Leitsatz (amtlich)

1. Der KOV-VfG § 40 stellt keine "besondere gesetzliche Regelung" iS des BVerfGG § 79 Abs 2 dar.

2. Hat das BVerfG eine Norm des Kriegsopferrechts gemäß BVerfGG § 78 für nichtig erklärt, so hat die Versorgungsverwaltung lediglich zu prüfen, ob durch eine Ermessensentscheidung nach KOV- VfG § 40 Abs 1 rückwirkend Versorgungsleistungen gewährt werden können; die Rückwirkung kann alsdann auf einen Zeitraum von 4 Jahren beschränkt werden.

3. Auch ein Westberliner Bürger war in der Vergangenheit nicht gehindert, in seiner Versorgungsstreitsache eine Entscheidung des BVerfG herbeizuführen.

 

Normenkette

KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27; BVerfGG §§ 78, 79 Abs. 2, § 90

 

Tenor

Auf die Revisionen des Beklagten und der Beigeladenen wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 16. Mai 1968 und auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. Februar 1967 aufgehoben. Die Klage gegen den Bescheid vom 30. September 1965 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. März 1966 wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in allen Rechtszügen nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Mutter des ... 1941 geborenen Klägers ist im März 1945 von russischen Soldaten erschossen worden. Im März 1956 beantragte der Vater des Klägers, ihm und seinem minderjährigen Sohn - dem jetzigen Kläger - Hinterbliebenenrente zu gewähren. Dieser Antrag wurde durch Bescheid des Versorgungsamtes (VersorgA) II B vom 2. Mai 1956 abgelehnt. Der Widerspruch war erfolglos (Bescheid des Landesversorgungsamtes - LVersorgA - B vom 14. Februar 1957). Die dagegen erhobene Klage nahm der Vater des Klägers mit Schreiben vom 12. April 1958 zurück.

Im Januar und Februar 1964 beantragte der Kläger unter Hinweis auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 24. Juli 1963 die rückwirkende Gewährung der Waisenrente für die Zeit "vom Tage der Antragstellung am 12. März 1956 bis zum 1. April 1960". Nach den Ermittlungen des Beklagten hat der Kläger vom 2. März 1957 bis 31. März 1960 eine Lehre als Einzelhandelskaufmann durchgemacht und ist seit dem 1. April 1960 als Polizeibeamter tätig. Durch Zugunstenbescheid gemäß § 40 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) vom 30. September 1965 wurde dem Kläger eine Waisenrente für die Zeit vom 1. Januar 1960 bis 31. März 1960 gewährt, eine Gewährung der Rente für die weiter zurückliegende Zeit jedoch abgelehnt. Der Widerspruch des Klägers wurde durch Bescheid des LVersorgA Berlin vom 9. März 1966 zurückgewiesen.

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 17. Februar 1967 die Bescheide der Versorgungsverwaltung vom 30. September 1965 und 9. März 1966 insoweit aufgehoben, als durch diese Bescheide die Zahlung der streitigen Versorgungsbezüge für die vor dem 1. Januar 1960 liegende Zeit abgelehnt worden ist. Das SG hat die Berufung zugelassen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA), beigeladen und durch Urteil vom 16. Mai 1968 die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. In den Gründen wird ausgeführt, die Versorgungsverwaltung habe zwar bei Erteilung des auf § 40 VerwVG gestützten Bescheides im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens darüber zu entscheiden gehabt, ob und in welchem Umfang sie auf die Bindung der früheren Entscheidung verzichten wolle. Im vorliegenden Fall habe sich der Beklagte jedoch von dem in Art. 20 des Grundgesetzes (GG) normierten Grundsatz der Sozialstaatlichkeit nur unvollkommen leiten lassen. Für den Vater des Klägers habe es seinerzeit keinen Sinn mehr gehabt, das Streitverfahren fortzusetzen, nachdem das LVersorgA schriftsätzlich mitgeteilt hatte, daß das Bundessozialgericht (BSG) mit Urteil vom 14. März 1957 den § 45 Abs. 5 Satz 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) für verfassungsgemäß erklärt habe, zumal das BVerfG mit Rücksicht auf die alliierten Vorbehaltsrechte über den Antrag eines Westberliner Bürgers auf Normenkontrolle ohnehin nicht entschieden hätte. Der Beklagte werde durch die Verwaltungsvorschriften (VV) Nr. 8 zu § 40 VerwVG nicht gehindert, einem Zugunstenbescheid eine Rückwirkung von mehr als vier Jahren beizulegen. Gegen die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage des Klägers - wie es der Beklagte getan habe - wäre nichts einzuwenden, wenn nicht auch dadurch wieder gegen das Verfassungsgebot der Sozialstaatlichkeit verstoßen würde. Die Entscheidung des BVerfG vom 11. Oktober 1966 - wonach weder die Verwaltung noch der Gesetzgeber verpflichtet sei, unanfechtbar gewordene Akte der öffentlichen Gewalt, die auf einer nach § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Normen beruhten, rückwirkend aufzuheben -, könne nicht zum Zuge kommen, da § 40 VerwVG als "besondere gesetzliche Regelung" im Sinne des § 79 Abs. 2 BVerfGG anzusehen sei. Die Geltendmachung der Einrede der Verjährung durch den Beklagten stelle überdies eine unzulässige Rechtsausübung bzw. einen Rechtsmißbrauch dar. Dabei sei auch zu berücksichtigen, daß der Kläger als Westberliner Bürger bis zur Entscheidung des BVerfG vom 24. Juli 1963 an der gerichtlichen Klärung seines Anspruchs gehindert gewesen sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Dieses Urteil ist am 24. Juli 1968 dem Beklagten zugestellt worden, der dagegen mit Schriftsatz vom 30. Juli 1968, beim BSG eingegangen am 31. Juli 1968, Revision eingelegt und diese nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 24. Oktober 1968 mit Schriftsatz vom 14. Oktober 1968, beim BSG eingegangen am 17. Oktober 1968, begründet hat.

