Entscheidungsstichwort (Thema)

Wohnung. gewöhnlicher Aufenthalt. Ausbildung innerhalb eines Beschäftigungsverhältnisses

 

Leitsatz (amtlich)

1. Wohnsitz iS von § 2 Abs 3 BVG ist nur der gewählte Wohnsitz (§§ 7, 8 BGB).

2. Die Zeit einer Ausbildung im Rahmen eines militärischen Dienstverhältnisses ist auch dann keine Ausfallzeit nach § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b AVG (= § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b RVO), wenn sie sich der Form und dem Inhalt nach schulmäßig vollzieht (Fortführung von BSG 1976-11-24 1 RA 131/75 = SozR 2200 § 1255 Nr 6 und BSG 1977-12-07 1 RA 111/76 = SozR 2200 § 1255a Nr 6).

 

Leitsatz (redaktionell)

Was unter Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt zu verstehen ist, ergibt sich für den Bereich des Sozialrechts jetzt aus § 30 Abs 3 SGB 1.

 

Orientierungssatz

Eine sich innerhalb eines allgemeineren Beschäftigungsverhältnisses vollziehende Ausbildung muß versicherungsrechtlich das Schicksal des Beschäftigungsverhältnisses teilen.

 

Normenkette

AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1972-10-16; RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1972-10-16; BVG § 2 Abs. 3; BGB §§ 7-9; SGB 1 § 30 Abs. 3 Fassung: 1975-12-11

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 08.10.1982; Aktenzeichen L 4 An 83/81)

SG Dortmund (Entscheidung vom 09.04.1981; Aktenzeichen S 4 An 71/80)

 

Tatbestand

Streitig ist die Vormerkung der Dienstzeit des Klägers vom 4. November 1941 bis 14. Oktober 1944.

Der Kläger ist 1920 in Ungarn geboren und besitzt seit März 1969 die deutsche Staatsangehörigkeit; als Vertriebener iS von § 1 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) ist er nicht anerkannt.

Ab 4. November 1941 leistete der Kläger in der ungarischen Armee Wehrdienst. Im Rahmen dieses Wehrdienstes besuchte er vom 31. August 1942 bis 6. Dezember 1943 als Kadett die ungarische Fliegerakademie. Mit Wirkung vom 1. September 1943 wurde er zum Leutnant ernannt und leistete ab 6. Dezember 1943 als Berufsoffizier militärischen Dienst. Nach Absolvierung der Fliegerakademie wurde er zu einer Jagdstaffel in der Nähe von Budapest abkommandiert und nahm dort zusammen mit deutschen und ungarischen Flugzeugführern an einem von der Deutschen Luftwaffe organisierten Nachtjagdlehrgang teil. Mitte Oktober 1944 kam er mit anderen ungarischen Fliegeroffizieren nach Schlesien, erhielt eine deutsche Luftwaffenuniform, wurde auf das Großdeutsche Reich vereidigt, in die 3. Staffel des Nachtjagdgeschwaders 102 (3. NJG 102) in Öls eingegliedert und dort in der Nachtjagd ausgebildet. Nach der Räumung von Öls Mitte Januar 1945 gelangte der Kläger auf Umwegen nach Bayern, wo er Ende April 1945 in amerikanische Gefangenschaft geriet. Ende 1945 wurde er nach Ungarn zurückgebracht und bezog dort bis zu seiner förmlichen Entlassung aus der ungarischen Armee am 19. September 1946 ein Gehalt als ungarischer Leutnant, ohne jedoch Dienst zu tun.

