Leitsatz (amtlich)

1. Zahnlosigkeit, auch schon das Fehlen nur einiger Zähne (unter Umständen eines Zahns), ist eine Krankheit iS des RVO § 182 Abs 1, wenn dieser Zustand die natürliche Körperfunktionen des Kauens, Beißens oder Sprechens nicht unerheblich stört und begründete Aussicht besteht, daß die Funktionsstörung durch die Versorgung mit Zahnersatz behoben, gebessert oder vor Verschlimmerung bewahrt wird.

2. Zahnersatz ist eine einheitliche, aber komplexe Leistung, die Elemente zahnärztlicher und handwerklicher Tätigkeit enthält. Sie ist von der KK nicht - wie zahnärztliche Behandlung - als Sachleistung zu gewähren, sondern als Leistung eigener Art mit teilweiser oder völliger Kostenerstattung (RAM-Erl 1943-11-02 Abschn 1 Nr 4; Anschluß BSG 1966-07-20 6 RKa 11/63 = BSGE 25, 116, 119).

 

Leitsatz (redaktionell)

Gewährung von Zahnersatz;

1. Das Fehlen von Zähnen ist dann als Krankheit iS des RVO § 182 Abs 1 Nr 1 anzusehen, wenn dadurch die natürlichen Körperfunktionen des Kauens, Beißens oder Sprechens nicht unerheblich gestört sind und begründete Aussicht besteht, daß die Funktionsstörung durch eine zahnprothetische Versorgung behoben, gebessert oder vor Verschlechterung bewahrt wird. Diese Voraussetzung ist in der Regel nicht nur bei voller Zahnlosigkeit erfüllt, sondern kann auch schon beim Fehlen einiger Zähne unter Umständen eines Zahnes (zB Frontzahnes) gegeben sein, ohne daß dann die Notwendigkeit einer Heilbehandlung noch besonders, etwa mit dem Hinzutreten einer Folgekrankheit, begründet zu werden braucht.

2. Die zahnärztliche Behandlung iS des RVO § 182 Abs 1 Nr 1 umfaßt auch die Verordnung von Zahnersatz und die Überprüfung seiner funktionsgerechten Eingliederung. Der im Auftrag eines Zahnarztes durch einen Dritten angefertigte Zahnersatz stellt jedoch keine Hilfeleistung im Rahmen der zahnärztlichen Behandlung (RVO § 122) dar. Bei der Versorgung mit Zahnersatz handelt es sich vielmehr - wie bei sonstigen Prothesen - zwar um eine einheitliche, aber komplexe Leistung, die sowohl Elemente rein zahnärztlicher als auch handwerklicher Tätigkeit enthält. Sie kann daher nicht der zahnärztlichen Behandlung zugeordnet und als Sachleistung gewährt werden.

3. Zu den Kosten des Zahnersatzes kann die KK Zuschüsse gewähren oder die gesamten Kosten übernehmen (RAM-Erl 1943-11-02 = AN 1943, 485). Der Zahnersatz stellt damit "eine Leistung eigener Art mit teilweiser oder völliger Kostenerstattung an den Versicherten" dar.

 

Normenkette

RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1911-07-19; RAMErl 1943-11-02 Abschn. 1 Nr. 4

 

