Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. wesentlicher Verfahrensmangel. Pflicht zur Sachaufklärung. Kriegsopferversorgung

 

Orientierungssatz

Das Landessozialgericht verletzt seine Ermittlungspflicht, wenn es (hier im Hinblick auf die Anerkennung eines Herzmuskelschadens als kriegsbedingte Schädigungsfolge) wesentliche Umstände nicht in dem für seine Entscheidung erforderlichen Umfang feststellt, obwohl eine weitere Sachaufklärung geboten und möglich wäre.

 

Normenkette

SGG §§ 103, 162 Abs. 1 Nr. 2; BVG

 

Verfahrensgang

LSG für das Saarland (Urteil vom 21.09.1963)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 21. September 1962 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Gründe

Dem Kläger waren mit Bescheid vom 13. Februar 1958 "geringfügige Veränderungen am Lungen- und Zwerchfell beiderseits nach Rippenfellentzündung" als Schädigungsfolgen anerkannt, die Zahlung einer Rente aber abgelehnt worden, weil die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) weniger als 25 v. H. betrug. Durch Urteil des Versorgungsgerichts für das Saarland vom 26. Juni 1958 wurde als weitere Schädigungsfolge ein Herzmuskelschaden anerkannt und die MdE vom 1. August 1955 an auf 40 v. H. festgesetzt. Maßgebend für dieses Urteil war das Gutachten des Gerichtsarztes Dr. R, der entgegen der von Dr. N vom Städtischen Krankenhaus S in seinem Gutachten vom 1. Oktober 1957 geäußerten Auffassung das Vorhandensein eines seit Ende der Gefangenschaft bestehenden Herzleidens und dessen Zusammenhang mit dem Wehrdienst bejaht hatte. Das Landessozialgericht (LSG) für das Saarland hat nach Beiziehung eines Befundberichts von Dr. N und nach Einholung eines Gutachtens von Prof. Dr. von B das Urteil des Versorgungsgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen. Das LSG war der Auffassung, die Ausführungen des Gerichtsarztes ließen nur das Vorhandensein eines zeitlichen, nicht aber eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen dem Herzleiden und dem Wehrdienst erkennen. Nach dem überzeugenden Gutachten des Prof. Dr. von B vom 2. Juli 1961 bestehe aber kein ursächlicher Zusammenhang des Herzleidens mit dem Wehrdienst; dieses Gutachten stimme im wesentlichen überein mit dem Gutachten des Oberarztes Dr. N von der Medizinischen Klinik des Städtischen Krankenhauses S vom 1. Oktober 1957. Es sei auch nicht ersichtlich, daß der Sachverständige von unzutreffenden Voraussetzungen ausgegangen sei. Der Kläger habe in diesem Zusammenhang auf die unterschiedliche Beurteilung des Alters seines Herzinfarkts hingewiesen, der nach Ansicht von Prof. Dr. von B offenbar im Jahre 1955 eingetreten sei, während die Untersuchung im Hüttenkrankenhaus D (Elektrokardiogramm vom 27. Juni 1955) ein älteres Infarktgeschehen an der Vorderwand ergeben hätte. Diese Feststellung bedeute aber nicht, daß es sich um einen jahrelang zurückliegenden Infarkt handeln müsse. Im übrigen habe der Sachverständige einen Herzinfarkt im Jahre 1955 auf Grund der Angaben des Klägers angenommen, wonach in diesem Jahre ein schwerer Herzanfall stattgefunden habe. Auch sonst sei der Sachverständige von den Angaben des Klägers ausgegangen, insbesondere auch von dessen Angabe, daß bereits während der Kriegsgefangenschaft die ersten Herzbeschwerden aufgetreten seien. Trotz diesem zeitlichen Zusammenhang sei jedoch nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen ein ursächlicher Zusammenhang mit dem Wehrdienst nicht zu erkennen, weshalb der Herzmuskelschaden zu Unrecht anerkannt worden sei. Die Revision ist nicht zugelassen worden.