Die Beklagte lehnte es auf einen Kontenklärungsantrag des Klägers vom Juni 1978 ab, die Zeit vom 4. November 1941 bis 19. September 1946 als Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 1 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) vorzumerken. Im Laufe des nach erfolglosem Widerspruch anhängig gewordenen Klageverfahrens tat dies die Beklagte für die Zeit vom 15. Oktober 1944 bis zum 31. Dezember 1945. Für die restliche Zeit hat das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers, mit der dieser nur noch die Vormerkung der Zeit vom 4. November 1941 bis zum 14. Oktober 1944 begehrte, hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, die Zeit vom 4. November 1941 bis 6. Dezember 1943 als Ausfallzeit nach § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4b AVG vorzumerken; im übrigen hat es das erstinstanzliche Urteil bestätigt. Zur Begründung hat es ausgeführt, daß es an einem militärischen oder militärähnlichen Dienst iS der §§ 2, 3 Bundesversorgungsgesetz (BVG) in der noch streitigen Zeit fehle, der Besuch der Fliegerakademie aber eine Fachschulausbildung darstelle. Letzteres ergebe sich daraus, daß die theoretische Ausbildung 80 vH der Ausbildungszeit in Anspruch genommen habe. Militärischen Dienst iS von § 2 Abs 1 und 2 BVG habe der Kläger vor dem 15. Oktober 1944 nicht geleistet, weil er bis dahin nur ungarischen Luftwaffeneinheiten unter ungarischem Kommando angehört habe. Auch die Voraussetzungen des § 2 Abs 3 BVG seien nicht erfüllt, weil der Kläger vor dem 9. Mai 1945 keinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt im Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 begründet habe. Insbesondere habe er nicht nach § 9 Abs 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) aF als Militärperson den Wohnsitz in diesem Gebiet gehabt. Der hierfür allein als Garnison in Betracht kommende Flugplatz Öls scheide deswegen aus, weil der dortige Aufenthalt nur der Nachtjagdausbildung gedient habe und deswegen von vornherein vorübergehender Art gewesen sei. Es komme hinzu, daß die Nachtjagdverbände so häufig neu aufgestellt, verlegt und teilweise aufgelöst worden seien, daß es zweifelhaft sei, ob Öls überhaupt als Standort der Einheit des Klägers anzusehen gewesen sei. Die streitige Zeit könne auch nicht als Beitragszeit nach § 15 Fremdrentengesetz (FRG) oder als Beschäftigungszeit nach § 16 vorgemerkt werden.

Das LSG hat die Revision zugelassen. Beide Beteiligten haben von diesem Rechtsmittel Gebrauch gemacht.

Der Kläger rügt eine Verletzung von § 9 BGB. Er habe befehlsgemäß seinen Aufenthalt bei einer Einheit genommen, für die Öls als Standort bestimmt gewesen sei. Daß Öls bereits nach kurzer Zeit habe geräumt werden müssen, habe allein am Kriegsverlauf gelegen. Einen anderen Standort oder ständigen Aufenthalt habe er damals nicht gehabt.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die streitige Zeit als Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 1 AVG vorzumerken.

Die Beklagte rügt eine unrichtige Anwendung von § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG und von § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der Kläger habe die Fliegerakademie nicht als "Fachschüler", sondern als Soldat besucht. Ausbildungen während eines versicherungspflichtigen oder versicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisses seien nicht als Ausfallzeiten zu begünstigen, weil sie kein unverschuldetes Hindernis für eine Beitragsleistung seien. Im übrigen habe das LSG nicht hinreichend geklärt, seit wann der Kläger die Fliegerakademie besucht habe; die Feststellungen hierzu seien widersprüchlich.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil abzuändern und die Berufung des Klägers in vollem Umfang zurückzuweisen.

Beide Beteiligten beantragen, die von der Gegenseite eingelegte Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Beide Revisionen sind zulässig. Zwar hat das LSG die Zulassung der Revision damit begründet, daß der Frage, ob der Besuch einer ungarischen Militärakademie eine Ausfallzeit iS des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG ist, grundsätzliche Bedeutung zukomme; es hätte daher, wenn es nur deswegen die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache bejahen wollte, die Zulassung auf die hilfsweise begehrte Vormerkung einer Ausfallzeit beschränken sollen; da ein dahingehender Wille des LSG in seiner Entscheidung jedoch nicht zum Ausdruck kommt, muß die Revision uneingeschränkt als zugelassen gelten.