Tenor

Die Sprungrevision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 26. August 1970 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger fordert von der beklagten Krankenkasse, deren Mitglied er ist, die Übernahme der vollen Kosten einer zahnprothetischen Behandlung. Er legte im November 1967 der Beklagten einen Behandlungsplan seines Zahnarztes vor und beantragte, die darin für den Ersatz von vier Zähnen veranschlagten Kosten von 765,60 DM zu übernehmen. Die Beklagte bewilligte ihm einen Zuschuß von zunächst 137,60 DM und - nach Begutachtung des fertiggestellten Zahnersatzes durch ihren Beratungszahnarzt - einen weiteren Betrag von 148,- DM. Von dem Gesamtzuschuß (285,60 DM) trug sie selbst 166,60 DM, die zuständige Landesversicherungsanstalt 119,- DM. Eine Übernahme der vollen Kosten lehnte sie ab, weil nach § 25 ihrer Satzung und den Richtlinien ihres Kassenvorstandes vom 6. Dezember 1965 nur die dem Kläger erstatteten Beträge (80 v. H. der in den Richtlinien festgesetzten Bemessungssätze) hätten gewährt werden können (Bescheid vom 20. Mai 1968 und Widerspruchsbescheid vom 21. November 1968).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage, mit der der Kläger geltend macht, die Beklagte hätte ihm den Zahnersatz als Sachleistung, d. h. unter voller Kostenbefreiung, gewähren müssen, als unbegründet abgewiesen: Nach der Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamtes (RVA) sei der Verlust von vier Zähnen noch nicht als eine behandlungsbedürftige Krankheit anzusehen. Ein kauuntüchtiges Gebiß könne zwar zu einer Beeinträchtigung der Verdauung oder zu Magen-Darm-Erkrankungen führen. Diese Möglichkeit allein genüge aber nicht, um die Notwendigkeit einer zahnärztlichen Behandlung zu bejahen. Auch sei entgegen einer im Schrifttum vertretenen Ansicht die Anfertigung von Zahnersatz keine einheitliche Leistung, bei der die Tätigkeit des Zahnarztes den technisch-handwerklichen Bereich so stark überlagere, daß die Leistung als Ganzes zur zahnärztlichen Behandlung i. S. des § 182 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu rechnen wäre. Außerdem habe das Bundessozialgericht (BSG) schon entschieden (Urteil vom 20. Juli 1966, BSG 25, 116), daß nach einer weiterhin gültigen Bestimmung des früheren Reichsarbeitsministers (RAM) vom 2. November 1943 die Versorgung mit Zahnersatz keine Sachleistung, sondern eine Leistung eigener Art mit völliger oder - wie seinerzeit bei der Beklagten - teilweiser Kostenerstattung sei (Urteil vom 26. August 1970, in dem die Berufung zugelassen worden ist).

Der Kläger hat mit Einwilligung der Beklagten Sprungrevision eingelegt, mit der er beantragt, die Beklagte unter Aufhebung aller Vorentscheidungen zur Zahlung weiterer 480,- DM zu verurteilen. Der ihm bisher gezahlte Betrag von 285,60 DM könne sich nur auf die handwerklich-technischen Leistungen beziehen, der eingeklagte Restbetrag entfalle also auf die zahnärztlichen Verrichtungen; diese jedenfalls hätten aber nach dem genannten Urteil des BSG als Sachleistung gewährt werden müssen. Im übrigen sei die Versorgung mit Zahnersatz eine "ganzeinheitliche" Sachleistung. Das SG habe auch das Fehlen von Zähnen zu Unrecht nicht als Krankheit anerkannt. Bei Vorliegen einer Krankheit sei aber für den RAM-Erlaß vom Jahre 1943 kein Raum mehr, da seine Anwendung dann nicht zu einer Verbesserung, sondern zu einer Minderung der Leistungen führen würde.

Die Beklagte hält die Sprungrevision für unbegründet und hat auf ihre bisherigen Ausführungen verwiesen.

II

Die Sprungrevision des Klägers, deren Zulässigkeit aus §§ 144 Abs. 1, 150 Nr. 1, 161 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) folgt, ist nicht begründet. Das SG hat die Klage auf Erstattung der Restkosten einer zahnprothetischen Behandlung mit Recht abgewiesen.

