Leitsatz (amtlich)

Die Berufung ist hinsichtlich der Ansprüche auf Sterbegeld und Überbrückungshilfe selbst dann nach SGG § 144 Abs 1 nicht zulässig, wenn sie daneben auch Hinterbliebenenrente betrifft.

 

Normenkette

RVO § 589 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30; SGG § 144 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. August 1973 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat den Klägerinnen die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Klägerinnen sind die Hinterbliebenen des am 20. Juni 1970 bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückten Willibald Sch. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 17. Juli 1970 Entschädigungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) ab, weil der Ehemann der Klägerin zu 1) im Zeitpunkt des Unfalls nicht unter Versicherungsschutz gestanden habe.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 8. November 1971 die Beklagte verurteilt, den Klägerinnen "aus Anlaß des Todes des Willibald Sch am 20. Juni 1970 die gesetzlichen Leistungen zu gewähren".

Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 29. August 1973 als unzulässig verworfen, soweit sie die Gewährung von Sterbegeld und Überbrückungshilfe betrifft. Im übrigen hat es das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Das LSG hat die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist abschließend ausgeführt: Die Revision sei nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen worden, weil der Senat der Frage, ob im Falle der unternehmensbedingten vorzeitigen Beendigung des Urlaubs die Einbeziehung des Heimwegs vom Urlaubsort in den Schutz der gesetzlichen UV statthaft sei, grundsätzliche Bedeutung beigemessen habe.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt.

Sie trägt vor: Soweit durch die Begründung der Zulassung der Revision eine Beschränkung auf die materiell-rechtliche Streitfrage gesehen werden könne, sei dies ein wesentlicher Verfahrensmangel, da die Revision hätte insgesamt zugelassen werden müssen. Das LSG habe die Berufung auch zu Unrecht als unzulässig verworfen, soweit sie das Sterbegeld und die Überbrückungshilfe betreffe. Der Begriff "Anspruch" i. S. des § 144 Abs. 1 SGG sei ausschließlich in dem allgemeinen prozessualen Sinn als das Begehren einer Prozeßpartei zu verstehen, die Rechtsfolgen eines materiell-rechtlichen Tatbestandes durch Urteil auszusprechen. In den Fällen der vorliegenden Art lehne ein Versicherungsträger stets Hinterbliebenenansprüche nur allgemein mit der Begründung ab, ein Arbeitsunfall liege nicht vor. Da die verschiedenen Einzelleistungen an Hinterbliebene dem Grunde nach sämtlich davon abhingen, ob der Tod des Versicherten durch einen Arbeitsunfall eingetreten sei und über die Leistungshöhe zunächst kein Streit bestehe, handele es sich stets um einen einheitlichen prozessualen Anspruch auf Hinterbliebenenbezüge. Die Vorschriften der §§ 144 ff. SGG seien als Ausnahmevorschriften eng auszulegen. Im übrigen enthielten die Vorschriften des SGG über die Berufungsausschließungsgründe keine Bestimmung darüber, daß beim Zusammentreffen einer zulässigen Berufung mit einer an sich unzulässigen Berufung diese nicht mit nachgeprüft werden dürfe. Eine andere Auslegung würde zu Ergebnissen führen, die im Interesse der materiellen Gerechtigkeit nicht hingenommen werden könnten. Die Berufung sei daher zu Unrecht als unzulässig verworfen worden.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage auch insoweit abzuweisen, als die Gewährung von Sterbegeld und Überbrückungshilfe verlangt werde.

Die Klägerinnen haben im Revisionsverfahren keinen Antrag gestellt.

II.

Die Revision ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zulässig. Das LSG hat dieses Rechtsmittel im Urteilstenor ohne Einschränkung zugelassen. In den Entscheidungsgründen hat es am Schluß zwar nur die materiell-rechtliche Frage angeführt, der es grundsätzliche Bedeutung beimißt. Daraus ist jedoch nicht mit ausreichender Sicherheit zu entnehmen, daß das LSG die Zulassung der Revision auf die Klageabweisung hinsichtlich der Hinterbliebenenrenten beschränkt hat (s. BSG SozR Nr. 42 zu § 162 SGG).

Die zulässige Revision ist jedoch nicht begründet. Das LSG hat übereinstimmend mit der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats mit Recht die vom SG nicht zugelassene Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen, soweit sie das Sterbegeld und die Überbrückungshilfe betrifft (§ 144 Abs. 1, § 158 Abs. 1 SGG).

Sterbegeld und Überbrückungshilfe sind auch nach der im Schrifttum einhellig vertretenen Auffassung gegenüber der Hinterbliebenenrente selbständige Leistungen der Unfallversicherung (vgl. u. a. BSG Urteil vom 21.10.1958 - 2 RU 75/56; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 591 Anm. 4; Bereiter-Hahn/Schieke, Unfallversicherung, 4. Aufl., § 589 Anm. 5 und § 591 Anm. 1; Haase/Koch, Die Unfallversicherung, § 591 Anm. 3). Dem steht insbesondere nicht entgegen, daß die Ansprüche jeweils voraussetzen, daß der Versicherte an den Folgen eines Arbeitsunfalls gestorben ist. Diese Voraussetzung muß auch für Ansprüche auf Witwenrente und auf Waisenrente gegeben sein, ohne daß jemals in Erwägung gezogen wurde, insoweit einen einheitlichen Anspruch anzunehmen. Der Versicherungsträger darf deshalb Hinterbliebenenrente auch dann mit der Begründung ablehnen, der Versicherte sei nicht an den Folgen eines Arbeitsunfalls gestorben, wenn der Anspruch auf Sterbegeld bereits bindend festgestellt worden ist (vgl. Lauterbach aaO § 589 Anm. 3 Buchst. b; Bereiter-Hahn/Schieke aaO; Haase/Koch aaO § 589 Anm. 4). Andererseits ist der Versicherungsträger hinsichtlich der Zahlung von Sterbegeld nicht an seine Entscheidung gebunden, ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente bestehe nicht, weil der Tod des Versicherten nicht durch einen Arbeitsunfall eingetreten sei. Über die selbständigen Ansprüche auf Sterbegeld, Hinterbliebenenrente und Überbrückungshilfe können die Versicherungsträger somit getrennt entscheiden. Ihren Charakter als materiell-rechtliche und prozessual selbständige Ansprüche verlieren sie nicht dadurch, daß der Versicherungsträger über sie in einem Bescheid einheitlich entscheidet und sie alle mit der Begründung ablehnt, der Verletzte sei nicht an den Folgen eines Arbeitsunfalls gestorben. Deshalb können im Klageverfahren die geltend gemachten Ansprüche der Hinterbliebenen auf Sterbegeld, Überbrückungshilfe und Hinterbliebenenrente auch hinsichtlich der Zulässigkeit der Berufung ebenfalls nicht als Einheit behandelt werden (vgl. BSG 5, 222, 225; BSG SozR Nr. 12 zu § 521 ZPO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 7. Aufl., S. 250 d I). Die Frage einer weiten oder engen Auslegung der Ausschlußtatbestände der §§ 144 ff. SGG stellt sich somit entgegen der Auffassung der Beklagten nicht.

Die Rechtsprechung des Senats führt auch nicht zu Ergebnissen, die, wie die Beklagte meint, "im Interesse der materiellen Gerechtigkeit nicht hingenommen werden" könnten. Die Beklagte übersieht auch hier, daß es - wie bereits aufgezeigt - zu dem gleichen, bisher weder in der Rechtsprechung noch im Schrifttum in Zweifel gezogenen Ergebnis führt, wenn der Versicherungsträger zunächst das Sterbegeld mit der Begründung bindend ablehnt, der Verletzte sei nicht an den Folgen eines Arbeitsunfalls gestorben, aber später auf die Klage - z. B. des früheren Ehegatten - gegen einen weiteren Bescheid, in dem er aus demselben Grund die Zahlung von Hinterbliebenenrente abgelehnt hat, verurteilt wird, an den Berechtigten Hinterbliebenenrente zu zahlen. Ebenso berührt es die rechtskräftige Verurteilung des Versicherungsträgers zur Zahlung von Sterbegeld nicht, wenn die danach begehrte Hinterbliebenenrente bindend abgelehnt wird, weil ein Arbeitsunfall nicht als gegeben angenommen wird. Die Beklagte hebt schließlich hervor, das Prozeßrecht solle die Verwirklichung des materiellen Rechts nicht verhindern. Dieser Grundsatz ist jedoch bereits durch die Entscheidung des Gesetzgebers eingeschränkt, die Berufung in bestimmten Fällen - hier im Rahmen des § 144 Abs. 1 SGG - auszuschließen.

Die Revision der Beklagten ist somit zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647002

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