Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtlicher Herstellungsanspruch und Beitragsnachentrichtung

 

Leitsatz (amtlich)

Ein 1935 in die USA ausgewanderter und noch dort wohnhafter Verfolgter, der im Jahre 1940 die amerikanische Staatsbürgerschaft erworben hat, kann die hierdurch verlorene deutsche Staatsangehörigkeit nicht bereits mit dem Antrag auf Wiedereinbürgerung, sondern erst mit der Aushändigung der Einbürgerungsurkunde wiedererlangen.

 

Orientierungssatz

Eine begehrte Beitragsnachentrichtung läßt sich auch nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs erreichen. Nach diesem von der Rechtsprechung entwickelten Rechtsinstitut (vgl BSG 1975-12-18 12 RJ 88/75 = BSGE 41, 126) ist unter bestimmten Gegebenheiten eine im Verantwortungsbereich des Versicherungsträgers liegende sozialversicherungsrechtliche Voraussetzung als erfüllt anzuerkennen. Außerhalb des Sozialversicherungsrechts liegende Tatbestände, die für das Entstehen eines Anspruchs erforderlich sind - wie etwa der Zeitpunkt des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit -, lassen sich dagegen im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht ersetzen.

 

Normenkette

AVG § 10 Abs 1 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1233 Abs 1 Fassung: 1972-10-16; AnVNG Art 2 § 49a Abs 2 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art 2 § 51a Abs 2 Fassung: 1972-10-16; GG Art 116 Abs 2 Fassung: 1949-05-23; RuStAG § 16 Fassung: 1913-07-22; StAngRegG § 12 Fassung: 1957-08-19

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 23.10.1979; Aktenzeichen L 12 An 10/78)

SG Berlin (Entscheidung vom 11.01.1978; Aktenzeichen S 1 An 1004/77)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger berechtigt ist, freiwillig Beiträge zur Rentenversicherung der Angestellten nach Art 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) nachzuentrichten.

Der Kläger gehört zum Personenkreis der rassisch Verfolgten und hat für Schaden in der Ausbildung eine Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) erhalten. Er wanderte im Februar 1935 von Deutschland nach den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) aus, wo er im Dezember 1940 die dortige Staatsangehörigkeit erwarb und heute noch seinen Wohnsitz hat. Beiträge zur deutschen Rentenversicherung sind für ihn nicht entrichtet worden. Nachdem er zunächst im August 1975 bei der Beklagten die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10a des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) gestellt hatte, beantragte er im November 1975 auch die Nachentrichtung nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG. Ebenfalls im November 1975 stellte er beim Deutschen Generalkonsulat in Boston Antrag auf Wiedereinbürgerung, der am 11. Dezember 1975 bei der für seinen Geburtsort zuständigen Bezirksregierung Rheinhessen-Pfalz einging. Die am 14. Mai 1976 ausgefertigte Einbürgerungsurkunde wurde ihm vom Generalkonsulat in Boston am 8. Juni 1976 ausgehändigt.

