Entscheidungsstichwort (Thema)

Ursachenzusammenhang zwischen einer körperlichen Anstrengung im Beruf und einer Netzhautablösung. Erläuterung eines schriftlichen Gutachtens durch den Sachverständigen. rechtliches Gehör. Fragerecht des Beteiligten

 

Leitsatz (redaktionell)

Wird in dem schriftlichen Gutachten zwr die Möglichkeit diskutiert, daß die Anstrengung zum Abriß eines Ziliarkörpers geführt haben könnte, so daß zunächst ein Sekundärglaukom und schließlich eine Netzhautablösung hätte entstehen können, dies aber nicht zu beweisen sei, und liegen weitere Gutachten vor, die die Netzhautablösung als Folge einer anlagebedingten hochgradigen Myopie mit degenerativen Glaskörper- und Netzhautveränderungen darstellen, so sind Fragen insoweit objektiv sachdienlich, als nicht auszuschließen ist, daß der Sachverständige sie in einer Weise beantwortet, die zu einer anderen Entscheidung führen kann. Sachdienlich sind in einem derartigen Zusammenhang Fragen, inwieweit das angegebene Ereignis geeignet sei, eine posttraumatische Netzhautablösung führen, ob der vom Sachverständigen dargelegte Ziliarabriß mit Versickerung des Glaskörpers hinter die Netzhaut wahrscheinlich auf das indirekte Trauma zurückgehe, ob der Ziliarkörperabriß nachzuweisen sei und welche Brückensymptome nach der Lehre von Hollwich vorliegen.

 

Orientierungssatz

Nach ZPO § 411 Abs 3, der im sozialgerichtlichen Verfahren nach SGG § 118 Abs 1 entsprechend anzuwenden ist, kann das Gericht, das ein schriftliches Gutachten eingeholt hat, das Erscheinen des Sachverständigen anordnen, damit er das schriftliche Gutachten erläutert. Wie das BSG bereits wiederholt entschieden hat, muß das Gericht, wenn es den Sachverständigen nicht von sich aus lädt, dies auf Antrag einer Partei tun, die an den Sachverständigen zur Ergänzung des Gutachtens sachdienliche Fragen richten will (vgl BSG 1961-05-05 1 RA 67/60 = SozR Nr 160 zu § 162 SGG). Das Gericht darf den Antrag ablehnen, wenn er offensichtlich nur zum Zwecke der Prozeßverschleppung oder sonst mißbräuchlich gestellt wird oder der Antrag nicht erkennen läßt, welche der Aufklärung des Sachverhalts objektiv dienliche Fragen an den Sachverständigen gestellt werden sollen. Die Ausübung des Fragerechts ist Ausfluß des Rechts der Beteiligten auf rechtliches Gehör. In der unberechtigten Ablehnung des Antrags liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel.

 

Normenkette

ZPO § 411 Abs. 3; SGG § 160 Fassung: 1974-07-30, § 62 Fassung: 1953-09-03, § 116 Fassung: 1953-09-03; RVO § 548

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 26.05.1978; Aktenzeichen L 3 U 143/77)

