Entscheidungsstichwort (Thema)

Beginn der Widerspruchsfrist. Zulässigkeit der Berufung

 

Leitsatz (amtlich)

Der Bescheid einer Krankenkasse über die Ablehnung einer Leistung braucht nicht zugestellt zu werden. VwZG § 9 Abs 2 findet mithin auf ihn keine Anwendung. Für den Lauf der Widerspruchsfrist - gegebenenfalls der Jahresfrist (SGG § 66 Abs 2 S 1) - kommt es darauf an, wann dieser Bescheid dem Empfänger bekanntgegeben worden ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

Beginn der Widerspruchsfrist, Zulässigkeit der Berufung:

Die Widerspruchsfrist gegen einen Verwaltungsakt der Krankenkasse beginnt mit seiner Bekanntgabe an den Versicherten (SGG § 84 Abs 1). Die Zustellungsvorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes sind nicht anzuwenden.

Die im Rahmen eines Behandlungsfalles zu erbringenden Leistungen der Krankenpflege (RVO § 182 Abs 1 Nr 1) sind als wiederkehrende Leistungen iS SGG § 144 Abs 1 Nr 2 anzusehen, wenn sie einen Zeitraum bis zu 13 Wochen (3 Monaten) umfassen. Dabei sind sowohl die bereits gewährten Leistungen als auch die noch nicht erbrachten Leistungen, deren Gewährung die Krankenkasse abgelehnt hat, zu berücksichtigen.

 

Normenkette

SGG § 66 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 84 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 144 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03; VwZG § 9 Abs. 2 Fassung: 1952-07-03; RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1969-07-27

 

Tenor

Die Sprungrevision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 6. Juli 1972 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse verpflichtet ist, die Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung für den Sohn Siegfried des Klägers zu übernehmen.

Der Kläger ist Mitglied der Beklagten. Er reichte dieser im September 1969 ein Attest des Fachzahnarztes für Kieferorthopädie Dr. van der W, A, ein, in dem die beabsichtigte Behandlung einer Zahnstellungs- und Kieferanomalie bei Siegfried im einzelnen dargelegt, die voraussichtliche Dauer der Behandlung auf 3 1/2 Jahre geschätzt und das Behandlungshonorar mit 1.300,- DM veranschlagt wurde. Daraufhin teilte die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 9. September 1969 u. a. mit: "Wir beteiligen uns an den Kosten der kieferorthopädischen Behandlung für die voraussichtliche Behandlungsdauer von 42 Monaten mit einer Beihilfe bis zu 600,- DM. Damit gelten wir die Ihnen aus dieser Behandlung erwachsenen Kosten - einschließlich der Fahrtkosten - ab..." Dieses Schreiben, das keine Rechtsbehelfsbelehrung enthielt, ging dem Kläger einige Tage später zu.

Der Kläger erhob am 19. November 1971 hiergegen Widerspruch und verlangte von der Beklagten, sie solle die gesamten Behandlungskosten für Siegfried in Höhe von 1.300,- DM übernehmen. Die Widerspruchsstelle wies den Widerspruch des Klägers als verspätet zurück. Die daraufhin vom Kläger erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen. Es ist der Auffassung, der Bescheid der Beklagten vom 9. September 1969 sei für die Beteiligten bindend geworden. Es sei ihr auch nicht verwehrt, sich auf diese Bindungswirkung zu berufen. Das SG hat die Berufung zugelassen.

Der Kläger hat daraufhin Sprungrevision eingelegt und seiner Revisionsschrift das Einverständnis der Beklagten mit der Einlegung der Sprungrevision beigefügt. Zur Begründung macht er geltend, der Lauf der Rechtsbehelfsfrist gegen den Bescheid der Beklagten vom 9. September 1969 sei gemäß § 9 Abs. 2 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) nicht in Gang gesetzt worden. Das habe das SG verkannt.

Der Kläger beantragt,

die angefochtene Entscheidung sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. September 1969 idF des Widerspruchsbescheides vom 17. Dezember 1971 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für die kieferorthopädische Behandlung des Sohnes des Klägers, Siegfried, als Sachleistung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Sprungrevision des Klägers zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die Sprungrevision ist unbegründet.