Mit Bescheid vom 1. Juni 1976 lehnte die Beklagte beide Nachentrichtungsanträge ab, nach § 10a WGSVG deshalb, weil der Kläger keine Versicherungszeit von mindestens 60 Kalendermonaten zurückgelegt habe, nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG, weil der Kläger bis zum 31. Dezember 1975 nicht Deutscher iS des Art 116 Abs 1 des Grundgesetzes (GG), sondern - allein - Staatsbürger der USA gewesen sei. Widerspruch und Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 9. Mai 1977; Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 11. Januar 1978). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Berlin durch Teilurteil vom 23. Januar 1979 das Urteil des SG sowie den Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger gemäß Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG die Nachentrichtung von Beiträgen zu gestatten. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, der Kläger habe Ende 1975 das Erfordernis der deutschen Staatsangehörigkeit erfüllt und sei deshalb als ein nach § 10 Abs 1 Satz 2 iVm Satz 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zur freiwilligen Versicherung Berechtigter auf seinen fristgerechten Antrag zur Nachentrichtung nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG befugt. Er gehöre zwar nicht zu den von Art 116 Abs 2 GG erfaßten früheren deutschen Staatsangehörigen, weil er seine Staatsangehörigkeit nicht durch Einzelausbürgerung oder eine sogenannte Sammelausbürgerung, sondern bereits im Dezember 1940 durch den Erwerb der amerikanischen Staatsangehörigkeit verloren habe. Seine (Wieder-)Einbürgerung sei deshalb nach § 12 Abs 1 des Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit vom 22. Februar 1955 (StAngRegG) idF des 3. StAngRegG vom 19. August 1957 (RGBl I, 1251) vorzunehmen gewesen, wonach ein früherer deutscher Staatsangehöriger, der im Zusammenhang mit Verfolgungsmaßnahmen in der Zeit von 1933 bis 1945 eine fremde Staatsangehörigkeit erworben habe, einen Anspruch auf Einbürgerung habe, und zwar auch dann, wenn er seinen dauernden Aufenthalt im Ausland beibehalte. Diese Vorschrift sei in ihrem sachlichen Gehalt eine Ergänzung von Art 116 Abs 2 Satz 1 GG und nehme an dessen grundgesetzlicher Wiedergutmachungsfunktion teil. Der im Vordergrund stehende gemeinsame Wiedergutmachungszweck erlaube und erfordere es, auch im Falle des § 12 StAngRegG den Antrag auf Wiedereinbürgerung als rechtlich ausschlaggebende Bekundung des Betroffenen anzuerkennen, daß er seine deutsche Staatsangehörigkeit wieder aufleben lassen wolle. Für die Einbürgerung nach § 12 StAngRegG sei daher nicht die Aushändigung der Einbürgerungsurkunde ausschlaggebend.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 10 Abs 1 Satz 2 AVG und des § 12 Abs 1 StAngRegG. Sie ist der Auffassung, daß sich die Einbürgerung des Klägers nach § 12 Abs 1 StAngRegG richte. Aus dem Gesetzeszusammenhang ergebe sich aber, daß hierbei nicht schon die Antragstellung allein automatisch die Wiedererlangung der deutschen Staatsangehörigkeit nach sich ziehe. Gemäß § 13 StAngRegG bestehe nämlich ein Einbürgerungsanspruch nach § 9 Abs 2, § 11 und § 12 nicht, wenn Tatsachen vorlägen, welche die Annahme rechtfertigten, daß der Antragsteller die innere oder äußere Sicherheit der Bundesrepublik oder eines deutschen Landes gefährden würde. Das Gesetz gehe also offenbar davon aus, daß die deutsche Staatsangehörigkeit noch nicht mit der Antragstellung wiedererlangt werde. Dieses nach dem Wortlaut und nach dem Gesetzeszusammenhang eindeutige Ergebnis lasse sich mit dem Hinweis auf Art 116 Abs 2 GG nicht in Zweifel ziehen, auch wenn diese Verfassungsvorschrift bei der Auslegung des § 12 StAngRegG zu berücksichtigen sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung

des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Teilurteil des LSG ist aufzuheben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG ist insoweit zurückzuweisen. Der Kläger ist zur Nachentrichtung von Beiträgen zur Angestelltenversicherung nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG nicht berechtigt, weil er nicht bis spätestens 31. Dezember 1975 die deutsche Staatsangehörigkeit wiedererlangt hatte und deshalb zur freiwilligen Versicherung nach § 10 AVG nicht berechtigt war.

Wie der erkennende Senat wiederholt entschieden hat, entsteht das Nachentrichtungsrecht aus Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG mit der Stellung des Nachentrichtungsantrages unter der weiteren Voraussetzung, daß auch die übrigen anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale erfüllt sind (BSGE 45, 247, 248 f; Urteile vom 23. Februar 1977 - 12/11 RK 88/75 - DAngVers 1977, 297; vom 23. November 1979 - 12 RK 29/78 - und vom 22. Februar 1980 - 12 RK 25/79-). Hierzu gehört die Berechtigung des Antragstellers zur freiwilligen Versicherung nach § 10 Abs 1 AVG. Diese Berechtigung steht Personen zu, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes haben (§ 10 Abs 1 Satz 1 AVG) sowie Deutschen iS des Art 116 Abs 1 GG, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben (§ 10 Abs 1 Satz 2 AVG). Das Recht zur freiwilligen Versicherung muß, wenn es das Nachentrichtungsrecht nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG begründen soll, spätestens bei Antragstellung oder doch bei Ablauf der in dieser Vorschrift genannten Antragsfrist (31. Dezember 1975) gegeben sein. Der etwaige Eintritt dieser Berechtigung nach Ablauf dieser Frist vermag das Nachentrichtungsrecht nicht (mehr) zu begründen.