Der Beklagte beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils der Berufung gegen die Entscheidung des SG Berlin vom 17. Februar 1967 stattzugeben und die Klage abzuweisen.

Die Beigeladene hat mit Schriftsatz vom 15. August 1968, beim BSG eingegangen am 19. August 1968, gleichfalls Revision eingelegt und diese nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist mit Schriftsatz vom 15. Oktober 1968, beim BSG eingegangen am 16. Oktober 1968, begründet.

Die Beigeladene beantragt,

unter Abänderung des Urteils des LSG und des SG die Klage abzuweisen, soweit sie die Versorgungsbezüge für die vor dem 1. Januar 1960 liegende Zeit betrifft.

In seiner Revisionsbegründung, auf die Bezug genommen wird, führt der Beklagte u. a. aus, die Versagung der Waisenrente für die Zeit bis zum 31. Dezember 1959 sei rechtmäßig und verletze insbesondere nicht den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Sozialstaatlichkeit. Das BVerfG habe sich in seinem Beschluß vom 11. Oktober 1966 für die Vorrangigkeit des Rechtssicherheitsprinzips gegenüber dem Gerechtigkeitsprinzip entschieden und ausdrücklich ausgesprochen, daß die Verwaltung nicht verpflichtet sei, unanfechtbar gewordene Akte der öffentlichen Gewalt rückwirkend aufzuheben, die auf einer verfassungswidrigen Auslegung von Vorschriften beruhten, die nachträglich als verfassungswidrig erklärt worden sind. Entscheide sich die Verwaltung zugunsten der Rechtssicherheit, so verstoße sie damit nicht gegen rechtsstaatliche Grundsätze und verfassungsrechtliche Normen. Auch die besondere gesetzliche Regelung des § 40 Abs. 1 VerwVG ändere an diesem Grundsatz nichts. Für den Kläger als Westberliner Bürger sei es auch keineswegs ausgeschlossen gewesen, durch seine zunächst erhobene Klage beim SG eine Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit des § 45 Abs. 5 BVG a. F. zu erreichen. Nach Erschöpfung des Rechtsweges hätte dem Kläger auch die Verfassungsbeschwerde offengestanden. Die Behörde habe im Falle des Klägers die Grundsätze der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit und Sozialstaatlichkeit gegeneinander abgewogen, indem sie auch die sozialen Verhältnisse des Klägers geprüft habe. Hierin liege keine Verletzung des Sozialstaatsprinzips. Im übrigen sei der angefochtene Bescheid auch aus dem Grunde rechtmäßig, weil bereits Verjährung eingetreten sei, auf die sich der Schuldner auch im Bereich des Sozialrechts berufen könne. Die Geltendmachung der Verjährungseinrede stelle keinen Verstoß gegen Treu und Glauben dar.

Die Beigeladene macht in ihrer Revisionsbegründung, auf die gleichfalls Bezug genommen wird, geltend, daß entgegen der Auffassung des LSG in der Beschränkung der Rückwirkung kein Ermessensmißbrauch und keine unzulässige Rechtsausübung läge. Nach § 79 Abs. 2 BVerfGG seien, vorbehaltlich anderer gesetzlicher Regelung, weder die Verwaltung noch der Gesetzgeber verpflichtet, unanfechtbar gewordene Akte der öffentlichen Gewalt, die auf einer nach § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhten, rückwirkend aufzuheben. Das LSG habe darlegen müssen, ob in § 79 BVerfG nicht nur solche Normen gemeint seien, die besonders geschaffen werden müßten, so daß § 40 VerwVG hierzu nicht ausreiche. Dem Umstand, daß der Kläger als Westberliner Bürger an der Anrufung des BVerfG gehindert gewesen sei, komme für die Frage der Ermessensausübung keine entscheidende Bedeutung zu. Die Verwaltung habe ihr Ermessen hier nach den Gesichtspunkten ausgeübt, die vom BSG entwickelt worden seien und von denen sie sich auch sonst leiten lasse, so daß eine Fehlerhaftigkeit nicht zu erkennen sei. Mit Recht habe sie auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers dabei berücksichtigt. Im übrigen greife die Verjährung unabhängig davon durch, ob Unkenntnis, eigene oder fremde Schuld das Nichtgeltendmachen des Anspruchs verursacht haben, und unabhängig davon, ob ein nachträglich für verfassungswidrig erklärter Gesetzeswortlaut den Kläger an der Geltendmachung seines Anspruchs gehindert habe.

Der Kläger beantragt,

die Revisionen zurückzuweisen.