Die Berufung wäre an sich zulässig gewesen; denn bei der hier durchgeführten kieferorthopädischen Behandlung handelte es sich nicht um eine einmalige Leistung i. S. des § 144 Abs. 1 Nr. 1, sondern um eine wiederkehrende Leistung i. S. des § 144 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), die sich über den Zeitraum von drei Monaten hinaus erstreckte. Wie der Senat in BSG 19, 270, 271 (vgl. auch BSG vom 27. Januar 1965 in SozR Nr. 27 und vom 29. Februar 1972 Nr. 29 zu § 144 SGG) unter Bezugnahme auf BSG 2, 135, 136 entschieden hat, können die einzelnen Leistungen der Krankenpflege im Rahmen einer Behandlung, bei der von vornherein zu erwarten ist, daß sie sich auf einen längeren Zeitraum erstrecken wird, nicht jede für sich als einmalige Leistung angesehen werden. Sie sind vielmehr unselbständige Teilleistungen, die auf den ihre Gestaltung im einzelnen bestimmenden Gesamtzweck der Behandlung ausgerichtet sind und in ihrer Zusammenfassung ein geschlossenes Ganzes bilden. Das gilt auch dann, wenn es sich nicht um die zeitlich vor der Gewährung liegende Bewilligung von Krankenpflege handelt, sondern um die ihr zeitlich nachfolgende, von der Krankenkasse abgelehnte Übernahme der dafür entstandenen Kosten (vgl. BSG 4, 206, 208, 209). Andernfalls würde die Zulässigkeit des Rechtsmittels von dem mehr zufälligen Umstand abhängen, ob die Leistung, um die der Streit der Sache nach geht, bereits erbracht ist oder noch aussteht.

Es war deshalb kein Raum für eine Zulassung der Berufung und damit auch, da nur gegen ein nach § 150 SGG, insbesondere nach dessen Nr. 1, anfechtbares Urteil Sprungrevision eingelegt werden kann (§ 161 SGG), das letztgenannte Rechtsmittel ausgeschlossen. Dennoch war die Sprungrevision der Beklagten zulässig, weil das SG die Berufung, wenn auch unter Verkennung der Rechtslage, zugelassen hat und die Beteiligten auf die Rechtmäßigkeit des Zulassungsausspruchs vertrauen durften. Dieser Irrtum des SG war für die Beteiligten nicht so offensichtlich, daß deswegen ihr Vertrauen in die Rechtmäßigkeit des Zulassungsausspruchs nicht mehr schutzbedürftig erschiene (vgl. BSG 2, 135; BSG in SozR Nrn. 11, 16 und 22 zu § 161 SGG).

Das SG hat die Klage mit Recht abgewiesen. Das Schreiben der Beklagten vom 9. September 1969 ist als Verwaltungsakt anzusehen; denn damit hat sie die in Betracht kommende Leistungsverpflichtung gegenüber dem Kläger verbindlich geregelt. Daß dieses Schreiben keine Rechtsbehelfsbelehrung enthielt, steht seiner Eigenschaft als Verwaltungsakt nicht entgegen.

Dieser Verwaltungsakt ist mangels rechtzeitiger Anfechtung für den Kläger bindend (§ 77 SGG) geworden. Auch wenn ein Verwaltungsakt - wie hier - keine Rechtsbehelfsbelehrung enthält, wird er spätestens ein Jahr nach seiner Bekanntgabe unanfechtbar (§ 66 Abs. 2 SGG).

Die Auffassung der Revision, daß der Lauf der Rechtsbehelfsfrist gegen den Verwaltungsakt vom 9. September 1969 gemäß § 9 Abs. 2 VwZG nicht in Gang gesetzt worden ist, trifft nicht zu. Diese Vorschrift, die für bestimmte Fälle (u. a. für die Erhebung der Klage, nicht jedoch für die Einlegung des Widerspruchs - vgl. BGH, Urteil vom 6. April 1972, NJW 1972, 1238 -) die Heilung eines Zustellungsmangels nach § 9 Abs. 1 ausschließt, ist für den vorliegenden Fall schon deswegen nicht anwendbar, weil eine Zustellung des ersten Verwaltungsbescheides einer Krankenkasse in der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht vorgeschrieben ist. § 135 RVO, der im Vierten Abschnitt des Ersten Buchs der RVO steht und zu den "Sonstigen gemeinsamen Vorschriften" gehört, sagt nur etwas aus über die Form der Zustellung, nicht aber, wann zugestellt werden muß (anders z. B. § 1590 RVO für die Unfallversicherung und § 1631 Abs. 4 RVO für die Arbeiterrentenversicherung).

Ist aber eine Zustellung nicht vorgeschrieben, dann kommt es für den Lauf der Widerspruchsfrist darauf an, wann der Verwaltungsakt dem Empfänger bekanntgegeben worden ist (§ 84 Abs. 1 SGG). Das SG hat nun zwar nicht auf den Tag genau festgestellt, wann diese Bekanntgabe erfolgte, sondern nur, daß diese im Laufe des September 1969 geschah. Auf jeden Fall war jedoch die Widerspruchsfrist von einem Jahr (§ 66 Abs. 2 SGG) z. Zt. des Eingangs des Widerspruchs des Klägers bei der Beklagten am 19. November 1971 abgelaufen und damit ihr Verwaltungsakt vom 9. September 1969 bindend geworden (§ 77 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1973, 672

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