Der seit 1935 bis heute dauernd in den USA wohnhafte Kläger hat die nach § 10 Abs 1 Satz 2 AVG erforderliche Voraussetzung, Deutscher iS von Art 116 Abs 1 GG zu sein, erst nach dem 31. Dezember 1975, nämlich am 8. Juni 1976, mit der Aushändigung der Einbürgerungsurkunde erfüllt. Erst mit diesem Akt erlangte er die deutsche Staatsangehörigkeit (§ 16 des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes -RuStAG-). Da er im Dezember 1940 die amerikanische Staatsbürgerschaft erworben hat, richtete sich seine Wiedereinbürgerung nach § 12 StAngRegG. Nach dieser Vorschrift steht einem früheren deutschen Staatsangehörigen, der im Zusammenhang mit Verfolgungsmaßnahmen aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 eine fremde Staatsangehörigkeit erworben hat, der Anspruch auf Einbürgerung auch dann zu, wenn er seinen dauernden Aufenthalt im Ausland beibehält. Die Beklagte hat zutreffend darauf hingewiesen, daß es sich auch bei der Einbürgerung nach § 12 StAngRegG um eine reguläre Einbürgerung handelt, die gemäß § 16 Abs 1 Satz 1 RuStAG erst mit der Aushändigung der Einbürgerungsurkunde wirksam wird. Dies ergibt sich daraus, daß nach § 13 StAngRegG der Einbürgerungsanspruch auch im Falle des § 12 davon abhängt, daß keine sicherheitsgefährdenden Tatsachen vorliegen. Solche Feststellungen erfordern aber ein der Einbürgerung vorgeschaltetes Verfahren, so daß schon deshalb der Einbürgerungsantrag allein nicht zum Wiederaufleben der früheren deutschen Staatsangehörigkeit führen kann, auch wenn bei der Anwendung des § 12 StAngRegG die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu Art 116 Abs 2 GG in dem Beschluß vom 14. Februar 1968 (BVerfGE 23, 98) aufgestellten Grundsätze zu berücksichtigen sind. Diese Entscheidung des BVerfG betraf einen Verfolgten, dem die deutsche Staatsangehörigkeit durch Ausbürgerung aberkannt worden war und der eine fremde Staatsangehörigkeit nicht erworben hatte. Da er wegen der Nichtigkeit der der Ausbürgerung zugrunde liegenden 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 die deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren hatte, bedurfte es für ihn keiner Wiedererlangung durch Einbürgerung, sondern es war lediglich erforderlich, sich auf die noch vorhandene deutsche Staatsangehörigkeit zu berufen. Dies kann entweder durch Wohnsitzbegründung in Deutschland oder durch einen Antrag nach Art 116 Abs 2 GG geschehen. Ein solcher Fall liegt aber beim Kläger nicht vor. Er war nicht durch die 11. Verordnung staatenlos geworden, da er schon 1940 seine deutsche Staatsangehörigkeit durch den Erwerb der amerikanischen verloren hatte. Er war also nicht - wie der Kläger in dem vom BVerfG entschiedenen Fall - staatenlos. Sein Fall ist auch nicht mit den vom Senat entschiedenen Fällen vergleichbar, in denen die ausgebürgerten Verfolgten erst nach dem 8. Mai 1945 eine andere Staatsangehörigkeit erworben hatten und deshalb nicht unter den nach § 12 StAngRegG einzubürgernden Personenkreis fielen (Urteile vom 22. Februar 1980 - 12 RK 25/79 - und vom 27. März 1980 - 12 RK 48/79 -). Es ist zudem auch kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich, daß der Kläger im Jahre 1940 die amerikanische Staatsbürgerschaft nicht auf seinen Antrag, sondern aus anderen Gründen erworben hat.

Die vom Kläger begehrte Beitragsnachentrichtung läßt sich auch nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs erreichen. Nach diesem von der Rechtsprechung entwickelten Rechtsinstitut (vgl hierzu BSGE 41, 126) ist unter bestimmten Gegebenheiten eine im Verantwortungsbereich des Versicherungsträgers liegende sozialversicherungsrechtliche Voraussetzung als erfüllt anzuerkennen. Außerhalb des Sozialversicherungsrechts liegende Tatbestände, die für das Entstehen eines Anspruchs erforderlich sind - wie hier der Zeitpunkt des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit -, lassen sich dagegen im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht ersetzen.

Das Teilurteil des LSG ist sonach aufzuheben mit der Folge, daß die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG in dem vom Revisionsverfahren umfaßten Umfang zurückzuweisen ist. Über den noch im Berufungsverfahren anhängig gebliebenen Anspruch auf Nachentrichtung nach § 10a WGSVG hat das LSG noch durch Schlußurteil zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie betrifft nicht die Kosten im Berufungsverfahren.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656197

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