Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 25.01.1963)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. Januar 1963 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

I.

Die Klägerin begehrt Rente wegen Berufsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 20. Oktober 1959 ab. Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Beklagte zur Rentengewährung von September 1958 an. Im Berufungsverfahren zog das Landessozialgericht (LSG) ein Aktengutachten von Prof. Dr. V… vom 20. März 1962 mit Ergänzung vom 22. Mai 1962, eine Stellungnahme von Dr. E… vom 10. Juli 1962 und ein – nach stationärer Untersuchung und Beobachtung erstattetes – Gutachten des Obermedizinalrats Dr. B… vom 22. Oktober 1962 bei; bei der Beurteilung der Frage, ob die Klägerin 1951 eine Hirnschädigung erlitten habe und noch an ihren Folgen leide, gab das LSG der verneinenden Auffassung von Dr. B… den Vorzug vor der bejahenden des Dr. V… und der Sachverständigen des SG; es hielt die Klägerin als Näherin, Schneiderin oder Kammerverwalterin noch nicht für berufsunfähig, hob das Urteil des SG auf und wies die Klage ab. Die Revision ließ es nicht zu.

Die Klägerin legte gleichwohl Revision ein mit dem Antrag, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses zurückzuverweisen.

Sie rügte eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) und der §§ 62, 106, 107, 128 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Das LSG habe ihr die Gutachten von Dr. V…, Dr. P… und insbesondere das von Dr. B… nicht zugestellt, sondern – ohne ihre Zustimmung und ohne Abgabenachricht – lediglich ihrem behandelnden Arzt zugesandt, der sie jedoch, ohne sie mit ihr besprochen zu haben, dem LSG wieder zurückgegeben habe; in der mündlichen Verhandlung des LSG habe der Berichterstatter den Inhalt der Gutachten zwar vorgetragen; sie hätte sich aber auch dadurch kein klares Bild verschaffen und sich deshalb nicht mit ihnen auseinandersetzen können; ihr sei insbesondere die Möglichkeit genommen worden, das Gutachten von Dr. B… zu entkräften und ein Gegengutachten nach § 109 SGG zu beantragen.

Die Beklagte beantragte,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist zulässig; sie ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden und auch statthaft, weil die Klägerin mit Recht einen tatsächlich vorliegenden wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens rügt (§§ 162 Abs. 1 Nr. 2, 164 Abs. 2 SGG; BSG 1, 150). Das LSG hat jedenfalls § 107 SGG verletzt; da dieser Verstoß die Revision statthaft macht, kann die Verletzung der sonst bezeichneten Vorschriften dahingestellt bleiben.

§ 107 SGG bestimmt, daß im Falle einer Beweisaufnahme (vor der mündlichen Verhandlung) den Beteiligten nach Anordnung des Vorsitzenden oder des hierzu ermächtigten Berufsrichters (§ 155 SGG) entweder eine Abschrift der Niederschrift oder deren Inhalt mitzuteilen ist. Die Vorschrift ist eine besondere Ausprägung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 62 SGG) und reicht über ihn noch insofern hinaus, als sie es in keinem Falle darauf ankommen läßt, ob sich die Beteiligten etwa selbst von der Niederschrift oder ihrem Inhalt Kenntnis verschaffen könnten (vgl. dazu Spielmeyer, SGb 1964 S. 121 f); nach § 107 SGG muß das Gericht den Beteiligten die Kenntnis von Amts wegen vermitteln; der Vorsitzende hat allein die Wahl, ob er ihnen zu diesem Zweck eine Abschrift der Niederschrift zuleitet (erste Alternative oder ihren Inhalt mitteilt (zweite Alternative). Bei Einholung schriftliche: Gratachten ist §; 107 SGG entsprechend anzuwenden (ebenso bei schriftlichen Zeugenauskünften, Krankengeschichten und Röntgenbefunden, BSG 4, 60, 64 und SozR Nr. 11 zu § 62 SGG); die Beteiligten müssen vom Gericht entweder eine vollständige Abschrift der Gutachten erhalten oder auf andere Weise von ihrem Inhalt unterrichtet werden.