Er meint, - wie insbesondere aus dem eingehenden Vortrag seines Prozeßbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung hervorgeht - § 40 VerwVG sei eine besondere gesetzliche Regelung im Sinne des § 79 Abs. 2 BVerfGG. Das Prinzip der Rechtssicherheit sei im Versorgungsrecht ausdrücklich durchbrochen. Auf den vorliegenden Fall sei § 40 Abs. 2 VerwVG ("Muß-Bescheid") im Wege der ausdehnenden Auslegung oder der Analogie anzuwenden; die Rechtsprechung des BSG zu § 45 Abs. 5 Satz 1 BVG a. F. sei durch die Entscheidung des BVerfG gegenstandslos geworden. Damit ergebe sich ein Zwang für die Behörde, das durch die frühere Entscheidung geschaffene Unrecht vollständig zu beseitigen und die Leistungen rückwirkend vom Zeitpunkt des Bestehens der Rechtsansprüche an zu bewilligen. Der Gesichtspunkt der Verjährung könne dann nicht gelten, wenn der Antragsteller durch eine verfassungswidrige Bestimmung an der Geltendmachung seines Anspruchs gehindert worden sei. Jedenfalls aber sei eine Hemmung der Verjährung eingetreten, da er durch eine amtliche unrichtige Sachbehandlung, und damit durch "höhere Gewalt" im Sinne des § 203 BGB, an der Weiterverfolgung seines Anspruchs gehindert gewesen sei. Die Beachtung der Verjährungshemmung erscheine gerade im Sozialversicherungsrecht zwingend geboten, weil sonst durch verfassungswidrige Bestimmungen ein Rechtsverlust eintreten könne, der mit der Zielsetzung der Sozialversicherung in keiner Weise in Einklang zu bringen sei. Sein Rechtsmittel habe er seinerzeit nicht weiter verfolgt, weil dieses aussichtslos gewesen sei. Den Parteien könnten keine besseren Rechtskenntnisse zugemutet werden, als sie der Richter damals gehabt habe. Sollte § 40 Abs. 1 VerwVG heranzuziehen sein, dann sei zu berücksichtigen, daß nicht die Verwaltung, sondern der Gesetzgeber etwas falsch gemacht habe. Die rückwirkende vollständige Beseitigung des Unrechts sei daher auch aus diesem Grunde zwingend geboten. Wenn die Behörde seine sozialen Verhältnisse ihrer Entscheidung zugrunde gelegt habe, so habe sie damit gegen das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit und Sozialstaatlichkeit verstoßen.

Die durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaften Revisionen sind frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Die Revisionen sind somit zulässig; sie sind auch begründet. Dem Kläger steht die begehrte Waisenrente rückwirkend für die Zeit vor dem 1. Januar 1960 weder als Rechtsanspruch noch als Kannleistung nach dem Ermessen der Versorgungsverwaltung zu.

Die Ablehnung des Waisenrentenanspruchs des Klägers (Bescheid vom 2. Mai 1956) war auf § 45 Abs. 5 Satz 1 BVG in der damals geltenden Fassung vom 7. August 1953 (BGBl I S. 866) gestützt. Der Vater und gesetzliche Vertreter des Klägers hat die Klage gegen den Ablehnungsbescheid vom 2. Mai 1956 mit Schreiben vom 12. April 1958 zurückgenommen. Dieser Bescheid war damit bindend geworden (vgl. §§ 24 VerwVG, 77 iVm 102 SGG). Daran änderte sich auch nichts, als das BVerfG in seiner Entscheidung vom 24. Juli 1963 (BVerfGE 17, 38) die Vorschrift des § 45 Abs. 5 Satz 1 BVG aF - die nahezu unverändert in § 45 Abs. 1, Halbsatz 2 des BVG idF des 1. NOG vom 27. Juni 1960 (BGBl I S. 453) übernommen worden war -, wonach die Waisen einer an den Folgen einer Schädigung verstorbenen Mutter Waisenrente nur erhalten, wenn auch der Vater verstorben ist oder Witwerrente (§ 43 BVG) bezieht, für nichtig erklärt hatte. Dieser Entscheidung, die das BVerfG aufgrund seiner Zuständigkeit gemäß § 13 Nr. 11 BVerfGG getroffen hat und die im Bundesgesetzblatt (1963, Teil I, S. 694, 771) veröffentlicht worden ist, kommt zwar gemäß § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft in dem Sinne zu, daß die erwähnte Vorschrift des BVG rückwirkend als von Anfang an nichtig erklärt worden ist (vgl. BVerfG E 7, 387; s. auch Mauntz/Siegloch/Schmidt-Bleibtreu/Klein, BVerfGG § 31 Anm. 31, § 79 Anm. 1) und von dem Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG an nicht mehr angewendet werden darf. Das bedeutet jedoch nicht, daß auch alle früheren, aufgrund der für nichtig erklärten Norm ergangenen Akte der öffentlichen Gewalt mit rückwirkender Kraft beseitigt sind (vgl. BVerfGE 20, 230). Nach der ausdrücklichen gesetzlichen Vorschrift des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG (iVm §§ 82 Abs. 1 und 95 Abs. 3 Satz 3 BVerfGG) bleiben die aufgrund der nichtigen Norm ergangenen, nicht mehr anfechtbaren gerichtlichen Entscheidungen - mit Ausnahme von Strafurteilen (vgl. § 79 Abs. 1 BVerfGG) - und Verwaltungsakte unberührt (vgl. BVerfG aaO). Das BVerfG hat die gesetzliche Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG wiederholt und in ständiger Rechtsprechung im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens für verfassungsmäßig erklärt (vgl. BVerfGE 2, 380, 404; 7, 194; 20, 230; s. auch Maunz-Siegloch/Schmidt-Bleibtreu/Klein, BVerfGG, § 79 Anm. 3). Es hat dabei auf die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift hingewiesen - wonach beim Gesetzgeber "nach langen und eingehenden Verhandlungen" die Überzeugung durchgedrungen sei, daß "der Rechtsfriede und die Rechtssicherheit dem Rechtsschutz des einzelnen vorgehe" und daß man um der Rechtssicherheit willen "auch Normverletzungen hinnehmen müsse" (BT-Drucksache, I. Wahlperiode, S. 4234, 4227, 4289), - und ausgesprochen, daß zwei Grundsätze des Verfassungsrechts im Widerstreit ständen, nämlich die Forderung nach Rechtssicherheit, wozu auch die Rechtsbeständigkeit rechtskräftiger Entscheidungen gehöre, und die Forderung nach Gerechtigkeit im Einzelfall (vgl. Maunz u. a. aaO). Dem Gesetzgeber habe es daher freigestanden, darüber zu entscheiden, welchem dieser Grundsätze, die beide Verfassungsrang hätten, er den Vorzug geben wolle. Wenn sich der Gesetzgeber für die Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG entschieden und die rückwirkende Beseitigung rechtskräftiger gerichtlicher Entscheidungen und bindender Verwaltungsakte abgelehnt habe, so sei das GG, insbesondere auch sein Art. 3 Abs. 1, nicht verletzt (vgl. BVerfGE 7, 194, 196). Stelle das BVerfG die Nichtigkeit eines Gesetzes fest, so werde diese Entscheidung im Hinblick auf die Regelung des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG im allgemeinen für eine Vielzahl rechtskräftig abgeschlossener Verfahren ohne Wirkung sein, während sie für alle anhängigen Verfahren Rechtswirkungen äußere (vgl. BVerfG aaO; 15, 313, 320).

