Entscheidungsstichwort (Thema)

Erziehungsgeldanspruch bei Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat der EG. vergleichbare Leistung in anderen Mitgliedstaaten. Antikumulierungsvorschriften. gewöhnlicher Aufenthalt

 

Leitsatz (amtlich)

Die Ehefrau eines in Deutschland beschäftigten Angehörigen eines Mitgliedstaats der Europäischen Gemeinschaften kann auch dann einen Anspruch auf Erziehungsgeld haben, wenn sie nicht in Deutschland, sondern in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften wohnt (Fortführung von EuGH vom 10.10.1996 - C-245/94 und C-312/94 = SozR 3-6050 Art 4 Nr 8 = EuGHE I 1996, 4895). 2. Besitzt der Erziehungsgeldberechtigte zugleich einen Anspruch auf eine dem Erziehungsgeld vergleichbare Leistung in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften nach dessen innerstaatlichen Vorschriften, beurteilt sich die Frage, ob der Anspruch auf deutsches Erziehungsgeld dadurch ganz oder teilweise ausgeschlossen ist, nach den Antikumulierungsvorschriften des Rechts der Europäischen Gemeinschaften. Für die Anwendung des § 8 Abs 3 BErzGG ist insoweit grundsätzlich kein Raum.

 

Orientierungssatz

Solange eine Person nur eine Wohnung hat, in der sie auch tatsächlich ununterbrochen lebt und zudem den Haushalt der Familie führt, ist der gewöhnliche Aufenthalt dieser Person gemäß § 30 Abs 3 SGB 1 am Ort (politische Gemeinde) der Wohnung anzunehmen, mag sie sich auch aus beruflichen oder privaten Gründen regelmäßig, vielleicht sogar täglich, für eine gewisse Zeit in einer anderen Stadt aufhalten.

 

Normenkette

BErzGG § 1 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4, § 8 Abs. 3; EWGV 1408/71 Art. 1 Buchst. u, Art. 4 Abs. 1 Buchst. h, Art. 13 Abs. 2 Buchst. a, Art. 73, 76 Fassung: 1989-10-30; EWGV 574/72 Art. 10 Fassung: 1989-10-30; SGB I § 30 Abs. 3

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 17.06.1994; Aktenzeichen L 13 Kg 49/93)

SG Münster (Entscheidung vom 19.01.1993; Aktenzeichen S 15 Kg 26/92)

 

Tatbestand

Streitig ist ein Anspruch auf Gewährung von Erziehungsgeld (Erzg).

Die Klägerin ist Hausfrau. Sie lebt mit ihrem Ehemann, der in Aachen als wissenschaftlicher Angestellter beschäftigt ist, und ihren Kindern O. (geboren 1983), M. (geboren 1986) und N. (geboren am 20. Juni 1991) nahe der deutsch-belgischen Grenze in H. /Belgien, ca 6 km von Aachen entfernt. 1987 ist die Familie von M. /Eifel nach H. umgezogen. Alle Familienmitglieder besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit. Die beiden älteren Kinder gehen in Aachen zur Schule. N. besucht einen Kindergarten in Aachen.