Die Revision des Klägers ist nicht begründet.

Die Zeit vom 4. November 1941 bis 14. November 1944 könnte nur dann als Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 1 AVG angerechnet werden, wenn der Kläger in dieser Zeit militärischen oder militärähnlichen Dienst iS der §§ 2 und 3 BVG geleistet hätte. Wie das LSG im einzelnen zutreffend ausgeführt hat, sind die Voraussetzungen des § 2 Abs 1 Buchst a BVG oder des § 3 Abs 1 Buchst b BVG nicht erfüllt; der Kläger war in dieser Zeit ungarischer Soldat, trug eine ungarische Uniform und gehörte Einheiten an, die von ungarischen Offizieren mit eigener Entscheidungsgewalt geführt wurden (vgl BSGE 45, 166 ff; SozR 2200 § 1251 Nr 93). Eine Anwendung von § 2 Abs 2 BVG scheidet aus, weil der Kläger nicht Vertriebener iS von § 1 BVFG ist. Entgegen der Ansicht des Klägers kann die streitige Zeit aber auch nicht nach § 2 Abs 3 BVG einem Dienst in der deutschen Wehrmacht gleichgestellt werden. Zwar ist der Kläger deutscher Staatsangehöriger, er hat auch in der streitigen Zeit in der Wehrmacht eines mit dem Deutschen Reich verbündeten Staates Wehrdienst geleistet; er hat aber, wie das LSG im Ergebnis zutreffend erkannt hat, nicht vor dem 9. Mai 1945 einen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt im Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 gehabt.

Was unter Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt zu verstehen ist, ergibt sich für den Bereich des Sozialrechts jetzt aus § 30 Abs 3 SGB I. Danach hat jemand einen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, daß er die Wohnung beibehalten und benutzen wird, den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Diese Regelung gilt freilich nur für Zeiten seit dem Inkrafttreten des SGB I (§ 30 Abs 1); soweit es auf die Begründung oder Innehabung eines Wohnsitzes in der Vergangenheit ankommt, sind grundsätzlich die Vorschriften des Bürgerlichen Rechts maßgebend geblieben. Hiervon ist auch das LSG ausgegangen, wenn es einen inländischen Wohnsitz des Klägers vor dem 9. Mai 1945 nach dem BGB verneint hat. Ob es - was der Kläger bezweifelt - dabei § 9 BGB aF im einzelnen zutreffend ausgelegt hat, kann auf sich beruhen. Nach Sinn und Zweck des § 2 Abs 3 BVG kommt es nämlich bei der Anwendung dieser Vorschrift nur auf den gewählten Wohnsitz (§§ 7, 8 BGB), nicht aber auf den gesetzlichen Wohnsitz (§§ 9, 10, 11 BGB jeweils geltender Fassung) an. § 2 Abs 3 BVG soll Personen begünstigen, die sich bereits vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland ständig niedergelassen haben. Nur der gewählte Wohnsitz wird aber durch eine ständige Niederlassung begründet, während die Begründung eines gesetzlichen Wohnsitzes in keinem der geregelten Fälle auch nur voraussetzt, daß der Betreffende jemals das Inland betreten hat. Wenn darum nur ein gesetzlicher Wohnsitz im Inland gegeben gewesen sein könnte, fehlt es an einem inneren Grund für eine Anwendung von § 2 Abs 3 BVG. Das gilt insbesondere auch für den gesetzlichen Wohnsitz nach § 9 BGB aF. Der klare Wortlaut des § 2 Abs 3 BVG schließt es aus, die Dienstzeit in verbündeten Streitkräften allgemein bei deutschen Staatsangehörigen deswegen zu berücksichtigen, weil sie vor dem 9. Mai 1945 außerdem noch in der deutschen Wehrmacht gedient haben. Bei Anwendung von § 9 BGB aF müßte aber danach differenziert werden, ob der Betreffende, wenn auch nur vorübergehend, einem deutschen Truppenteil mit einem Standort im Reichsgebiet nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 und nicht Truppenteilen mit Standorten außerhalb davon wie zB Danzig, Wien oder Straßburg angehört hat. Daß dies keinen rechten Sinn ergibt, liegt auf der Hand.