Grundsätzlich ist daher davon auszugehen, daß "nicht mehr anfechtbare Entscheidungen", die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, durch die Entscheidung des BVerfG für die Vergangenheit unberührt bleiben und daß die Ablehnung der Folgenbeseitigung, d. h. die Ablehnung der rückwirkenden Gewährung der bereits früher abgelehnten Leistungen, nicht gegen das GG und damit auch nicht gegen den Grundsatz der Sozialstaatlichkeit (Art. 20 GG) verstößt. Im gleichen Sinn hat der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 19. März 1969 (SozR BVG § 45 Nr. 12) mit eingehender Begründung ausgesprochen, die Nichtigerklärung einer Norm des Versorgungsrechts durch das BVerfG rechtfertige es nicht, die Anwendung der Vorschriften des BVG über den Beginn der Rente (§§ 60 Abs. 1, 61 Abs. 2 BVG) außer Betracht zu lassen und Leistungen rückwirkend zu gewähren, wenn früher kein Antrag auf Versorgung gestellt war. Dem damals entschiedenen Rechtsstreit lag allerdings ein anderer Sachverhalt zugrunde, insofern dort von dem Rentenbewerber im Hinblick auf die gesetzliche Regelung des § 45 Abs. 5 BVG aF überhaupt kein Rentenantrag gestellt war, während der vorliegende Fall dadurch gekennzeichnet ist, daß der Kläger im Jahre 1956 einen Rentenantrag gestellt hat und daß dieser Antrag bindend abgelehnt ist. In beiden Fällen ergibt sich die vollständige rückwirkende Folgenbeseitigung jedoch weder unmittelbar aus der Entscheidung des BVerfG vom 24. Juli 1963, noch kann sie aus den Vorschriften des BVerfGG - die gerade das Gegenteil besagen (vgl. § 79 Abs. 2 BVerfGG) - oder aus dem GG hergeleitet werden. Sie wäre nur bei einer "besonderen gesetzlichen Regelung" (vgl. § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) berechtigt.

Entgegen der Auffassung des Klägers kann § 40 VerwVG nicht als "besondere gesetzliche Regelung" im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden. Darunter fallen nur solche gesetzlichen Regelungen, die vom Gesetzgeber ausdrücklich geschaffen worden sind, um die Rechtswirkungen für die Vergangenheit zu regeln, nachdem das BVerfG die Nichtigkeit einer bestimmten Rechtsnorm gemäß § 78 BVerfGG festgestellt hat. Dazu zählt § 40 VerwVG nicht, bei dem es sich um eine allgemeine, das gesamte Versorgungsrecht beherrschende Vorschrift handelt, die der Versorgungsverwaltung die Möglichkeit gibt (§ 40 Abs. 1 VerwVG) bzw. die Pflicht auferlegt (§ 40 Abs. 2 VerwVG), trotz eines bereits bindend abgeschlossenen Verfahrens (§ 24 VerwVG) zugunsten der sachlichen Richtigkeit erneut den Versorgungsfall zu beurteilen und - zugunsten des Berechtigten - neu zu entscheiden, völlig unabhängig davon, ob das BVerfG die zugrunde liegende Rechtsnorm für nichtig erklärt hat oder nicht. Der § 40 VerwVG enthält demnach keine "besondere gesetzliche Regelung" für den Fall, daß eine versorgungsrechtliche Norm vom BVerfG für nichtig erklärt worden ist, sondern gilt schlechthin in allen Fällen, in denen gegenüber Versorgungsberechtigten ein unrichtiger Bescheid ergangen ist. Sowohl seinem Wortlaut als auch seinem Inhalt nach ist § 40 VerwVG an alle durch irgendeinen unrichtigen Bescheid benachteiligten Beschädigten gerichtet und in seiner Anwendung nicht etwa auf einen Personenkreis beschränkt, der aufgrund einer vom BVerfG für nichtig erklärten Rechtsnorm Nachteile in der Vergangenheit erlitten hat. Ist aber § 40 VerwVG keine "besondere gesetzliche Regelung" im Sinne des § 79 Abs. 2 BVerfGG, dann unterliegt auch der Kläger der allgemeinen gesetzlichen Regelung im Rahmen dieser Vorschrift. Das bedeutet, daß der dem Kläger am 2. Mai 1956 erteilte und bindend gewordene Ablehnungsbescheid von der Entscheidung des BVerfG vom 24. Juli 1963 "unberührt" bleibt.

