Leitsatz (amtlich)

Das Landessozialgericht verletzt weder das Verbot der reformatio in peius (SGG §§ 123, 153 Abs 1) noch das Gebot der umfassenden Sachentscheidung (SGG § 157), wenn es in einem Streit über die Höhe der Beschädigtenrente (BVG § 29) die Berufung des Klägers mit der Begründung zurückweist, daß es - im Gegensatz zum Sozialgericht - die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nach der körperlichen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben (BVG § 30 Abs 1 S 1) zwar niedriger, die MdE durch berufliches Betroffensein (BVG § 30 Abs 1 S 2) aber höher bewertet und im Gesamtergebnis die MdE in derselben Höhe wie das Sozialgericht feststellt.

 

Normenkette

SGG § 123 Fassung: 1953-09-03; BVG § 30 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1956-06-06, § 29 Fassung: 1950-12-20, § 30 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1956-06-06; SGG § 153 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 157 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 20. Juni 1956 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten

 

Gründe

Der Kläger hat gegen das Urteil des Landessozialgerichts (LSG. Nordrhein-Westfalen in Essen vom 20. Juni 1956, durch das seine Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG.) Köln vom 15. Februar 1955 zurückgewiesen worden war, form- und fristgerecht die Revision eingelegt und begründet. Die allein auf § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gestützte Revision ist nicht statthaft, weil die gerügten Verfahrensmängel nicht vorliegen.

Auch im sozialgerichtlichen Verfahren gilt für das Berufungsgericht das Verbot, das mit der Berufung angefochtene Urteil zum Nachteil des Berufungsklägers abzuändern - Verbot der reformatio in peius - (§§ 123, 153 Abs. 1 SGG; BSG. 2 S. 225). Es kann unerörtert bleiben, ob ein Verstoß hiergegen einen Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG darstellt; denn das LSG. hat im vorliegenden Falle nicht gegen das Verbot verstoßen.

Das Verbot der reformatio in peius bezieht sich nur auf die Entscheidung, nicht aber auf ihre Begründung. Das Gericht des zweiten Rechtszuges ist befugt, das Urteil des ersten Rechtszuges aus anderen Gründen aufrechtzuerhalten. Der Kläger hatte mit der Berufung begehrt, an Stelle der ihm vom SG zuerkannten Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 60 v.H. ihm eine Rente nach einer MdE. um 70 v.H. zuzusprechen. Durch die Zurückweisung der Berufung hat das LSG. die Rechtsstellung des Berufungsklägers, die er durch das Urteil des SG. erlangt hatte, nicht verschlechtert und damit die ihm vom Gesetz gezogenen Grenzen seiner Entscheidungsbefugnis nicht überschritten.

Das angefochtene Urteil verstößt auch nicht gegen § 537 der Zivilprozeßordnung (ZPO), den die Revision nach § 202 SGG im sozialgerichtlichen Verfahren für anwendbar hält. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Ansicht zutrifft oder ob § 157 SGG den § 537 ZPO ersetzt. Keine dieser Vorschriften ist verletzt, deren Sinn es ist, den Umfang zu bestimmen, in welchem - innerhalb der Anträge der Beteiligten (§§ 123, 153 Abs. 1 SGG; §§ 525, 536 ZPO) - der Rechtsstreit dem Berufungsgericht zur Verhandlung und Entscheidung anfällt. Hiernach hat das Berufungsgericht den erhobenen Anspruch in den Grenzen, die ihm durch das Urteil des Vorderrichters und die Anträge der Beteiligten im Berufungsverfahren gezogen sind, von neuem zu prüfen, wobei es den gesamten Streitstoff berücksichtigen und rechtlich würdigen muß (vgl. SozR. SGG § 157 Bl. Da 1 Nr. 1). Dieser Pflicht ist das LSG. nachgekommen; denn es hat die MdE. des Klägers sowohl nach seiner Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben als auch nach seinem beruflichen Betroffensein (§ 30 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -) bewertet. Da es sich insoweit nur um die Gründe handelt, die das Verlangen des Klägers nach einer höheren Rente rechtfertigen sollen ("Streitpunkte"), war das LSG. in der Beurteilung des Prozeßstoffes frei. Die Ansicht der Revision, das LSG. sei daran gebunden gewesen, den sogenannten "anatomischen Schaden", d.h. die körperliche Beeinträchtigung des Klägers im allgemeinen Erwerbsleben, nicht niedriger zu bewerten als das SG., findet weder in § 537 ZPO noch in § 157 SGG eine Stütze und ist abzulehnen. Das Vorbringen des Klägers ergibt mithin nicht, daß das LSG. eine gesetzliche Verfahrensvorschrift dadurch verletzte, daß es die für die Bemessung der Rente nach § 29 BVG maßgebende MdE. im Ergebnis nicht höher als das SG. bewertet hat.

Die Revision rügt außerdem, das LSG. habe die Vorschriften in den §§ 103, 128 SGG dadurch verletzt, daß es für den anatomischen Schaden nach eigener Schätzung nur eine MdE. um 50 v.H. angenommen habe Auch diese Rüge greift nicht durch; denn bei der Schätzung der MdE. durch Schädigungsfolgen ist das Gericht an die ärztliche Auffassung in diesem Punkt nicht gebunden, zumal wenn es, wie es hier geschehen ist, seine abweichende Schätzung begründet (SozR. SGG § 128 Bl. Da 9 Nr. 25) Auf Grund der vorliegenden ärztlichen Gutachten stand der objektive Krankheitsbefund fest, so daß das LSG. den Grad der MdE. selbst beurteilen konnte, ohne genötigt gewesen zu sein, hierüber noch ein ärztliches Gutachten einzuholen.

Da hiernach die Revision nicht statthaft ist, mußte sie als unzulässig verworfen werden. Dieser Beschluß ergeht gemäß § 169 SGG, die Entscheidung im Kostenpunkt in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2221044

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