Gegen dieses ihm am 9. Oktober 1962 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 6. November 1962, beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen am 8. November 1962, Revision eingelegt. Er beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

In der Revisionsbegründung vom 11. Dezember 1962, die innerhalb der bis zum 9. Januar 1963 verlängerten Frist für die Begründung am 12. Dezember 1962 beim BSG eingegangen ist, rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 103 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Er trägt vor, die für die Ablehnung des ursächlichen Zusammenhangs maßgebenden ärztlichen Gutachten enthielten keine Stellungnahme zu der Frage, ob die Herzbeschwerden, die 1948 in der Kriegsgefangenschaft aufgetreten seien und eine längere Behandlung erfordert hätten, als Folgen der besonderen Lebensumstände in der Gefangenschaft zu betrachten seien. Dr. R habe in seinem Gutachten vom 26. Juni 1958 eine fachärztliche Beurteilung der Frage eines solchen Zusammenhangs für erforderlich gehalten und darauf hingewiesen, daß die ärztlichen Sachverständigen des Städtischen Krankenhauses S in ihrem Gutachten vom 1. Oktober 1957 zu den für die Entscheidung über die Anerkennung des Versorgungsanspruchs erheblichen Fragen nicht Stellung genommen hätten. Dr. N sei auf die Frage des ursächlichen Zusammenhangs des Herzmuskelschadens mit Einflüssen der Gefangenschaft überhaupt nicht eingegangen. Zwar habe das Berufungsgericht der Beurteilung durch Dr. R die übereinstimmenden Auffassungen von Dr. N und von Prof. Dr. von B entgegengehalten, jedoch hätten diese Gutachter die entscheidende Frage nicht beantwortet und bei ihrer Beurteilung nur den Infarkt, aber nicht die Frage in Betracht gezogen, ob der festgestellte Herzmuskelschaden auf Einwirkungen der Kriegsgefangenschaft zurückzuführen sei. Ungeachtet dessen habe das LSG aber festgestellt, nach dem Ergebnis der anläßlich der genannten Gutachten im Oktober 1957 und im Juli 1961 durchgeführten Untersuchungen sei kein auf Einwirkungen der Kriegsgefangenschaft zurückzuführender Herzmuskelschaden anzunehmen. Unrichtig sei auch die Annahme des LSG, der Sachverständige sei von den Herzbeschwerden in der Kriegsgefangenschaft ausgegangen; dies ergebe sich weder aus dem Gutachten von Dr. N noch aus dem von Prof. Dr. von B. Insoweit habe das LSG diesen Gutachten eine mit ihrem Inhalt nicht zu vereinbarende Erklärung entnommen und infolgedessen die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung überschritten. Das LSG wäre genötigt gewesen, den medizinischen Sachverhalt im Sinne der Ausführungen von Dr. N, Dr. K und Dr. R weiter zu klären und insbesondere eine Stellungnahme darüber herbeizuführen, ob und inwieweit der Herzmuskelschaden als Folge einer Dystrophie zu betrachten wäre.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Er trägt vor, die vom Kläger gerügten Verstöße gegen die §§ 103 und 128 SGG lägen nicht vor. Das LSG habe bei seiner Entscheidung alle für die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs erheblichen Unterlagen berücksichtigt, es habe keinen Anlaß zu einer weiteren Sachaufklärung gehabt und seine Überzeugung auf zwei in der Ablehnung des ursächlichen Zusammenhangs des Herzleidens mit der Kriegsgefangenschaft übereinstimmende Gutachten gestützt. Aus diesen Ausführungen folgt, daß der Beklagte die Revision mangels begründeter Verfahrensrügen überhaupt nicht für statthaft hält.

Kläger und Beklagter haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 SGG einverstanden erklärt.

Die Revision des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Da sie vom LSG nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen worden ist, findet sie nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG gerügt wird (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150) oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG).

Der Kläger hat als wesentlichen Verfahrensmängel Verstöße gegen die §§ 103 und 128 SGG gerügt. Für die Statthaftigkeit der Revision genügt es, wenn eine dieser Rügen durchgreift. Auf weitere Verfahrensrügen braucht dann nicht mehr eingegangen zu werden (vgl. BSG in SozR SGG § 162 Nr. 122).

