Leitsatz (amtlich)

Zum Versicherungsschutz bei Unfällen auf Dienstreisen (Vergleiche BSG 1958/07-30 2 RU 177/55 = BSGE 8,48

 

Leitsatz (redaktionell)

Auch der Weg eines Dienstreisenden im Treppenhaus eines Privatquartiers steht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherungen, wenn dieser Weg in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang mit der Tätigkeit des Versicherten steht.

 

Normenkette

RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 25. April 1958 aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 27. Februar 1957 zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin ist Gewerkschaftssekretärin und war bei der Dienststelle des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB.) in Dortmund tätig. Am 1. und 2. Oktober 1955 nahm sie an einer Landesbezirks-Frauenkonferenz des DGB. in Bad Salzuflen teil. Für die Tagungsdauer war ihr zusammen mit einer Kollegin ein Privatquartier vom örtlichen Verkehrsverein zugewiesen worden. Dort hat sie übernachtet und sich am Morgen des 2. Oktober 1955 gegen 8 Uhr nach der Einnahme des Frühstücks mit je einer Aktentasche unter den Armen auf den Weg zum Konferenzort begeben; noch vor dem Verlassen des Hauses stürzte sie auf der zum Erdgeschoß führenden Treppe und zog sich eine Knieschädigung zu.

Durch Bescheid vom 22. Juni 1956 hat die Beklagte den Entschädigungsanspruch abgelehnt: Der Unfall habe sich zwar auf einer Dienstreise ereignet; er sei aber nicht als Arbeitsunfall anzusehen, da er aus Anlass der eigenwirtschaftlichen Zwecken dienenden Übernachtung der Verletzten eingetreten sei.

Das Sozialgericht (SG.) Dortmund hat der Klage durch Urteil vom 27. Februar 1957 stattgegeben; es hat den angefochtenen Bescheid aufgehoben, den Unfall der Klägerin als Arbeitsunfall anerkannt und die Beklagte verurteilt, auf dieser Grundlage einen neuen Bescheid zu erteilen. Auf die Berufung der Beklagten hiergegen hat das Landessozialgericht (LSG.) die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seines Urteils vom 25. April 1958 ausgeführt: Die Klägerin sei während ihres dienstlichen Aufenthalts in Bad Salzuflen gegen Unfall versichert gewesen, soweit sie nicht eigenwirtschaftliche Tätigkeiten verrichtet habe. Auf ihrem Wege vom Quartier zum Tagungslokal habe der Versicherungsschutz aber erst an der Außentür des Wohnhauses begonnen. Die Ansicht des SG., der Versicherungsschutz der in Hotels oder sonstigen Beherbergungsbetrieben untergebrachten Dienstreisenden beginne und ende an der Tür des von ihnen bewohnten Zimmers werde mit dem Hinweis darauf, dass die außerhalb des Zimmers bestehenden räumlichen und örtlichen Verhältnisse dem Tagesgast in der Regel fremd seien und daher für ihn eine seiner Einflußnahme entzogene besondere Gefahrenquelle darstellten, nicht gerechtfertigt; denn der Gesichtspunkt der Fremdheit treffe auch auf die Beschaffenheit des Zimmers selbst zu. Die im Interesse der Rechtssicherheit für jeden Fall der vorliegenden Art von vornherein eindeutig und klar voraussehbar zu ziehende Grenze des privaten Bereichs sei aus gewichtigen Gründen in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung an der Außentür des Hauses zu finden. Die tatsächlichen Verhältnisse in den Räumen der Beherbergungsunternehmen (einschließlich der Privatquartiere) entsprächen denjenigen in Mietwohnhäusern, bei denen der häusliche Bereich im allgemeinen durch die Haustür des Gebäudes begrenzt werde.

Das Urteil ist der Klägerin am 30. Juni 1958 zugestellt worden. Sie hat hiergegen am 3. Juli 1958 Revision eingelegt und diese am 4. Juli 1958 begründet. Sie meint, das LSG. habe den Unfall auf der Haustreppe zu Unrecht ihrem privaten Bereich zugerechnet, und trägt dazu vor: Die Annahme des Berufungsgerichts, dass der Versicherungsschutz für sie erst mit dem Durchschreiten der Außentür ihres Quartiergebäudes begonnen hätte, gehe rechtlich fehl. Sie sei mit dem im Unfallversicherungsrecht maßgebenden Ursachenbegriff nicht vereinbar. Der "Bereich des Beherbergungsbetriebes" sei mit dem "häuslichen Bereich" nicht vergleichbar. Im Gegensatz zum Mieter einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus habe der Quartiergast keine geschützten Rechte auf die zum häuslichen Bereich gehörenden Örtlichkeiten (Treppenhaus, Hausflur, Boden, Keller). Als die Klägerin den Weg zu ihrer Wirkungsstätte am Unfallmorgen mit dem Durchschreiten der Etagentür angetreten habe, sei sie bereits ausschließlich zu dienstlichen Zwecken unterwegs gewesen.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG. Dortmund vom 27. Februar 1957 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie nimmt im wesentlichen auf die Rechtsauffassung des angefochtenen Urteils Bezug.

II

Die vom LSG. zugelassene Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und somit zulässig.

Die Revision ist auch begründet.