SG Speyer (Entscheidung vom 18.03.1977; Aktenzeichen S 16 U 106/76)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. Mai 1978 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der Kläger ist selbständiger Landwirt. Er ist mit seinem Begehren, ihm wegen einer Netzhautablösung, die er auf Arbeiten bei dem Aufbrechen eines Betonbodens in einem Stall zurückführt, Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren, ohne Erfolg geblieben (Bescheid vom 27. Oktober 1975; Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 1976; Urteil des Sozialgerichts - SG - Speyer vom 18. März 1977; Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Rheinland-Pfalz vom 26. Mai 1978). Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der im Frühjahr 1974 aufgetretenen Augenerkrankung des Klägers und den von ihm am 14. Januar 1974 verrichteten landwirtschaftlichen Arbeiten nicht bestehe. Nach den im wesentlichen übereinstimmenden gutachtlichen Äußerungen der Sachverständigen der Universitätsaugenklinik M, aber auch der Sachverständigen Dr. Sch (Gutachten vom 28. Januar 1977), könne ein ursächlicher Zusammenhang schon deshalb nicht als wahrscheinlich angesehen werden, weil nach allgemeiner ärztlicher Erfahrung die bei dem Kläger im März 1974 festgestellte Netzhautablösung eine Folge der anlagebedingten hochgradigen Myopie mit degenerativen Glaskörper- und Netzhautveränderungen beider Augen sei. Die gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als Sachverständige gehörte Augenärztin Dr. Sch habe zwar die Möglichkeit diskutiert, daß die angeschuldigte Anstrengung zum Abriss eines Ziliarkörpers geführt haben könnte, so daß zunächst ein Sekundärglaukom und schließlich eine Netzhautablösung hätten entstehen können. Sie habe jedoch selbst ausgeführt, daß ein solcher Verlauf nicht zu beweisen sei. Damit sei diese Überlegung nicht geeignet, eine andere rechtliche Beurteilung zu begründen. Den Antrag des Klägers, die Sachverständige Dr. Sch zur Erläuterung ihres Gutachtens zu laden, hat das LSG abgelehnt, da weder die festgestellten ärztlichen Befunde noch die sonstigen Umstände für einen Unfallzusammenhang sprächen.

Auf die Beschwerde des Klägers hat des Bundessozialgericht (BSG) durch Beschluß vom 31. Oktober 1978 (2 BU 139/78) die Revision zugelassen.

Der Kläger hat das Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Das LSG habe die Vorschriften der §§ 103, 118 SGG iVm § 411 Abs 3 der Zivilprozeßordnung (ZPO) verletzt. Er habe bereits im erstinstanzlichen Verfahren mehrfach und auch in der Berufungsbegründung vom 30. August 1977 (richtig: 14. September 1977) sowie in der mündlichen Verhandlung vom 26. Mai 1978 beantragt, die Sachverständige Dr. Sch zur Erläuterung ihres Gutachtens zu laden. Er habe im einzelnen angegeben, welche Fragen er ihr zu stellen beabsichtige. Da das LSG die Sachverständige nicht geladen habe, sei sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden. Überdies wäre die Einholung eines weiteren Gutachtens unter Beiziehung aller Krankenunterlagen geboten gewesen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 26. Mai 1978 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, daß das BSG zwar im Hinblick auf einen Mangel des Verfahrens des Berufungsgerichts die Revision zugelassen, jedoch das LSG gleichwohl in der Sache zutreffend entschieden habe. Die Auffassung des Klägers, es sei bei ihm durch Überanstrengung bei der betrieblichen Tätigkeit zu einem indirekten Trauma auf das Auge gekommen, finde weder in den tatsächlichen Feststellungen des LSG noch in der herrschenden medizinischen Lehre eine hinreichende Stütze.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet.

Das LSG hat § 411 Abs 3 ZPO verletzt, der im sozialgerichtlichen Verfahren nach § 118 Abs 1 SGG entsprechend anzuwenden ist (vgl BSG SozR Nr 160 zu § 162 SGG).

Nach dieser Vorschrift kann das Gericht, das ein schriftliches Gutachten eingeholt hat, das Erscheinen des Sachverständigen anordnen, damit er das schriftliche Gutachten erläutere. Wie das BSG bereits wiederholt entschieden hat, muß das Gericht, wenn es den Sachverständigen nicht von sich aus lädt, dies auf Antrag einer Partei tun, die an den Sachverständigen zur Ergänzung des Gutachtens sachdienliche Fragen richten will (SozR aaO; VersorgB 1974, 143; SozSich 1975 Rspr Nr 2947; vgl auch Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 160 Anm 7a S III/80-43/20 und Anm 7c S III/80-34/38-1; Meyer-Ladewig, SGG, § 118 Anm 12). Das Gericht darf den Antrag ablehnen, wenn er offensichtlich nur zum Zwecke der Prozeßverschleppung oder sonst mißbräuchlich gestellt wird oder der Antrag nicht erkennen läßt, welche der Aufklärung des Sachverhalts objektiv dienliche Fragen an den Sachverständigen gestellt werden sollen. Die Ausübung des Fragerechts ist Ausfluß des Rechts der Beteiligten auf rechtliches Gehör. In der unberechtigten Ablehnung des Antrags liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel.

Die Fachärztin für Augenheilkunde Dr. Sch hat im erstinstanzlichen Verfahren auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG ein schriftliches Gutachten vom 28. Januar 1977 zu der Frage erstattet, ob die Netzhautablösung ursächlich auf der vom Kläger angeschuldigten Tätigkeit beruht. Der Kläger hat bereits im Schriftsatz vom 2. März 1977 beantragt, die Sachverständige zur mündlichen Erläuterung ihres Gutachtens zu laden. Ihr sollte die Frage vorgelegt werden, ob sie persönlich das vom Kläger angegebene Ereignis für geeignet halte, eine posttraumatische Netzhautablösung herbeizuführen und ob der von ihr dargelegte Ziliarabriss mit Versickerung des Glaskörpers hinter die Netzhaut wahrscheinlich auf das indirekte Trauma zurückgehe. In der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 18. März 1977 hat er zudem beantragt, die Sachverständige Dr. Sch zu befragen, ob der Ziliarkörperabriss nachzuweisen sei und welche Brückensymptome nach der Lehre von Hollwich vorliegen. Das SG hat diesen Antrag als nicht beweiserheblich zurückgewiesen, weil ein Ziliarkörperabriss nicht nachzuweisen sei und nach Hollwich das Auftreten einer Netzhautablösung spätestens 2 Wochen nach dem Ereignis verlangt werde. In der Berufungsbegründung vom 14. September 1977 hat der Kläger nochmals eine Erläuterung des Gutachtens durch die Sachverständige Dr. Sch beantragt und die ihr zu stellenden Fragen im einzelnen benannt. In der mündlichen Verhandlung am 26. Mai 1978 hat er den Antrag wiederholt. Das LSG hat diesen Antrag jedoch mit der Begründung abgelehnt, daß weder die festgestellten ärztlichen Befunde noch die sonstigen Umstände für einen Unfallzusammenhang sprächen und schließlich auch die Auffassungen der Sachverständigen übereinstimmten. Damit hat das LSG das Recht des Klägers, an die Sachverständige Fragen zu stellen, verletzt. Das Fragerecht durfte nicht deshalb abgelehnt werden, weil das LSG den zu beweisenden ursächlichen Zusammenhang zwischen der Netzhautablösung und dem vom Kläger angeschuldigten Ereignis durch das Gutachten der Sachverständigen Dr. Sch bereits als nicht bewiesen ansah. Denn damit wird das rechtliche Gehör des Klägers und sein darauf beruhendes Recht, an Zeugen und Sachverständige sachdienliche Fragen richten zu lassen (§ 116 SGG) in einer dem Zwecke des Gesetzes nicht entsprechenden Weise eingeschränkt. Die vom Kläger sowohl dem SG als auch dem LSG mitgeteilten Fragen, zu denen sich die Sachverständige äußern sollte, waren objektiv sachdienlich. Sie konnten dazu beitragen, die Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Netzhautablösung und dem dafür angeschuldigten Ereignis zu klären. Die Ablehnung des Antrags auf Ladung der Sachverständigen Dr. Sch, damit sie ihr schriftliches Gutachten erläutere, stellt daher eine Verletzung des § 411 Abs 3 ZPO dar. Auf diesem Mangel des Berufungsverfahrens kann das Urteil des LSG auch beruhen. Denn es ist nicht auszuschließen, daß die Sachverständige die Fragen des Klägers in einer Weise beantwortet haben würde, die zu einer anderen Entscheidung des LSG geführt hätten.

Da die Anhörung der Sachverständigen Dr. Sch im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden kann, mußte das Urteil des LSG dem Antrag des Klägers entsprechend aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das LSG zurückverwiesen werden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664542

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