Das beklagte Land hat die beantragte Gewährung von Erzg für N. abgelehnt, weil die Klägerin weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland habe (Bescheid vom 2. Januar 1992, Widerspruchsbescheid vom 10. April 1992). Die Klage vor dem Sozialgericht (SG) blieb erfolglos (Urteil vom 19. Januar 1993). Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG sowie die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Erzg für ihren Sohn N. zu zahlen (Urteil vom 17. Juni 1994). Unter Berücksichtigung des Zwecks des Erziehungsgeldrechts liege der gewöhnliche Aufenthalt einer Inländerfamilie, die im Einzugsbereich einer inländischen Stadt grenznah im Ausland wohnt, im Gebiet des Einzugsbereichs dieser Stadt und damit auch im Inland, wenn die Familienmitglieder wirtschaftlich, sozial und kulturell an diese Stadt gebunden sind. Indiz für den gewöhnlichen Aufenthalt des überwiegend mit der Arbeit für die Familie und den Haushalt befaßten Elternteils im Inland sei der Kindergarten- und Schulbesuch von Kindern im Inland.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom LSG zugelassene Revision des Beklagten. Er meint, ungeachtet der vielfältigen Verbindungen zu Aachen liege der Schwerpunkt der Lebensführung der Klägerin am Ort der Familienwohnung in Belgien. Dies gelte auch für alle anderen Familienmitglieder. Das LSG habe mit seiner gegenteiligen Entscheidung die Vorschriften des § 1 Abs 1 Nr 1 Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG) und des § 30 Abs 3 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) verletzt. Der Anspruch der Klägerin lasse sich allenfalls aus dem Recht der Europäischen Gemeinschaften (EG) ableiten. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) habe mit Urteil vom 10. Oktober 1996 zu den vom LSG Nordrhein-Westfalen vorgelegten Vorabentscheidungsersuchen in den Parallelverfahren H. /. Land Nordrhein-Westfalen (C-245/94) und Z. /. Land Nordrhein-Westfalen (C-312/94) das nach dem BErzGG zu zahlende Erzg als innerhalb der Mitgliedstaaten der EG exportfähige Familienleistung anerkannt. Insofern fehle es aber an Feststellungen dazu, ob die Klägerin für N. eine dem Erzg vergleichbare Leistung nach belgischem Recht bezogen habe oder bei entsprechender Antragstellung habe in Anspruch nehmen können. Das LSG habe nicht geprüft, ob durch eine derartige belgische Leistung oder durch einen solchen Anspruch der Anspruch auf Erzg gemäß § 8 Abs 3 BErzGG oder nach europarechtlichen Antikumulierungsvorschriften (Art 76 EWGV 1408/71, Art 10 EWGV 574/72) ganz oder teilweise ausgeschlossen sei.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 17. Juni 1994 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Münster vom 19. Januar 1993 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Berufungsurteil und beruft sich hilfsweise auf die angeführte Rechtsprechung des EuGH.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat der Klägerin den Anspruch auf Gewährung von Erzg für ihren Sohn N. im Ergebnis zu Recht zugesprochen.

Allerdings ist der vom LSG gewählten Begründung für seine Entscheidung nicht zu folgen. Allein nach den Regelungen des BErzGG steht der Klägerin der geltend gemachte Anspruch nicht zu. Zwar erfüllt die Klägerin die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Nrn 2, 3 und 4 BErzGG, da sie mit N., für den ihr die Personensorge zusteht, in einem Haushalt lebt, sie ihren Sohn selbst betreut und erzieht und sie auch keine Erwerbstätigkeit ausübt. Der Anspruch scheitert jedoch daran, daß die Klägerin weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat, wie es § 1 Abs 1 Nr 1 BErzGG verlangt, und daß sie auch nicht ein Arbeitsverhältnis in der Bundesrepublik Deutschland eingegangen ist, was nach § 1 Abs 4 Nr 1 BErzGG für Angehörige eines Mitgliedstaats der EG ausreichen würde. Letzteres trifft zwar auf ihren Ehemann zu. Dieser besitzt jedoch deshalb keinen Anspruch auf Erzg, weil er seine Vollzeitbeschäftigung in Aachen nach der Geburt von N. unverändert fortgesetzt hat. Er hat einen solchen Anspruch auch nicht geltend gemacht.

Das LSG hat die Voraussetzungen eines gewöhnlichen Aufenthalts der Klägerin im Inland (Aachen) als erfüllt angesehen, weil die Kinder Schulen und Kindergärten in Aachen besuchen und nicht Erziehungseinrichtungen am ausländischen Wohnort der Familie. Dem vermag der Senat nicht zuzustimmen. Die in § 1 Abs 1 Nr 1 BErzGG verwendeten Begriffe "Wohnsitz" und "gewöhnlicher Aufenthalt" sind in § 30 Abs 3 SGB I definiert. Seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem bestimmten Ort oder in diesem bestimmten Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Entscheidend sind die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls. Sie sprechen auch im vorliegenden Fall gegen die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts an einem Ort oder in einem bestimmten Gebiet im Inland. Ungeachtet der vielfältigen Verbindungen nach Aachen, die möglicherweise sogar zu täglichen oder nahezu täglichen Besuchen in dieser Stadt führen, hat die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt am Ort ihrer Wohnung in Belgien. Solange eine Person nur eine Wohnung hat, in der sie auch tatsächlich ununterbrochen lebt und zudem den Haushalt der Familie führt, ist der gewöhnliche Aufenthalt dieser Person am Ort (politische Gemeinde) der Wohnung anzunehmen, mag sie sich auch aus beruflichen (zB Tagespendler zum Arbeitsplatz) oder privaten Gründen (zB Transport der Kinder zum Kindergarten oder zur Schule und Abholen der Kinder; Einkäufe; Besuche bei Verwandten und Bekannten) regelmäßig, vielleicht sogar täglich, für eine gewisse Zeit in einer anderen Stadt aufhalten. Zumindest dann, wenn in dieser Stadt keine Zweitwohnung unterhalten wird und eine tägliche Rückkehr in die Wohnung der Familie erfolgt, liegt der Schwerpunkt der Lebensführung nur am Ort der Wohnung. Die Besuche in der benachbarten Stadt führen allenfalls zu einem täglichen vorübergehenden Aufenthalt in dieser Stadt und tangieren den Schwerpunkt der Lebensführung nicht. Die Vorschriften des BErzGG erlauben daher - isoliert betrachtet - keine zusprechende Entscheidung.

Der Anspruch ist jedoch nach § 1 Abs 1 und Abs 4 Nr 1 BErzGG in Verbindung mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht begründet. Nach Art 73 EWGV 1408/71 steht der belgische Wohnsitz der Klägerin und ihres Sohnes einem Wohnsitz in Deutschland gleich.

Der EuGH hat mit Urteil vom 10. Oktober 1996 (SozR 3-6050 Art 4 Nr 8 = EuZW 1996, 730) auf zwei Vorabentscheidungsersuchen des LSG Nordrhein-Westfalen vom 17. Juni 1994 und 19. August 1994 sowie unter zusätzlicher Berücksichtigung des zu vorliegendem Verfahren beschlossenen (und wegen Klärung der Rechtsfragen am 6. Februar 1997 wieder aufgehobenen) Vorabentscheidungsersuchens des erkennenden Senats vom 29. November 1995 entschieden:

1. Eine Leistung wie das Erziehungsgeld nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz, die unabhängig von jeder auf Ermessensausübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit ohne weiteres den Personen gewährt wird, die bestimmte objektive Voraussetzungen erfüllen, und die dem Ausgleich von Familienlasten dient, ist einer Familienleistung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zu Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 3427/89 des Rates vom 30. Oktober 1989 geänderten Fassung gleichzustellen.

2. Der Ehegatte eines Arbeitnehmers, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt und mit seiner Familie in einem anderen Mitgliedstaat lebt, hat aufgrund von Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 im Mitgliedstaat der Beschäftigung Anspruch auf eine Leistung wie das Erziehungsgeld.

3. Artikel 3 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, daß ein Erziehungsgeld wie das nach §§ 1 ff. Bundeserziehungsgeldgesetz nicht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fällt.

Ungeachtet der Kritik, auf die diese Entscheidung des EuGH insbesondere in der Literatur gestoßen ist (vgl Eichenhofer EuZW 1996, 716), ist die vom EuGH getroffene gemeinschaftsrechtliche Einstufung des Erzg nach dem BErzGG als eine Leistung, die einer Familienleistung iS des Art 4 Abs 1 Buchst h) EWGV 1408/71 gleichzustellen ist, für die innerstaatliche Rechtsanwendung verbindlich. Zweifel an der Einordnung des Erzg als Familienleistung mögen zwar weiterhin angebracht sein, sie berechtigen jedoch nicht dazu, die für alle Mitgliedstaaten der EG und ihre Behörden verbindliche Interpretation des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH zu übergehen. Als Ehefrau eines in der Bundesrepublik Deutschland im Angestelltenverhältnis beschäftigten Angehörigen eines Mitgliedstaats der EG kann die in einem anderen Mitgliedstaat lebende Klägerin Erzg beanspruchen, obwohl der Anspruch auf Erzg im BErzGG als eigener Anspruch des betreuenden und erziehenden Elternteils (§ 1 Abs 1 BErzGG) und nicht als ein von einem in einem Mitgliedstaat der EG beschäftigten Arbeitnehmer abgeleiteter Anspruch ausgestaltet worden ist. Aufgrund der Einstufung des Erzg als Familienleistung steht der ausländische einem inländischen Wohnsitz (Art 73 EWGV) gleich.

Im Vordergrund der Kritik an der Entscheidung des EuGH steht die Auffassung, das Urteil sei unvereinbar mit Art 13 EWGV 1408/71: Die vom EuGH herangezogene Vorschrift des Art 73 EWGV 1408/71 habe grundsätzlich nicht die Aufgabe, den internationalen Geltungsbereich des Rechts der Familienleistungen für einzelne Mitgliedstaaten zu bestimmen. Die Vorschrift setze vielmehr (und abschließend) voraus, daß das Recht der Familienleistungen eines bestimmten Staates auf einen Berechtigten anzuwenden ist. Die Bestimmung des internationalen Geltungsbereiches von Leistungen der sozialen Sicherheit werde allein in den in Art 13 ff EWGV 1408/71 enthaltenen Kollisionsnormen geregelt. Danach könne das Sozialrecht eines Mitgliedstaates nur dann angewendet werden, wenn der Berechtigte in dem betreffenden Staat regelmäßig beschäftigt oder erwerbstätig (Art 13 Abs 2 Buchst a) EWGV 1408/71) oder als nicht Erwerbstätiger wohnhaft ist (Art 13 Abs 2 Buchst f) EWGV 1408/71). Daraus folge, daß das deutsche Recht der Familienleistungen auf die Klägerin nur anzuwenden wäre, falls diese in Deutschland (nicht nur geringfügig) beschäftigt oder ansässig wäre (so eingehend Eichenhofer EuZW 1996, 716). Der EuGH habe nicht berücksichtigt, daß sein Lösungsansatz zur Folge habe, daß auf den Anspruch der Klägerin auf Erzg zugleich belgisches und deutsches Recht anwendbar sei, was Art 13 EWGV 1408/71 gerade ausschließen wolle.

Der Senat teilt diese Kritik nicht. Die Kritik fußt darauf, daß das BErzGG den Anspruch auf Erzg als originären Anspruch des auf eine Vollerwerbstätigkeit verzichtenden, das Kind betreuenden Elternteils ausgestaltet hat. Der nicht berufstätige Elternteil, der sich der Kinderbetreuung widmet, besitzt einen eigenen, nicht von der Berufstätigkeit des anderen Elternteils abgeleiteten Anspruch auf Erzg. Diese Differenzierung hinsichtlich der Person des Anspruchsberechtigten hat der EuGH jedoch im Bereich der Familienleistungen mit seinem Urteil gerade für unerheblich erklärt. Solange eine Sozialleistung von ihrer Zweckbestimmung her dem Ausgleich von Familienlasten dient und somit als Familienleistung anzusehen ist (Art 1 Buchst u) i) und Art 4 Abs 1 Buchst h) EWGV 1408/71), kommt es nicht darauf an, ob das Erzg dem erziehenden Elternteil aus vom in einem anderen Mitgliedstaat der EG beschäftigten anderen Elternteil abgeleitetem oder aus eigenem Recht zusteht. Maßgebend ist dann allein das Statut des Beschäftigungsstaates, hier also Deutschlands (Art 13 Abs 2 Buchst a) EWGV 1408/71). Die nationalen Gesetzgeber haben danach keine Möglichkeit - und sollen sie im Interesse der Freizügigkeit der Wanderarbeitnehmer und ihrer Angehörigen auch nicht haben -, durch die Schaffung originärer Ansprüche des nicht berufstätigen Ehegatten auf Sozialleistungen, die als Familienleistungen zu qualifizieren sind, den Export der Leistung in die anderen Mitgliedstaaten der EG und damit den Kreis der von der Zweckbestimmung der Leistung her an sich Leistungsberechtigten einzuschränken. Der aufgrund eines originären Anspruchs leistungsberechtigte nicht berufstätige Elternteil steht danach bei Familienleistungen dem in dem anderen Mitgliedstaat beschäftigten Elternteil gleich. Sein originärer Anspruch ist in Ansehung des Art 13 EWGV 1408/71 zu behandeln, als wenn es sich um einen vom Arbeitnehmer abgeleiteten Anspruch handeln würde. Die Entscheidung des EuGH bedeutet somit nicht, daß nach Maßgabe des EG-Rechts auf den Anspruch der Klägerin auf Erzg zugleich belgisches und deutsches Recht anzuwenden wäre, was Art 13 EWGV 1408/71 gerade ausschließen will. Vielmehr geht es allenfalls darum, daß ein denkbarer Anspruch auf Erzg (oder eine vergleichbare Leistung) allein nach belgischem Recht aufgrund des Wohnorts der Klägerin und ein durch Gemeinschaftsrecht begründeter Anspruch auf Erzg nach deutschem Recht aufgrund des Beschäftigungsorts des Ehemannes der Klägerin (und der Gleichstellung des originären Anspruchs der Klägerin mit einem solchen Anspruch ihres Ehemannes) miteinander konkurrieren. Es handelt sich folglich um eine Konstellation, in der eine Familienlast sowohl durch die an den Wohnort anknüpfende Leistung des einen Staates nach rein innerstaatlichem Recht als auch durch die an den Beschäftigungsort anknüpfende - und damit EG-rechtlich begründete - Leistung des anderen Staates ausgeglichen wird, ohne daß es auf die Person des jeweils Anspruchsberechtigten ankommt. Diese Situation ist beispielsweise derjenigen im Kindergeldrecht vergleichbar, in der ein Arbeitnehmer für ein in einem anderen Mitgliedstaat der EG bei der Mutter lebendes Kind im Beschäftigungsstaat und die Mutter des Kindes im Wohnstaat Kindergeld bezieht (vgl hierzu EuGH SozR 6055 Art 10 Nrn 5 und 6). Die Vorschrift des Art 13 EWGV 1408/71 wirft daher keine neuen Probleme auf; es geht nicht um die mitgliedstaatliche Zuordnung eines Anspruchs, sondern um die mögliche Kollision zweier Ansprüche aus nationalen Rechtskreisen. Es stellt sich lediglich die Frage, in welcher Weise die Antikumulierungsvorschriften des europäischen Gemeinschaftsrechts (Art 76 EWGV 1408/71, Art 10 EWGV 574/72) das Verhältnis der beiden Ansprüche zueinander regeln. Die gemeinschaftsrechtlichen Antikumulierungsvorschriften stehen dem Anspruch der Klägerin nicht entgegen. Der Anspruch auf das deutsche Erzg ist im vorliegenden Fall vorrangig gegenüber einem etwaigen Anspruch auf Erzg oder eine vergleichbare Familienleistung nach belgischem Recht, und Erzg wäre selbst dann ungekürzt zu gewähren, wenn die Klägerin eine entsprechende belgische Leistung bezogen hätte. Deshalb konnte die Frage offenbleiben, ob ein solcher Anspruch nach belgischem Recht bestanden hat und gegebenenfalls auch ausgezahlt worden ist. Art 76 EWGV 1408/71 ist wegen fehlender Berufstätigkeit der Klägerin nicht einschlägig. Die Vorschrift in ihrer hier maßgebenden Fassung der EWGV 3427/89 vom 30. Oktober 1989 besagt: "Sind im Laufe desselben Zeitraums, für denselben Familienangehörigen und aufgrund der Ausübung einer Berufstätigkeit in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, Familienleistungen vorgesehen, so wird der Anspruch auf die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gegebenenfalls nach den Art 73 bzw 74 geschuldeten Familienleistungen bis zur Höhe des durch die Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats vorgesehenen Betrages ausgesetzt (Abs 1). Wird in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, kein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt, so kann der zuständige Träger des anderen Mitgliedstaats Abs 1 anwenden, als ob Leistungen in dem ersten Mitgliedstaat gewährt würden" (Abs 2). Diese Vorschrift begründet einen Vorrang des Anspruchs auf Familienleistungen im Wohnstaat der Familienangehörigen, sofern er seinerseits von einer Berufstätigkeit und nicht nur vom Wohnsitz abhängig ist. Da die Klägerin nicht berufstätig war und ist, tritt unabhängig davon, ob es in Belgien eine Leistung wie das Erzg gibt, ob die Klägerin gegebenenfalls eine solche Leistung bezogen hat oder bei entsprechender Antragstellung hätte beziehen können, kein Nachrang des Anspruchs auf deutsches Erzg ein, weil die Leistung nach belgischem Recht dann nicht von einer Berufstätigkeit abhängig wäre, und eine etwaige belgische Leistung würde deshalb auch nicht auf die deutsche Leistung angerechnet.