Diese Rechtslage schließt jedoch nicht aus, daß die Versorgungsverwaltung - ebenso wie bei anderen Versorgungsberechtigten - im allgemeinen Rahmen des § 40 VerwVG tätig wird, um trotz einer vorgängigen bindenden bzw. rechtskräftigen Entscheidung ein materielles Unrecht zugunsten des Versorgungsberechtigten zu beseitigen. Bei dem vorliegenden Sachverhalt jedoch kann - entgegen der Auffassung des Klägers - die Pflicht zum Tätigwerden nicht aus § 40 Abs. 2 VerwVG hergeleitet werden. Eine direkte Anwendung dieser Vorschrift scheidet schon deshalb aus, weil § 40 Abs. 2 VerwVG in der hier interessierenden Fassung des Gesetzes vom 27. Juni 1960 (BGBl I S. 453) rein tatbestandsmäßig voraussetzt, daß das BSG in ständiger Rechtsprechung nachträglich eine andere Auffassung vertritt als diejenige, die der früheren Entscheidung zugrunde gelegen hat. Zu einer anderen, von der früheren Rechtsprechung des BSG (vgl. BSG in SozR BVG § 45 Nr. 1) abweichenden Auffassung konnte es aber durch die Entscheidung des BVerfG vom 24. Juli 1963 gar nicht kommen; denn wenn die Rechtsprechung nach dem früheren für nichtig erklärten und damit unanwendbar gewordenen § 45 Abs. 5 Satz 1 BVG aF sich aufgrund der neuen Regelung in § 45 BVG idF des 2. NOG vom 21. Februar 1964 (BGBl I S. 85), die den verfassungsrechtlichen Grundsätzen entspricht, geändert hat, so ist diese Änderung der Rechtsprechung auf die Änderung der gesetzlichen Grundlagen zurückzuführen, nicht jedoch darauf, daß das BSG seine Rechtsauffassung geändert hat.

Auch eine analoge Anwendung des § 40 Abs. 2 VerwVG scheidet aus. Weder kann die Entscheidung des BVerfG, die die Unvereinbarkeit einer Norm des Bundesrechts (BVG) mit dem GG feststellt, einer anderweitigen "ständigen Rechtsprechung des BSG" gleichgestellt werden, noch ist ein Wechsel in der Auffassung des BSG zur Frage der Waisenrente nach einer durch Kriegseinwirkungen verstorbenen Mutter erkennbar oder auch nur möglich, da - wie bereits hervorgehoben - der erwähnte Waisenrentenanspruch gesetzlich neu geregelt worden ist, nicht aber die Rechtsprechung dazu sich geändert hat. Der § 40 Abs. 2 VerwVG soll - bei gleichbleibender Rechtsgrundlage - der materiellen Gerechtigkeit dadurch zum Siege verhelfen, daß Wandlungen der Rechtsprechung des BSG, die sich zugunsten der Versorgungsberechtigten auswirken, auch bei bereits bindend festgestellten Versorgungsansprüchen berücksichtigt und die Versorgungsberechtigten so gestellt werden, als ob die neue Rechtsprechung bereits von Anfang an maßgebend für die Entscheidung über den Versorgungsanspruch gewesen wäre. Die Vorschrift dient aber nicht dem Zweck, um Änderungen der gesetzlichen Grundlagen, denen ausdrücklich keine rückwirkende Kraft hinsichtlich unanfechtbar gewordener Verwaltungsakte zukommt (vgl. § 79 Abs. 2 BVerfGG), auch bereits für in der Vergangenheit liegende Zeiträume in vollem Umfang zu berücksichtigen. Die Vorschrift in § 40 Abs. 2 VerwVG kann daher weder unmittelbar noch analog auf den Fall angewandt werden, daß eine Gesetzesänderung durch eine Entscheidung des BVerfG eingetreten ist.

Unabhängig von Abs. 2 des § 40 VerwVG gibt jedoch Abs. 1 dieser Vorschrift der Versorgungsverwaltung das Recht, zugunsten des Berechtigten einen neuen Bescheid zu erteilen, wenn - wie der Senat in seiner Entscheidung vom 24. Juni 1969 (BSG 29, 278 = SozR VerwVG § 40 Nr. 12) ausgesprochen hat - "die frühere Entscheidung tatsächlich und rechtlich unrichtig gewesen ist". Das ist nicht nur dann der Fall, wenn die Versorgungsverwaltung den Sachverhalt tatsächlich oder rechtlich unrichtig gewürdigt hat und deshalb zu einem falschen Ergebnis gekommen ist, sondern gleichermaßen auch dann, wenn eine gesetzliche Vorschrift, die die Verwaltung infolge des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung anwenden mußte, rückwirkend weggefallen oder vom BVerfG für nichtig erklärt worden ist. Dabei kann dahinstehen, ob § 40 Abs. 1 VerwVG auf den vorliegenden Fall etwa deshalb überhaupt nicht angewendet werden kann, weil die Vorschrift des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ("... bleiben unberührt") dahin auszulegen wäre, daß die früheren "nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen" rechtens und somit für die Vergangenheit nicht unrichtig sind, so daß die Voraussetzungen für einen Zugunstenbescheid nach § 40 Abs. 1 VerwVG überhaupt nicht gegeben sind. Denn jedenfalls auch dann, wenn § 79 Abs. 2 BVerfGG in dem Sinne ausgelegt wird, daß nur die Bestandskraft der früheren Entscheidungen gewahrt sowie der Rechtsfrieden geschützt werden soll und daß lediglich aus diesem Grund die früheren Verfahren nicht wieder aufgerollt werden sollen, mithin nicht gesagt ist, daß die früheren Entscheidungen materiell richtig sind, wenn also von der materiell-rechtlichen Unrichtigkeit des früheren ablehnenden Bescheides und damit in Übereinstimmung mit den Beteiligten und den Vorinstanzen davon ausgegangen wird, daß der Bescheid vom 30. September 1965 als Zugunstenbescheid im Sinne des § 40 Abs. 1 VerwVG zu beurteilen ist, kann entgegen der Auffassung der Vorinstanzen dieser Bescheid nicht als rechtswidrig angesehen werden.

Nach dem Wortlaut des § 40 Abs. 1 VerwVG kann nicht zweifelhaft sein, daß es sich bei dieser Vorschrift um eine Ermessensentscheidung der Verwaltung handelt, die von den Gerichten gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG nur daraufhin überprüft werden kann, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (vgl. BSG 15, 10; SozR VerwVG § 40 Nr. 6). Die Kriegsopfersenate des BSG haben in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, daß die Versorgungsverwaltung zwar unter Umständen verpflichtet ist, einen neuen Bescheid zu erteilen (vgl. BSG VerwVG § 40 Nr. 3 und Nr. 10), daß sie aber nicht verpflichtet ist, den früheren ablehnenden Bescheid für die Vergangenheit (ex tunc) zurückzunehmen, und daß sie dann, wenn sie den früheren Bescheid auch für die Vergangenheit zurücknimmt, nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen den Zeitpunkt bestimmen kann, von dem an die Neuregelung gelten soll (vgl. BSG in SozR VerwVG § 40 Nr. 6 und Nr. 10; BVBl 1966, 100). Insbesondere in seiner Entscheidung vom 14. März 1967 (SozR VerwVG § 40 Nr. 10 = BSG 26, 146) hat der erkennende Senat ausgesprochen, daß aus der Verpflichtung der Versorgungsbehörde, nach § 40 Abs. 1 VerwVG einen bindend gewordenen Verwaltungsakt dann zu berichtigen, wenn er unrichtig ist und gegen gesetzliche Vorschriften verstößt, noch nicht die weitere Verpflichtung folgt, die Neuregelung auch zeitlich rückwirkend an die Stelle der früheren Regelung zu setzen, sondern daß die Verwaltung über die zeitliche Wirkung des von ihr erlassenen Zugunstenbescheides nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden hat. Auch der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung besagt nicht, daß die Verwaltung bei ihrem Handeln allein die materiell-rechtlichen Gesetze zu beachten und damit den Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit zu verwirklichen hat, sondern er besagt, daß die Verwaltung alle Gesetze zu beachten hat, also auch diejenigen, welche die Bindungswirkung von Verwaltungsakten und die Rechtskraft von Urteilen betreffen (§§ 24 VerwVG, 77 SGG) und die der Verwirklichung des Grundsatzes der Rechtssicherheit dienen, der auch unsere Rechtsordnung beherrscht. Die Verwaltungsbehörde ist durch den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung also in doppelter Hinsicht gebunden, einerseits ist sie verpflichtet, im Einzelfall materiell richtig zu handeln, andererseits ist sie auch gehalten, die formellen Gesetze, die der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden dienen, zu beachten. Die Forderung nach Rechtssicherheit, die durch die Rechtsbeständigkeit bindender Verwaltungsakte oder rechtskräftiger Entscheidungen gewährleistet wird, und die Forderung nach materieller Gerechtigkeit können demnach in ein Spannungsverhältnis, in einen Gegensatz treten. Mangels einer sich aus dem Gesetz ergebenden Regelung über den Vorrang des einen oder anderen Prinzips hat dann die Verwaltungsbehörde das "kann" zu interpretieren und nach ihrem Ermessen die Entscheidung zu treffen, welchem Prinzip und inwieweit sie ihm folgen will. Keinesfalls ist aber bei einem solchen Konflikt immer der Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit der Vorrang zu geben (vgl. BSG aaO).

Diese Überlegungen des Senats zu dem Spannungsverhältnis zwischen dem Verlangen nach materieller Gerechtigkeit auf der einen Seite und dem Prinzip der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens auf der anderen Seite und zu der dadurch gegebenen Gestaltungsfreiheit (Ermessen) der Verwaltung decken sich mit den oben wiedergegebenen Ausführungen des BVerfG hinsichtlich der Wahlmöglichkeit und Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG. Weder für den Gesetzgeber noch für die Verwaltung kann eine Verpflichtung anerkannt werden, nicht mehr anfechtbare Entscheidungen mit rückwirkender Kraft aufzuheben und etwa eingetretene Benachteiligungen in vollem Umfang zu beseitigen. Wenn das LSG eine derartige Verpflichtung allein aus dem "Verfassungsgebot der Sozialstaatlichkeit" herleiten will, so trifft diese Erwägung nach den obigen Ausführungen nicht zu. Auch das Versorgungsrecht wird - ebenso wie das sonstige Recht - einmal vor dem Grundsatz der materiellen und sozialen Gerechtigkeit im Einzelfall und zum anderen von dem Grundsatz der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens beherrscht. Der Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit kann nicht dahin ausgeweitet werden, daß die Versorgungsverwaltung in Fällen der vorliegenden Art verpflichtet ist, die Bindungswirkung ("nicht mehr anfechtbar") völlig außer acht zu lassen und - abweichend von der allgemeinen gesetzlichen Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG und entgegen dem Wortlaut der speziellen versorgungsrechtlichen Vorschrift des § 40 Abs. 1 VerwVG - die Rückwirkung in vollem Umfang vorzunehmen. Hat die Versorgungsverwaltung auf dem Gebiet des Versorgungsrechts das Recht auf Ermessens- und Gestaltungsfreiheit - und das kann im Hinblick auf die Regelung des § 40 Abs. 1 VerwVG und auf sonstige Ermessensentscheidungen im Rahmen des Versorgungsrechts nicht zweifelhaft sein -, dann muß ihr dieses Recht grundsätzlich auch für den Fall zuerkannt werden, daß infolge der Nichtigerklärung einer Norm des Versorgungsrechts durch das BVerfG ein früherer Bescheid als unrichtig in materiell-rechtlicher Hinsicht anzusehen ist.

Die weiteren, fallbezogenen Erwägungen des LSG sind gleichfalls nicht geeignet, einen Ermessensfehlgebrauch durch den Beklagten bei der getroffenen Zugunstenregelung darzutun. Der Kläger war bei der seinerzeitigen Antragstellung zwar minderjährig, er wurde jedoch durch seinen Vater vertreten und muß dessen Rechts- und Prozeßhandeln gegen sich gelten lassen (vgl. §§ 1626, 1629, 1681 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -). Ein schuldhaftes Verhalten des Vaters oder der Versorgungsverwaltung (s. hierzu das Urteil des BSG vom 14. März 1957, SozR BVG § 45 Nr. 1 = BSG 5, 26) ist weder von dem LSG angenommen worden noch aus den Gesamtumständen ersichtlich. Entgegen der Auffassung des LSG kann auch dem Umstand keine besondere Bedeutung beigemessen werden, daß der Kläger in Berlin wohnt und somit in der Nachprüfung seiner Rechte vor dem BVerfG gewissen Beschränkungen durch die alliierten Vorbehaltsrechte unterworfen ist. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß der Rechtsstreit des Klägers überhaupt nicht rechtskräftig entschieden worden ist - was gemäß § 90 Abs. 2 BVerfGG die Voraussetzung für eine Verfassungsbeschwerde durch den Staatsbürger ("Jedermann") ist -, sondern durch Klagrücknahme geendet hat. Der Kläger hat den ihm durch die Verfassung garantierten (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG) und im SGG näher geregelten Rechtsweg nicht ausgeschöpft und insoweit freiwillig von der Weiterverfolgung seiner Rechte Abstand genommen. Er steht nicht anders da als unzählige andere Rentenbewerber und Kläger, die im Hinblick auf die gesetzliche Regelung des § 45 Abs. 5 Satz 1 BVG aF oder die inhaltsgleiche Vorschrift des § 1267 Abs. 2 RVO aF von einer Antragstellung überhaupt abgesehen (vgl. BSG in SozR BVG § 45 Nr. 12) oder die Klage bzw. das Rechtsmittel zurückgenommen haben. Auch der Umstand, daß in den im Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG vom 24. Juli 1963 noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren nunmehr nach der geläuterten gesetzlichen Vorschrift zu entscheiden und dem Rentenbewerber von der Antragstellung an die vollen gesetzlichen Leistungen zuzusprechen waren, - aus dieser verschiedenen Behandlung der "nicht mehr anfechtbaren" und der noch nicht abgeschlossenen Verfahren kann, wie oben dargelegt, im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtssicherheit weder eine Rechtsverletzung des Klägers noch ein Verfassungsverstoß hergeleitet werden (vgl. BVerfGE 7, 194, 196) -, rechtfertigt es nicht, das der Versorgungsverwaltung in § 40 Abs. 1 VerwVG eingeräumte Ermessen derart einzuschränken, daß nur die rückwirkende Gewährung der Leistungen für den gesamten Zeitraum in Betracht kommt.

Im übrigen aber trifft die Erwägung des LSG, daß der Kläger als Westberliner Bürger grundsätzlich gehindert gewesen wäre, selbst eine Entscheidung des BVerfG herbeizuführen, in dieser Allgemeinheit nicht zu. Das BVerfG hat in ständiger Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 19, 377, 385; 20, 257, 266 mit weiteren Hinweisen) die Auffassung vertreten, daß der in Nr. 4 des Genehmigungsschreibens der Militärgouverneure zum GG vom 12. Mai 1949 enthaltene "Berlin-Vorbehalt" zwar dem innerstaatlichen Recht vorgehe, auch das BVerfG binde und in seiner Zuständigkeit beschränke. Dieser Vorbehalt enthalte jedoch kein generelles Verbot jeder Tätigkeit des BVerfG in allen Berlin unmittelbar oder mittelbar berührenden Sachen. Er enthalte lediglich ein kurz formuliertes prinzipielles Verbot politisch bedeutsamer Einwirkungen der Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland auf die Berliner Landesgewalt (vgl. BVerfGE aaO) und stehe einer Entscheidung des BVerfG dann nicht entgegen, wenn Gegenstand des verfassungsgerichtlichen Verfahrens ein in Berlin ergangener Verwaltungsakt ist, der nur nach Bundesrecht beurteilt wird und der auf seine Vereinbarkeit mit dem GG überprüft werden soll. So liegt der Fall aber hier. Das BVG ist durch das Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges vom 12. April 1951 (GVBl Berlin 1951, 317) im Wege der sogenannten Mantelgesetzgebung durch das Land Berlin übernommen worden, ohne daß gegen die Übernahme Einwendungen erhoben wurden. Das BVG gilt demnach auch in Berlin als - mittelbares - Bundesrecht (vgl. BVerfGE 19, 377, 388). Durch das Gesetz zur Übernahme des SGG vom 20. November 1953 (GVBl Berlin 1953, 1419; vgl. Art. I "Das SGG findet auch in Berlin Anwendung") sind auch die verfahrensrechtlichen Vorschriften des sozialgerichtlichen Verfahrens übernommen und die Zuständigkeit des BSG in "Berliner Sachen" begründet worden.

Der Kläger ist daher nicht gehindert gewesen, seinen Rechtsstreit durch alle sozialgerichtlichen Instanzen bis zum BSG zu führen und ggf. eine Entscheidung des BVerfG - sei es im Wege des Vorlagebeschlusses gemäß Art. 100 GG iVm §§ 13 Nr. 11, 80 BVerfGG, sei es im Wege der Verfassungsbeschwerde gemäß §§ 90 ff BVerfGG - anzustreben. Sein Rechtsschutz war nicht geringer ausgestaltet als bei jedem anderen Versorgungsberechtigten auch. Der Kläger kann allerdings nicht verlangen, daß er lediglich aufgrund der Tatsache, daß er seinen Wohnsitz in West-Berlin hat, gegenüber den anderen Kriegsopfern bevorzugt wird. Wenn der Beklagte - was er unwidersprochen vorgetragen hat und was durch die Verwaltungsvorschrift Nr. 8 zu § 40 VerwVG bestätigt wird - den Fall des Klägers gleichbehandelt hat wie die Ansprüche von anderen Versorgungsberechtigten im Fall eines Zugunstenbescheides nach § 40 Abs. 1 VerwVG und eine Rückwirkung für einen Zeitraum von vier Jahren seit Stellung des neuen Antrages ausgesprochen hat, so ist ein Ermessensfehlgebrauch nicht zu erkennen (vgl. BSG in SozR VerwVG § 40 Nr. 10; Urteil BSG vom 21. März 1969 - 9 RV 476/67).