Der Kläger rügt vor allem eine Verletzung des § 103 SGG. Nach dieser Vorschrift hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, ohne dabei an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten gebunden zu sein. Zur Feststellung der für den erhobenen Anspruch wesentlichen Tatsachen hat das Gericht die für seine Entscheidung notwendigen und nach Lage der Sache gebotenen Ermittlungen anzustellen; es verletzt diese Pflicht, wenn es wesentliche Umstände nicht in dem für seine Entscheidung erforderlichen Umfang festgestellt hat, obwohl eine weitere Sachaufklärung geboten und möglich gewesen wäre. Der Kläger rügt, das LSG habe den Sachverhalt nicht in dem für die Entscheidung über die Anerkennung seines Herzmuskelschadens erforderlichen Umfang geklärt; für diese Entscheidung hätten die Gutachten des Prof. Dr. von B und des Oberarztes der Medizinischen Klinik des Städtischen Krankenhauses S nicht ausgereicht. Diese Rüge greift durch. Das LSG hat entschieden, daß der Herzmuskelschaden nicht als Schädigungsfolge anerkannt werden kann; es hat sich dabei auf die übereinstimmenden Gutachten des Prof. Dr. von B und des Oberarztes Dr. N von der Medizinischen Klinik des Städtischen Krankenhauses S gestützt, die den ursächlichen Zusammenhang eines Herzleidens mit dem Wehrdienst verneint haben. Für die Entscheidung über die Berufung des Beklagten ist es auf die Klärung der Frage angekommen, ob der Herzmuskelschaden des Klägers auf Einwirkung en der Kriegsgefangenschaft zurückzuführen ist oder nicht. Diese Auffassung des LSG geht aus dem Beweisbeschluß vom 27. Juni 1961 hervor, nach dem Prof. Dr. von B sein Gutachten ausdrücklich zu dieser Frage erstatten sollte. Für die hiernach erforderliche Entscheidung können aber, wie vom Kläger zutreffend gerügt, die Gutachten des Prof. Dr. von B und des Dr. N nicht als ausreichend angesehen werden. Prof. Dr. von B ist in seinem Gutachten auf die ihm in dem Beweisbeschluß ausdrücklich gestellte Frage überhaupt nicht näher eingegangen. Er hat sich dem Gutachten vom 1. Oktober 1957 angeschlossen, das Oberarzt Dr. N in Vertretung des Chefarztes Dr. D erstattet hat. Bei seiner Beurteilung der Herzbeschwerden hat er nur das Ereignis berücksichtigt, das im Jahre 1955 - sechs Jahre nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft - zu einer ambulanten elektrokardiographischen Untersuchung geführt hat, nämlich den wahrscheinlich zu dieser Zeit eingetretenen Herzinfarkt. Wie der Gutachter Prof. Dr. von B dann näher darlegt, könnten die russische Kriegsgefangenschaft und deren Begleiterscheinungen unmöglich als "infarktfördernde Einwirkungen" angesehen werden, der Infarkt sei vielmehr durch eine sich langsam entwickelnde, erstmals im Krankenhaus S festgestellte Polycythämie gefördert worden. Er kommt zu dem Ergebnis, daß aus diesen Gründen ein Zusammenhang des Herzleidens mit dem Wehrdienst verneint werden müsse. In dem Gutachten des Dr. N, dessen Ansicht sich Prof. Dr. von B angeschlossen hat, ist zwar bei Wiedergabe des von dem Hüttenkrankenhaus D. erhobenen Befundes eine schwere Myokardschädigung erwähnt, jedoch ist der Gutachter in den weiteren Ausführungen auf die Ursachen und die Entwicklung dieser Gesundheitsschädigung nicht näher eingegangen, er hat sich vielmehr auch nur mit dem Herzinfarkt auseinandergesetzt, der seiner Ansicht nach nicht während der russischen Kriegsgefangenschaft, sondern erst später im Jahre 1955 eingetreten ist und daher auch nicht auf die Verhältnisse in der russischen Kriegsgefangenschaft zurückgeführt werden