Nach den nicht mit zulässigen und begründeten Rügen angefochtenen und damit für den Senat bindenden Feststellungen des LSG hat der Kläger einen Wohnsitz iS von § 7 BGB oder ständigen Aufenthalt im Inland vor dem 9. Mai 1945 nicht begründet; sonach ist für eine Anwendung von § 28 Abs 1 Nr 1 AVG iVm § 2 Abs 3 BVG kein Raum.

Der Revision der Beklagten konnte der Erfolg nicht versagt bleiben. Dem angefochtenen Urteil ist, worauf die Beklagte zu Recht hinweist, nicht zu entnehmen, warum das LSG eine Ausfallzeit der Fachschulausbildung bereits ab 4. November 1941 angenommen hat; nach den eigenen Angaben des Klägers hat er die Fliegerakademie erst seit dem 31. August 1942 besucht. Diese Unklarheit kann jedoch auf sich beruhen; denn die Ausbildung an der Fliegerakademie stellt entgegen der Ansicht des LSG keine Fachschulausbildung iS von § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG dar.

Dabei kann hier dahinstehen, ob militärische Ausbildungseinrichtungen begrifflich als Schulen oder Fachschulen in dem in § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG gemeinten Sinne aufgefaßt werden können; keiner Entscheidung bedarf ferner die Frage, ob diese Vorschrift auch Zeiten eines Fachschulbesuchs im Ausland erfaßt. Eine Vormerkung als Ausfallzeit scheitert jedenfalls daran, daß der Kläger die Fliegerakademie im Rahmen seines militärischen Dienstverhältnisses besucht hat.

Dies ergibt sich aus dem Sinn und Zweck der Zubilligung von Ausfallzeiten. Der Versicherte soll damit vor Nachteilen geschützt werden, die dadurch eintreten, daß er durch bestimmte, in seiner Person liegende Umstände wie zB einen Schulbesuch gehindert war, Pflichtbeiträge zu leisten, die er ohne die Ausfallzeittatbestände entrichtet hätte (SozR 2200 § 1259 Nr 13). Deswegen können solche Ausbildungszeiten keine Ausfallzeiten sein, die innerhalb eines zumindest an sich versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses zurückgelegt werden (vgl SozR 22O0 § 1255 Nr 6, § 1255a Nr 6 sowie SozSich 1978, 252). Das muß jedenfalls für die Fälle gelten, in denen die Ausbildung Teil eines umfassenderen Beschäftigungsverhältnisses war, auch wenn sich die Ausbildung der Form und dem Inhalt nach dabei schulmäßig vollzog. In diesen Fällen kann nicht die Ausbildung, sondern nur das sie umschließende Beschäftigungsverhältnis für die Entrichtung oder die Nichtentrichtung von Pflichtbeiträgen maßgebend (gewesen) sein. Demzufolge muß eine sich innerhalb eines allgemeineren Beschäftigungsverhältnisses vollziehende Ausbildung versicherungsrechtlich das Schicksal des Beschäftigungsverhältnisses teilen. Die Ausbildung an der Fliegerakademie hätte daher wie der sie umschließende Wehrdienst eine Ersatzzeit iS von § 28 Abs 1 Nr 1 AVG bilden können, wenn - woran es hier fehlt - die Voraussetzungen des § 2 Abs 2 oder Abs 3 BVG erfüllt gewesen wären. Daneben kann sie nicht losgelöst von dem Wehrdienst für sich selbständig eine Ausfallzeit darstellen.

Nach alledem war, wie geschehen, mit der sich aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ergebenden Kostenfolge in der Sache zu erkennen (§ 170 Abs 1, 2 SGG).

 

Fundstellen

Haufe-Index 1661815

BSGE, 5

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