Die Versorgungsverwaltung hat auch nicht etwa deshalb, weil die Nachzahlung verhältnismäßig klein ist - da dem Kläger auch nach seiner eigenen Auffassung eine Waisenrente über den 31. März 1960 hinaus nicht zusteht und er einen weitergehenden Antrag gar nicht gestellt hat -, die Rückwirkung über den Vierjahreszeitraum hinaus verlängern müssen. Vielmehr entsprach es den vom BSG aufgestellten Grundsätzen für die Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens, wenn die Versorgungsverwaltung auch die wirtschaftliche Lage des Klägers und insbesondere die Tatsache berücksichtigt hat, daß der Kläger im Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG vom 24. Juli 1963 nicht nur volljährig, sondern bereits seit mehreren Jahren als Polizeibeamter mit vollem Gehalt berufstätig war und über ausreichende eigene Einkünfte verfügte (vgl. insbesondere Urteil des erkennenden Senats vom 14. März 1967, BSG 26, 146, 154). Der Senat hat in der angezogenen Entscheidung ausgesprochen, daß alle Versorgungsleistungen nach dem BVG zu den Sozialleistungen im weiteren Sinne gehören, bei deren Festsetzung Erwägungen über die wirtschaftliche Lage des Betroffenen, soweit der Versorgungsbehörde vom Gesetz bei dieser Festsetzung eine Freiheit eingeräumt ist - hier die Wahl, den Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Neuregelung zu bestimmen -, immer am Platze, wenn nicht gar geboten sind. Das gilt insbesondere bei der Zahlung aufgelaufener Beträge und bei der Wahl desjenigen Zeitpunktes, von dem an die Neuregelung einsetzen soll und von dem die Höhe der Nachzahlung abhängt. Demnach liegen die Erwägungen, welche die Verwaltungsbehörde im vorliegenden Fall bei Erlaß der von ihr getroffenen Ermessensentscheidung angestellt hat, durchaus im Rahmen der ihr eingeräumten Ermessensfreiheit und widersprechen nicht den Erfordernissen eines an sozial angemessener Rechtsausübung gebundenen Ermessens (vgl. Urteil BSG vom 21. März 1969 - 9 RV 476/67). Angriffe gegen die von der Beklagten zur Beurteilung der wirtschaftlichen Lage des Klägers getroffenen tatsächlichen Feststellungen sind von dem Kläger niemals erhoben worden; diese sind daher bindend und unterliegen keiner weiteren Nachprüfung. Der Beklagte hat demnach die gesetzlichen Grenzen des ihm durch § 40 Abs. 1 VerwVG eingeräumten Ermessens nicht überschritten und auch nicht von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG), wenn er die Rückwirkung auf einen Zeitraum von vier Jahren, hier also, da der erneute Antrag im Januar 1964 gestellt ist, auf die Zeit vom 1. Januar 1960 an begrenzt hat (vgl. §§ 197, 201 BGB). Ein weitergehendes Nachprüfungsrecht steht den Gerichten bei der Gewährung oder Versagung von Ermessensleistungen nicht zu (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Da ein Ermessensfehlgebrauch des Beklagten nicht vorliegt, kommt es auf die von dem Beklagten hilfsweise erhobene Einrede der Verjährung nicht an. Abgesehen davon könnte auch, entgegen der Auffassung des LSG, die Geltendmachung der Verjährung nicht als unzulässige Rechtsausübung oder als Rechtsmißbrauch angesehen werden. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG unterliegen auch die Ansprüche auf Versorgungsleistungen der Verjährung, wobei in entsprechender Anwendung des § 197 BGB von einer vierjährigen Verjährungsfrist auszugehen ist (vgl. BSG 19, 88; BSG vom 21. März 1967 in KOV 1968, 44; vom 22. Juni 1967 in BVBl 1967, 135). In der Geltendmachung der Verjährungseinrede als solcher durch die Versorgungsverwaltung liegt daher grundsätzlich keine unzulässige Rechtsausübung, kein Verstoß gegen Treu und Glauben und auch kein Verstoß gegen den Grundsatz der Sozialstaatlichkeit (vgl. BSG vom 22. Juni 1967, BVBl 1967, 135; vom 28. August 1964 in BVBl 1965, 41). Der Kläger ist auch nicht durch ein schuldhaftes Verhalten des Beklagten an der Weiterverfolgung seines Anspruchs gehindert worden (vgl. BSG 19, 93, 97); vielmehr hat sich der Beklagte auf die Rechtsprechung der Sozialgerichte, insbesondere das Urteil des BSG vom 14. März 1957 (BSG 5, 26, 33) stützen können. Hinsichtlich der weiteren Erwägungen des LSG, aus welchen Gründen die Geltendmachung der Verjährungseinrede einen Rechtsmißbrauch darstellen soll, kann auf die obigen Ausführungen zur Frage der Rückwirkung nach der Nichtigerklärung einer Norm durch das BVerfG verwiesen werden. Mangels eines Rechtsanspruchs auf die rückwirkende Gewährung der Leistungen (vgl. § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) stellt die zeitlich begrenzte Rückwirkung keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Sozialstaatlichkeit und gegen den Anspruch auf materielle Gerechtigkeit dar.

Demnach zeigt sich, daß der Bescheid der Versorgungsverwaltung vom 30. September 1965 mit der darin ausgesprochenen begrenzten Rückwirkung nicht rechtswidrig und von den Vorinstanzen zu Unrecht aufgehoben worden ist. Die Urteile des LSG und des SG waren daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1668977

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