Art 10 EWGV 574/72 in der hier maßgeblichen Fassung der EWGV 3427/89 vom 30. Oktober 1989 steht dem geltend gemachten Anspruch wegen fehlender Berufstätigkeit der Klägerin ebenfalls nicht entgegen. Die Vorschrift besagt, soweit sie hier in Betracht kommt: "Der Anspruch auf Familienleistungen oder -beihilfen, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats geschuldet werden, nach denen der Erwerb des Anspruchs auf diese Leistungen oder Beihilfen nicht von einer Versicherung, Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit abhängig ist, wird, wenn während desselben Zeitraums für dasselbe Familienmitglied Leistungen allein aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats oder nach Art 73, 74, 77 oder 78 der Verordnung geschuldet werden, bis zur Höhe dieser geschuldeten Leistungen ausgesetzt (Abs 1 Buchst a)). Wird jedoch in dem Fall, in dem Leistungen allein aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats oder nach Art 73 oder 74 der Verordnung geschuldet werden, von der Person, die Anspruch auf die Familienleistungen hat, oder von der Person, an die sie zu zahlen sind, in dem unter Buchst a) erstgenannten Mitgliedstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt, so wird der Anspruch auf die allein aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats oder nach den genannten Artikeln geschuldeten Familienleistungen ausgesetzt, und zwar bis zur Höhe der Familienleistungen, die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorgesehen sind, in dessen Gebiet das Familienmitglied wohnhaft ist. Leistungen, die der Mitgliedstaat zahlt, in dessen Gebiet das Familienmitglied wohnhaft ist, gehen zu Lasten dieses Staates" (Abs 1 Buchst b) i)). Nach Art 10 Abs 1 Buchst a) EWGV 574/72 würde der Anspruch auf belgisches Erzg (oder eine vergleichbare Familienleistung), sofern es allein aufgrund des Wohnsitzes in Belgien zu gewähren wäre, bis zur Höhe des deutschen Erzg ausgesetzt. Letzteres bliebe auch in diesem Fall vorrangig. Ein entgegen dieser Vorschrift gezahltes belgisches Erzg könnte unter Umständen vom belgischen Träger ganz oder teilweise zurückgefordert werden, es würde aber nicht auf das deutsche Erzg angerechnet oder dieses zum Ruhen bringen. Der Anspruch auf das deutsche Erzg würde gemäß Art 10 Abs 1 Buchst b) i) EWGV 574/72 nur dann ganz oder teilweise ausgesetzt, wenn die Klägerin einen Anspruch auf belgisches Erzg hätte und sie in Belgien eine Berufstätigkeit ausübte. Da die Klägerin aber keiner Berufstätigkeit nachgeht, wäre der Bezug belgischen Erzg oder einer vergleichbaren Leistung oder auch nur der Besitz eines entsprechenden Anspruchs für den Anspruch auf deutsches Erzg dem Grunde und der Höhe nach unschädlich. Da die gemeinschaftsrechtlichen Antikumulierungsvorschriften innerhalb des Gebiets der Mitgliedstaaten der EG abschließenden Charakter haben und dem entgegenstehende (strengere) Antikumulierungsvorschriften des jeweiligen nationalen Rechts wegen Verstoßes gegen das höherrangige Gemeinschaftsrecht unwirksam wären, braucht nicht geprüft zu werden, ob der Anspruch der Klägerin durch die Regelung des § 8 Abs 3 BErzGG ausgeschlossen wäre. Nach dieser Vorschrift schließen Leistungen, die außerhalb des Geltungsbereichs des BErzGG in Anspruch genommen werden und dem Erzg oder dem Mutterschaftsgeld vergleichbar sind, das Erzg aus. Ein Leistungsausschluß aufgrund dieser Vorschrift wäre hier unwirksam. Diese Unwirksamkeit wegen Widerspruchs zum EG-Recht ist von den Gerichten jederzeit zu beachten.

Die Revision des Beklagten mußte nach alledem zurückgewiesen werden. Eine erneute Vorlage an den EuGH nach Art 177 des EWG-Vertrages kam nicht in Betracht, da der Fall nach der angeführten Entscheidung vom 10. Oktober 1996 keine Fragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts mehr aufwies, die nicht eindeutig zu beantworten gewesen wären.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

Die den Beteiligten im Vorabentscheidungsverfahren C-16/96 des EuGH entstandenen Kosten sind als Kosten des dritten Rechtszuges anzusehen (vgl Beschluß des Präsidenten des EuGH vom 14. April 1997).

 

Fundstellen

BSGE, 288

FamRZ 1998, 912

SozSi 1998, 280

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