Im vorliegenden Rechtsstreit hat die Klägerin wohl von der Stellungnahme Dr. B… vom 18. Juli 1962 (LSG-Akten Bl. 145), nicht aber von den Gutachten von Dr. V… und Dr. B… Abschriften erhalten. Das LSG hat die Gutachten zwar ihrem Hausarzt übersandt, damit er sie mit ihr (oder ihrem Ehemann) bespreche; der Hausarzt war aber weder Prozeßbevollmächtigter der Klägerin noch hatte sie ihn zur Annahme der Gutachten an ihrer Stelle ermächtigt; schon aus diesem Grunde war die Zusendung an den Hausarzt Keine “Mitteilung einer Abschrift” an die Klägerin; im übrigen ging aus dem Schreiben an den Hausarzt auch nicht hervor, ob er, wie es der Mitteilung von Abschriften entsprochen hätte, im Besitz der Unterlagen verbleinen sollte. Die Zusendung an den Hausarzt wurde aber auch der zweiten Alternative des § 107 SGG nicht gerecht. Dabei kann offenbleiben, ob er mit der Klägerin überhaupt über die Gutachten gesprochen hat, was diese bestreitet (er hat die Unterlagen dem LSG “nach Einsichtnahme” zurückgegeben); in jedem Falle bedeutet die Bitte um Besprechung noch kein Auftrag zur Mitteilung des Inhalts; außerdem blieb offen, was die Klägerin durch den Hausarzt als Inhalt der Gutachten erfahren sollte; ein Gericht kann es aber nicht Dritten überlassen, zu bestimmen, was die Beteiligten von einem Gutachten wissen sollen; wenn ein Gericht einem Beteiligten statt der in erster Linie gebotenen Übersendung von Abschriften lediglich den Inhalt mitteilen will, dann muß es den bekanntzugebenden Inhalt – in nachprüfbarer Weise – selbst bestimmen.

Nach den Erklärungen der Beteiligten im Revisionsverfahren ist allerdings anzunehmen (die Sitzungsniederschrift enthält hierüber nichts), daß der Berichterstatter des LSG in der mündlichen Verhandlung bei der Darstellung des Sachverhalts auch über den Inhalt der Gutachten berichtet hat. Damit hätte das LSG zwar noch in der mündlichen Verhandlung der Funktion des § 107 SGG gerecht werden können; die Nichterfüllung der ihm durch diese Vorschrift auferlegten Pflichten wäre aber nur dann gegenstandslos geworden, wenn der Vortrag des Berichterstatters der Klägerin – wie es § 107 SGG voraussetzt – ein klares und erschöpfendes Bild vom Inhalt der Gutachten verschaffen konnte (BSG aaO, SozR aaO); das war jedoch nicht der Fall. Nach der Sitzungsniederschrift begann die mündliche Verhandlung um 9, 12 Uhr, sie endete um 9, 34 Uhr und dauerte also 22 Minuten; in diese Zeitspanne fielen Feststellungen über die Zustellung des erstinstanzlichen Urteils und den Berufungseingang, der Vortrag des Berichterstatters, der auch den übrigen Sach- und Streitstand darstellen mußte, die Anträge der Beteiligten, die vorgelesen und genehmigt wurden, die Bestellung des Ehemanns der Klägerin durch diese als Prozeßbeistand und schließlich die Äußerungen des Vertreters der Beklagten, der Klägerin und ihres Ehemannes zur Sache (möglicherweise sogar noch die Beratung und Urteilsverkündung samt “kurzer Begrundung”). Bedenkt man, daß das erste Gutachten von Dr. V… 16, das zweite 8 und das Gutachten von Dr. B… 23 Schreibmaschinenseiten (darunter 10 Seiten Untersuchungsergebnisse und 7 Seiten Beurteilung) umfaßt und es sich jeweils um nervenfachärztliche Gutachten handelt, so ist es unmöglich, daß die Klägerin auf Grund des Vortrages des Berichterstatters ein auch nur einigermaßen hinreichendes Bild vom Inhalt der Gutachten gewinnen konnte.

Von der Beachtung des § 107 SGG war das LSG nicht etwa deshalb enthoben, weil es, wie es im Schreiben des beauftragten Berufsrichters an den Hausarzt heißt, möglicherweise “zweifelhaft” erschien, “ob es dem Gesundheitszustand der Klägerin dienlich ist, wenn sie … die widerstreitenden Gutachten der Sachverständigen in vollem Wortlaut erfährt”. Nach § 120 Abs. 3 SGG kann der Vorsitzende zwar aus besonderen Gründen die Einsicht in Akten oder Aktenteile sowie die Fertigung oder Erteilung von Auszügen und Abschriften versagen oder beschränken. Ihm dürfte deshalb auch die Befugnis zustehen, aus besonderen Gründen, etwa mit Rücksicht auf die Gesundheit eines Beteiligten, von der Erfüllung der durch § 107 SGG auferlegten Pflichten ganz oder teilweise abzusehen. Soll das aber geschehen, so bedarf es dazu stets einer ausdrücklichen Entscheidung des Vorsitzenden, gegen die das Gericht angerufen werden kann; an einer solchen Entscheidung fehlt es hier.

Entgegen der Ansicht der Beklagten hat die Klägerin das Recht, den Verstoß gegen § 107 SGG zu rügen, nicht gemäß §§ 295 der Zivilprozeßordnung, 202 SGG verloren. § 107 SGG gehört zwar zu den Bestimmungen, auf deren Verfolgung die Beteiligten verzichten können (BSG 4, 64); die Klägerin hat aber weder einen solchen Versicht erklärt noch kann die Heilung des Mangels deshalb angenommen werden, weil sie ihn in der mündlichen Verhandlung des LSG nicht gerügt hat, obgleich sie erschienen war und ihr “der Mangel bekannt war oder doch bekannt sein mußte”. Insoweit ist schon zweifelhaft, ob sie damals von der Existenz der Gutachten (insbesondere des Ergänzungsgutachtens von Dr. V… wußte oder doch wissen mußte; selbst wenn das zutraf, genügte das für eine Heilung des Verfahrensmangels noch nicht; die Klägerin hätte darüber hinaus auch wissen oder doch erkennen müssen, daß das LSG gegen Verfahrenspflichten verstoßen hat; erst dann war ihr der Verfahrensmangel bekannt oder erkennbar. Dafür, daß sie die dem LSG nach § 107 SGG obliegende Verfahrenspflicht – wenn auch in den einem Laien gezogenen Grenzen – kannte, fehlen ausreichende Anhaltspunkte. Ihre sonach anzunehmende Unkenntnis kann ihr nicht als Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden; bei nicht vertretenen rechtsunkundigen Beteiligten darf eine Kenntnis von Verfahrensvorschriften in aller Regel nicht vorausgesetzt werden (vgl. BGH NJW 1957 S. 1517, 1518 und LSG Baden-Württemberg in Breithaupt 1956, S. 856, 862 ).

Der gerügte Mangel des Berufungsverfahrens ist ein wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Das angefochtene Urteil beruht auf ihm. Das liegt auf der Hand bei dem Gutachten von Dr. B… weil sich das angefochtene Urteil gerade auf dieses Gutachten stützt. Wäre es der Klägerin rechtzeitig in Abschrift übersandt oder wenigstens im Inhalt mitgeteilt worden, so hätte sie ihm entgegentreten und weitere Verfahrenshandlungen, etwa nach § 109 SGG, vornehmen können. Das Urteil des LSG beruht aber auch auf der Verletzung des § 107 SGG hinsichtlich der für die Klägerin positiven Gutachten von Dr. V…, weil sich nicht ausschließen läßt – das genügt für die Annahme der Kausalität zwischen Verfahrensverstoß und Urteil –, daß die Klägerin bei Kenntnis dieser Gutachten ebenfalls noch weitere Ausführungen hätte machen können, die möglicherweise ein anderes Urteil des LSG in der Sache herbeigeführt hatten.

Die Revision der Klägerin ist damit zulässig; sie ist auch begründet; der Senat kann die Entscheidung des LSG nicht aus anderen Gründen als richtig aufrechterhalten, weil die tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht verfahrensrechtlich einwandfrei zustandegekommen sind.

Das Urteil des LSG ist sonach aufzuheben; der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung (auch über die Kosten des Revisionsverfahrens) an das LSG zurückzuverweisen.

 

Unterschriften

Dr. Haueisen, Sonnenberg, Dr. Buss

 

Fundstellen

NJW 1964, 2227

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