. Wollten sie das aber tun, dann hätten sie die Beteiligten hierauf hinweisen und ihnen Gelegenheit geben müssen, sich dazu zu äußern. Daß dies geschehen ist, kann weder dem angefochtenen Urteil noch den vorliegenden Akten des LSG entnommen werden. Da das LSG somit die als gerichtsbekannt angesehenen Tatsachen nicht zum Gegenstand der Verhandlung gemacht hat, hat es den - nach Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes, § 62 SGG bestehenden - Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt (BSGE 22, 19, 20; SozR Nr 91 zu § 128 SGG; SozR 1500 § 128 Nr 4) und zugleich gegen § 128 Abs 2 SGG verstoßen; es hat seine Entscheidung auf (gerichtskundige) Tatsachen gestützt, zu denen sich die Klägerin nicht äußern konnte (BSG, a.a.O.). Auf diesem Verfahrensmangel beruht das angefochtene Urteil für die Zeit bis zur Jahresmitte 1975, weil sich nicht ausschließen läßt, daß das Berufungsurteil für diese Zeit bei rechtlich einwandfreier Verfahrensweise anders ausgefallen wäre.

Für die folgende Zeit braucht der Senat auf Verfahrensrügen nicht einzugehen. Insoweit kann das Urteil des LSG jedenfalls aus materiell-rechtlichen Gründen keinen Bestand haben. Das LSG hat sein Urteil für die Zeit "ab Jahresmitte 1975" noch an den Grundsätzen zur Teilzeitarbeit ausgerichtet, die der Große Senat des BSG in den Beschlüssen vom 11. Dezember 1969 (BSGE 30, 167 und 192) aufgestellt hatte. An der dort vertretenen Auffassung hat der Große Senat in seinem Beschluß vom 10. Dezember 1976 (BSGE 43, 75) nicht mehr festgehalten. Er hat für die Beurteilung, ob der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen ist, neue Grundsätze entwickelt. Danach ist der Teilzeitarbeitsmarkt in der Regel praktisch verschlossen, wenn es weder dem Rentenversicherungsträger noch dem zuständigen Arbeitsamt gelingt, dem Versicherten innerhalb eines Jahres seit der Stellung des Rentenantrages einen ihm entsprechenden Teilzeitarbeitsplatz anzubieten.

Die nach den neuen Richtlinien erforderliche Prüfung der Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes für die Zeit ab Jahresmitte 1975 ist bisher noch nicht erfolgt. Da der Senat sie nicht selbst vornehmen kann, muß der Rechtsstreit somit im ganzen an das LSG zurückverwiesen werden. Das LSG hat damit Gelegenheit, für die Anspruchszeit bis zur Jahresmitte 1975 nun verfahrensrechtlich einwandfreie Feststellungen zu treffen und für die folgende Zeit die zur Teilzeitarbeit neu entwickelten Grundsätze anzuwenden.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651603

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