Nicht bedenkenfrei sind allerdings die Ausführungen des SG insoweit, als es das Vorliegen einer Krankheit beim Kläger verneint hat. Das Fehlen von Zähnen braucht zwar - anders als nach dem weiter gespannten Krankheitsbegriff des Zahnheilkundegesetzes vom 31. März 1952 (vgl. dessen § 1 Abs. 2 Satz 2 und dazu BSG 11, 102, 111 f) - nicht in jedem Fall auch eine Krankheit im Sinne des Versicherungsrechts zu sein. Andererseits liegt eine solche entgegen einer früher auch vom RVA vertretenen Auffassung, das in der "bloßen" Zahnlosigkeit noch keine Krankheit gesehen hatte (GE 4067, AN 1931, IV 219, 220), nicht erst dann vor, wenn es schon zu bestimmten Folgeerscheinungen - das SG hat in seinem Urteil Beeinträchtigungen der Verdauung und Magen-Darm-Erkrankungen erwähnt - gekommen ist. Es genügt vielmehr - ähnlich wie bei Zahnstellungsanomalien (vgl. das Urteil des Senats vom 20. Oktober 1972, 3 RK 93/71) -, daß durch das Fehlen von Zähnen die natürlichen Körperfunktionen des Kauens, Beißens oder Sprechens nicht unerheblich gestört sind und begründete Aussicht besteht, daß die Funktionsstörung durch eine zahnprothetische Versorgung behoben, gebessert oder vor Verschlimmerung bewahrt wird. Diese Voraussetzungen werden in der Regel nicht nur bei völliger Zahnlosigkeit vorliegen, sondern können auch schon beim Fehlen einiger Zähne, u. U. bereits eines Zahnes (z. B. eines Frontzahnes, vgl. Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 11. Januar 1972, Leitsätze in SGb 1972, 458 Nr. 1 und Nr. 3) erfüllt sein, ohne daß dann die Notwendigkeit einer Heilbehandlung noch besonders, etwa mit dem Hinzutreten einer Folgekrankheit, begründet zu werden braucht (ähnlich Albrecht, WzS 1969, 132, 133; a. A. dagegen RVA und anscheinend auch LSG Nordrhein-Westfalen aaO).

Nicht beitreten kann der Senat ferner dem RVA aaO insofern, als dieses die Verrichtungen des Zahnarztes nach Beendigung des der etwaigen Entfernung von Zähnen folgenden Heilungs- und Schrumpfungsvorgangs, wie z. B. die Abformung des Kiefers und die dem Zahntechniker zu erteilenden Anweisungen über die Gestaltung des Zahnersatzes, nicht als eigentlich ärztliche Tätigkeit, sondern als lediglich, vorbereitende Handlungen für die demnächstige Lieferung des Zahnersatzes angesehen hat. Wie schon der 6. Senat des BSG in anderem Zusammenhang entschieden hat, ist die zahnärztliche Tätigkeit vor und nach dem eigentlichen Fertigungsprozeß, nämlich die Verordnung des Zahnersatzes und die Überprüfung seiner funktionsgerechten Eingliederung, nicht ein bloßes Hilfsgeschäft "im Rahmen des Herstellungsvorgangs", sondern eine typisch zahnärztliche Tätigkeit, die nur auf der Grundlage medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse möglich ist und sich deutlich von der handwerklich-technischen Fertigung des Zahnersatzstücks abhebt (BSG 25, 116, 118 unter Hinweis auf die entsprechende Tätigkeit des Facharztes für Orthopädie bei der Verordnung und Anpassung von Fußstützen, BSG 23, 176, 178 f). Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat an.

Er folgt der Rechtsprechung des 6. Senats auch darin, daß die Herstellung der Prothese als handwerklich-technischer Vorgang von der eigentlich zahnärztlichen Tätigkeit zu unterscheiden ist. Ebensowenig wie jene die prothetische Versorgung dergestalt prägt, daß die zahnärztliche Tätigkeit daneben in ihrer Bedeutung zurücktritt, hat umgekehrt auch nicht diese ein solches Gewicht, daß der technische Fertigungsvorgang rechtlich in ihr aufgeht, die Versorgung mit Zahnersatz also als Ganzes "zahnärztliche Behandlung" im Sinne des § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO darstellt (so Raddatz, WzS 1967, 161, 163; dagegen Albrecht aaO S. 135). Wenn Raddatz in diesem Zusammenhang betont, daß der Zahnarzt auch auf die Fertigung der Prothese Einfluß nehme, indem er z. B. die Form und Farbe der künstlichen Zähne bestimme, die Konturen sowie die Stütz- und Fixierungselemente der Prothese nach medizinischen Gesichtspunkten festlege, das Prothesenmaterial angebe und eigenhändige Korrekturen an dem Wachsmodell der Prothese vornehme, ferner den fertigen Zahnersatz durch Einschleifen anpasse, so wird dabei übersehen, daß alle genannten Tätigkeiten entweder zur Verordnung des Zahnersatzes im weiteren Sinne oder aber zu seiner späteren Eingliederung gehören, den Fertigungsvorgang selbst aber nicht betreffen. Auch der Umstand, daß der angehende Zahnarzt nach Mitteilung von Raddatz in der Herstellung von Zahnersatz ausgebildet wird und daß die Gebührenordnung im Regelfall eine Gesamtgebühr für die prothetischen Leistungen vorsieht (vgl. aber § 5 Abs 2 der zahnärztlichen Gebührenordnung, wonach zahntechnische Laborkosten gesondert berechnungsfähig sind), schließt eine begriffliche Trennung zwischen dem zahnärztlichen und dem handwerklich-technischen Leistungsanteil bei der Prothetik nicht aus.