könne, zumal nach allgemeiner medizinisch-wissenschaftlicher Erfahrung eine Dystrophie die Entstehung eines Herzinfarkts eher verhindere als fördere. Der Gutachter gelangt so zu dem Schluß, daß Nachweise für das Vorliegen einer Dienstbeschädigung nicht vorlägen, insbesondere aber kein Zusammenhang des offenbar erst 1955 erlittenen Herzinfarkts mit Einflüssen des Wehrdienstes oder der Gefangenschaft bestehe. Die Ausführungen beider Gutachter haben sich sonach nur auf den Herzinfarkt und dessen Ursache bezogen, aber nicht auf die für die Entscheidung des LSG wesentliche Frage, ob der Herzmuskelschaden des Klägers auf Einwirkungen der Kriegsgefangenschaft zurückzuführen ist. Unter diesen Umständen wäre das LSG zu einer weiteren Sachaufklärung in dieser Richtung genötigt gewesen. Dies gilt um so mehr, als der Kläger nach der im Urteil des LSG erwähnten Bescheinigung des Dr. K schon im Sommer 1948 in der russischen Kriegsgefangenschaft drei Wochen wegen eines Herzmuskelschadens im Krankenrevier gelegen hat und nach dem vom LSG eingeholten Bericht des Dr. N seit Rückkehr aus der Gefangenschaft im April 1949 ständig in ärztlicher Behandlung gewesen ist, weil er an einer Dystrophie und als Folge davon nach dem mitgeteilten Befund auch an einem Herzmuskelschaden gelitten hat. Hinzu kommt, daß in dem bei den Versorgungsakten befindlichen, im Gutachten des Dr. N beschriebenen Befund des Hüttenkrankenhauses D ebenfalls eine schwere Myokardschädigung erwähnt ist. Auf die bei diesem Sachverhalt für die Entscheidung des LSG so bedeutsame Frage des ursächlichen Zusammenhangs dieses Leidens mit schädigenden Einwirkungen der Kriegsgefangenschaft haben sich die ärztlichen Beurteilungen durch Prof. Dr. von B und Dr. N aber nicht erstreckt. Dies kann auch nicht den Ausführungen des LSG entnommen werden, der Sachverständige - womit nur Prof. Dr. von B gemeint sein kann - sei von den Angaben des Klägers und insbesondere auch davon ausgegangen, daß die ersten Herzbeschwerden in der Kriegsgefangenschaft aufgetreten seien. Zwar hat dieser Sachverständige unter den Angaben des Klägers einen im Jahre 1948 erlittenen Herzanfall und eine dreiwöchige Behandlung im Revier erwähnt, er hat aber nicht berücksichtigt, daß der Kläger damals wie später an einem Herzmuskelschaden gelitten hat, und bei seiner Beurteilung nicht in Betracht gezogen, ob diese Schädigung auf Einwirkungen der Gefangenschaft zurückzuführen ist. Das LSG hat sonach versäumt, die zur Entscheidung über die strittige Anerkennung des Herzmuskelschadens notwendigen und nach Lage der Sache auch möglichen Beweise zu erheben.

Die Rüge der Verletzung des § 103 SGG ist daher gerechtfertigt und die Revision schon aus diesem Grunde nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Auf die Rüge einer Verletzung des § 128 SGG braucht daher nicht mehr eingegangen zu werden. Die sonach statthafte Revision ist auch begründet, weil das angefochtene Urteil auf dem zutreffend gerügten Mangel der Sachaufklärung beruht; denn es ist möglich, daß das LSG anders entschieden hätte, wenn es den Sachverhalt in der erforderlichen und möglichen Weise geklärt hätte (BSG 2, 197). Das Urteil des LSG war daher mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben. Da der Senat wegen der noch fehlenden tatsächlichen Feststellungen nicht selbst entscheiden konnte, mußte die Sache zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI3530540

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt SGB Office Professional . Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge