Entscheidungsstichwort (Thema)

Schätzung der MdE. Abweichung um 5 vH. Überprüfung im Berufungsverfahren

 

Orientierungssatz

1. Nach § 157 SGG prüft das LSG den Streitfall im gleichen Umfang wie das SG. Das LSG hat nicht zu entscheiden, ob die Schätzung der unfallbedingten MdE durch das SG zutreffend ist, sondern ihm obliegt es selbst festzustellen, in welchem Maße die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch die Unfallfolgen gemindert ist. An die Schätzung des Grades der MdE durch das SG ist das LSG nicht gebunden (vgl BSG 1978-12-14 2 RU 10/78 = SozSich 1979, 89).

2. Im Berufungsverfahren ist Streitgegenstand nicht das erstinstanzliche Urteil, das etwa vom LSG auf seine Richtigkeit hin zu überprüfen wäre, sondern, wie schon in der ersten Instanz, der Verwaltungsakt der Beklagten.

 

Normenkette

RVO § 581 Abs 1 Fassung: 1963-04-30; SGG § 157 S 1 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Bremen (Entscheidung vom 24.04.1980; Aktenzeichen L 2 U 23/78)

SG Bremen (Entscheidung vom 27.06.1978; Aktenzeichen S U 193/76)

 

Tatbestand

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 14. September 1976 die Gewährung einer Verletztenrente an den Kläger wegen einer auf einen Arbeitsunfall zurückzuführenden linksseitigen Innenohrschwerhörigkeit ab.

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 27. Juni 1978 die Beklagte verurteilt, dem Kläger Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH zu zahlen.

Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 24. April 1980 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Mit welchem Prozentsatz eine unfallbedingte MdE im Einzelfall zu bewerten sei, unterliege einer Schätzung. Weil innerhalb der Toleranzgrenze die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Schätzung nicht bewiesen werden könne, sei es der eine Schätzung überprüfenden Stelle nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) versagt, ein anderes innerhalb einer Schwankungsbreite von 5 vH liegendes Schätzungsergebnis als das allein richtige Ergebnis anzusehen. Die Beklagte habe die Schätzung der unfallbedingten MdE mit 15 vH durch den von ihr gehörten Arzt nicht zur Begründung ihres Verfügungssatzes im Bescheid gemacht, so daß schon deshalb das SG die unfallbedingte MdE mit 20 vH habe feststellen können. Dem Senat sei aber verwehrt, von der vom SG festgestellten MdE um 5 vH nach oben oder unten abzuweichen. Dies gelte jedenfalls dann, wenn das SG die Schätzungsgrundlagen richtig ermittelt sowie alle für die Schätzung wesentlichen Umstände hinreichend gewürdigt habe und die Schätzung selbst nicht auf falschen oder unzureichenden Erwägungen beruhe. Die Einschätzung der unfallbedingten MdE durch das SG könne durchgreifenden Bedenken nicht begegnen. Jedenfalls sei es dem Senat verwehrt, die von der Beklagten erstrebte Korrektur des Schätzungsergebnisses vorzunehmen.

Der Senat hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt.

Sie trägt vor, das LSG sei nach der Rechtsprechung des BSG, Urteil vom 14. Dezember 1978 (2 RU 10/78), verpflichtet gewesen, die unfallbedingte MdE des Klägers selbst festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG Bremen vom 24. April 1980 und des

SG Bremen vom 27. Juni 1978 aufzuheben und die Klage

abzuweisen,

hilfsweise, das Urteil des LSG Bremen vom 24. April 1980

aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung

und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Das LSG habe die Höhe der MdE aufgrund eigener Sachaufklärung und Überzeugungsbildung selbst festgestellt, so daß auch eine Divergenz zum Urteil des BSG vom 14. Dezember 1978 (2 RU 10/78) nicht vorliege. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG seien nicht mit Verfahrensrügen angegriffen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Das LSG hat die Schätzung des Grades der MdE (§ 581 Reichsversicherungsordnung -RVO-) durch den Arbeitsunfall des Klägers nicht selbst vorgenommen, sondern rechtsirrtümlich angenommen, von der Schätzung des SG nicht um weniger als 5 vH abweichen zu dürfen. Das LSG hat zwar auf den S 14-16 seiner Urteilsbegründung ausgeführt, daß die Schätzung der unfallbedingten MdE durch das SG nicht zu beanstanden sei. Diese Prüfung erfolgte jedoch unter der auf Seite 14 (letzter Absatz) eindeutig niedergelegten Rechtsauffassung, daß das LSG von der Schätzung der MdE durch das SG um v vH nach oben oder unten nicht abweichen dürfe, wenn das SG die Schätzungsgrundlagen richtig ermittelt und alle für die Schätzungen wesentlichen Umstände hinreichend gewürdigt habe sowie die Schätzung selbst nicht auf falschen oder unzureichenden Erwägungen beruhe. Das LSG hat demnach nur die Schätzung des SG nachgeprüft und diese Schätzung zudem nur in dem aufgezeigten Rahmen einer Nachprüfung unterzogen. Nach § 157 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) prüft jedoch das LSG den Streitfall im gleichen Umfang wie das SG. Das LSG hatte danach nicht zu entscheiden, ob die Schätzung der unfallbedingten MdE durch das SG zutreffend ist, sondern ihm oblag es selbst festzustellen, in welchem Maße die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch die Unfallfolgen gemindert ist. An die Schätzung des Grades der MdE durch das SG war das LSG nicht gebunden (BSG Urteil vom 14. Dezember 1978 - 2 RU 10/78). Offensichtlich hat das LSG die Rechtsprechung des BSG mißverstanden, wonach ein Bescheid über die Festsetzung der ersten Dauerrente nicht schon rechtswidrig ist, wenn bei unstreitigen Unfallfolgen die der Bewertung zugrunde liegenden ärztlichen Schätzungen sich lediglich um 5 vH unterscheiden und damit innerhalb der allen ärztlichen Schätzungen eigenen Schwankungsbreite liegen (BSGE 41, 99, 101). Im Berufungsverfahren ist Streitgegenstand nicht das erstinstanzliche Urteil, das etwa vom LSG auf seine Richtigkeit hin zu überprüfen wäre, sondern, wie schon in der ersten Instanz, der Verwaltungsakt der Beklagten (s BSG Urteil vom 14. Dezember 1978 aaO). Ihn hatte das LSG nachzuprüfen. Hätte es eine MdE um 20 vH (oder mehr) angenommen, mußte die Berufung der Beklagten zurückgewiesen werden. Denn entgegen der Auffassung der Revision hat die Beklagte im angefochtenen Bescheid nicht einen MdE-Grad (von 15 vH) festgesetzt, von dem die Gerichte nicht um nur 5 vH abweichen durften. Die Beklagte hat vielmehr ohne Festsetzung eines MdE-Grades die Verletztenrente abgelehnt, weil der Arbeitsunfall eine rentenberechtigende MdE nicht hinterlassen habe. Lediglich in der Begründung des Bescheides hat sie sich auf die Ansicht des von ihr mit der Untersuchung des Klägers beauftragten Arztes berufen, der eine MdE von 15 vH für angemessen hielt. Ist somit ein MdE-Grad durch die Beklagte nicht festgesetzt (s BSGE 37, 177, 180; 41, 99, 101), war das LSG schon deshalb nicht gehindert, die MdE auf 20 vH zu schätzen.

Da das LSG aufgrund seiner abweichenden Rechtsauffassung keine Feststellungen darüber getroffen hat, in welchem Maße der Kläger durch die Unfallfolgen in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert wird, diese Feststellungen durch das Revisionsgericht auch nicht nachgeholt werden können, war dem Hauptantrag der Beklagten schon deshalb nicht stattzugeben und auch nicht auf die anderen von dem Kläger und der Beklagten aufgeworfenen Rechtsfragen einzugehen, vielmehr mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden, damit dieses zunächst die erforderlichen Feststellungen trifft. Dabei hat das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661111

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