Es würde ferner der natürlichen Betrachtungsweise widersprechen, die u. U. sehr viel handwerkliches Können, jedoch keine spezifisch medizinischen Kenntnisse erfordernde Herstellung einer Prothese, wenn sie ausnahmsweise einmal durch den Zahnarzt selbst erfolgt, noch seiner zahnärztlichen Tätigkeit zuzurechnen (vgl. insoweit für orthopädische Prothesen BSG 23, 176, 179). Ist dies aber nicht möglich, dann kann auch die im Auftrage des Zahnarztes durch einen Dritten erfolgte Anfertigung der Prothese keine Hilfeleistung im Rahmen der ärztlichen Behandlung (§ 122 RVO) sein. Bei der Versorgung mit Zahnersatz handelt es sich vielmehr - grundsätzlich nicht anders als bei sonstigen Prothesen (vgl. auch BSG 30, 151, 154) - um eine zwar einheitliche, jedoch komplexe Leistung, die sowohl Elemente rein zahnärztlicher wie auch handwerklicher Tätigkeit enthält.

Schon aus diesem Grunde kann sie nicht, wie der Kläger im Anschluß an Raddatz meint, schlechthin der zahnärztlichen Behandlung und damit dem Sachleistungsprinzip zugeordnet werden (vgl. auch § 11 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -). Allenfalls könnte dies für den rein zahnärztlichen Leistungsanteil erwogen werden. Ob eine solche Trennung zweckmäßig wäre oder sich in der Praxis ohne größere Schwierigkeiten überhaupt durchführen ließe, mag dahinstehen. Die Berechtigung der Beklagten, dem Kläger nur einen Zuschuß zu den Aufwendungen für seine Zahnprothese zu gewähren, folgt jedenfalls aus dem Erlaß des ehemaligen RAM vom 2. November 1943 betreffend Verbesserungen in der gesetzlichen Krankenversicherung (sog. Verbesserungserlaß, AN 1943, II 485). Dieser - mit gesetzesgleicher Wirkung (BSG 22, 67, 68) ergangene und weiterhin gültige - Erlaß bestimmt in Abschnitt I 4 "Leistungen für Zahnersatz, Zahnkronen und Stiftzähne" zu §§ 182, 187 Nrn. 3 und 4, § 193 RVO: Die Kasse kann zu den Kosten für Zahnersatz, Zahnkronen und Stiftzähne Zuschüsse gewähren oder die gesamten Kosten übernehmen. Aufgrund dieser etwa entgegenstehendes Gesetzesrecht verdrängenden Regelung ist die Versorgung mit Zahnersatz in der gesetzlichen Krankenversicherung auch heute noch keine Sachleistung, sondern, wie in BSG 25, 119 formuliert, "eine Leistung eigener Art mit teilweiser oder völliger Kostenerstattung an den Versicherten". Von dieser Auffassung für das geltende Recht abzugehen, hält sich der Senat - unter voller Würdigung der dagegen im Schrifttum vorgetragenen Gründe - nicht für befugt (im Ergebnis ebenso insbesondere Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Auflage, S. 388 ff mit zahlreichen Nachweisen; Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 17. Auflage, § 182 Anm. 4 f, § 187 Anm. 5 d; Heinemann-Liebold, Kassenarztrecht, 4. Auflage, § 368 a Anm. 9 a. E.; ähnlich auch Krohn, Krankenversicherung, 1967, 284, 285 f).

Hat die Beklagte somit ihre Leistungen an den Kläger auf einen Zuschuß zu seinen Aufwendungen beschränken dürfen und - was auch vom Kläger nicht bestritten wird - entsprechend ihren Verwaltungsrichtlinien beschränkt, so ist sein weitergehender Klageanspruch unbegründet. Die Sprungrevision gegen das Urteil des SG war deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 105

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