Nach den das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts befand sich die Klägerin anläßlich ihrer Teilnahme an der Tagung des DGB. auf einer Dienstreise und erlitt den Unfall nach der Übernachtung in ihrem Privatquartier beim Verlassen des Hauses außerhalb der Etagenwohnung. Damit sind jedoch noch nicht ohne weiteres die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls gegeben. Denn während und aus dem bloßen Anlaß einer Tagungsreise stand die Klägerin nicht bei jeglicher Verrichtung unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Wie der beschließende Senat in seinem Urteil vom 30. Juli 1958 (SozR. RVO § 542 Bl. Aa 6 Nr. 13) ausgeführt hat, ist vielmehr auch bei einer Dienstreise zu unterscheiden, ob sich der Unfall bei einer Tätigkeit ereignet hat, welche mit dem Beschäftigungsverhältnis wesentlich zusammenhängt und deshalb versichert ist, oder ob er sich bei einer Verrichtung zugetragen hat, welche der privaten Sphäre des Reisenden angehört und deshalb nicht versichert ist. Dies hat auch das Berufungsgericht nicht verkannt. Es hat jedoch die Abgrenzung zwischen den versicherten und unversicherten Betätigungen von Gesichtspunkten abhängig gemacht, die in Fällen der vorliegenden Art nach der Auffassung des Senats kein ausschlaggebendes Gewicht haben. Zur Frage der Abgrenzung zwischen der privaten und betrieblichen Sphäre hinsichtlich der einzelnen Betätigungen auf einer Dienstreise ist in der oben angeführten Entscheidung - allerdings anläßlich des Unfalls eines Hotelgastes - weiter ausgeführt, daß es hierbei von vornherein nicht darauf ankomme, wo sich der Reisende im Zeitpunkt der unfallbringenden Tätigkeit gerade befand. Dies ist damit begründet, dass das Hotel - jedenfalls für den Tagesgast - nicht den klar abgesonderten eigenen häuslichen Bereich darstelle, vielmehr mit allen für den dienstlich dort weilenden Gast betretbaren Räumen einen Ersatz sowohl der eigenen Häuslichkeit als auch der Arbeitsstätte bilde; daher entspreche es nicht den tatsächlichen Gegebenheiten, die Abgrenzung zwischen privater und betrieblicher Tätigkeit nach räumlichen Merkmalen zu bestimmen und etwa die Außentür oder die Tür des Hotelzimmers als Grenze des "häuslichen Wirkungskreises" zu bezeichnen (vgl. hierzu auch EuM 47 S. 1). Als ausschlaggebend für den während einer Dienstreise bestehenden Versicherungsschutz ist in jener Entscheidung der Zweck angesehen worden, dem die zum Unfall führende Tätigkeit jeweils diente. Der beschließende Senat sah bei der Beurteilung des vorliegenden Streitfalles keinen Anlaß, von dieser Entscheidung abzuweichen, zumal da gegen sie auch die Beteiligten offensichtlich nichts einzuwenden haben. Die Klägerin war allerdings nicht in einem Hotel, sondern in einem sogenannten Privatquartier untergebracht. Dies macht jedoch für die Beurteilung des Versicherungsschutzes auf Dienstreisen keinen rechtlichen Unterschied; denn es sind keine Bedenken dagegen ersichtlich, die für den Versicherungsschutz eines Hotelgastes als maßgeblich erachteten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte auch für den Benutzer sonstiger Beherbergungsunternehmen (Gasthöfe, Pensionen und Privatquartiere) gelten zu lassen. Dienstreisende, die sich in einem in der Etagenwohnung eines Mietshauses gelegenen Zimmer einquartiert haben, können in ihrem Zimmer oder anderen Räumen der Wohnung ebenso wie der Gast in seinem Hotelzimmer und den ihm sonst zugänglichen Hotelräumen dienstliche Verrichtungen ausüben oder sich privaten Dingen widmen. Daher ist es jedenfalls sinnvoll und zweckmäßig, beim Aufenthalt des Dienstreisenden allgemein in seinem Quartierbereich anders als beim eigenen häuslichen Bereich (BSG. 2 S. 239) auf eine Abgrenzung des Versicherungsschutzes nach räumlichen Merkmalen zu verzichten. Ein Arbeitsunfall liegt also nur vor, wenn der Dienstreisende bei einer in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang mit seinem Beschäftigungsverhältnis stehenden Tätigkeit verunglückt ist. Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall gegeben. Die Klägerin befand sich, wie von keiner Seite in Zweifel gezogen worden ist, bereits auf dem Wege zu ihrer dienstlichen Wirkungsstätte, als sie auf der Haustreppe stürzte. Die mit der Übernachtung in dem Quartier verbundenen privaten Zwecke beeinflußten den unfallbringenden Weg jedenfalls nicht mehr. Der Klägerin stehen hiernach die in dem erstinstanzlichen Urteil zugesprochenen, von der Beklagten durch einen neuen Bescheid noch festzustellenden gesetzlichen Leistungen aus der Unfallversicherung zu.

Auf ihre somit begründete Revision konnte das Bundessozialgericht (BSG.) selbst abschließend entscheiden, da die Sache zur Entscheidung reif war (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG. Dortmund vom 27. Februar 1957 als unbegründet zurückgewiesen werden.

Die Entscheidung ergeht in Anwendung des § 216 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b SGG in der Fassung vom 23. August 1958 (BGBl. I S. 614) durch einstimmigen Beschluß ohne Zuziehung der Bundessozialrichter. Die Voraussetzungen hierfür sind gegeben. Die Rechtslage hinsichtlich der Voraussetzungen, unter denen Unfälle auf Dienstreisen als Arbeitsunfälle anzusehen sind, ist durch Urteil des BSG. vom 30. Juli 1958 zweifelsfrei geklärt. Die Beteiligten sind am 9. September 1958 unter Einräumung einer Äußerungsfrist von einem Monat von der Absicht des Senats, nach § 216 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b SGG zu verfahren, in Kenntnis gesetzt worden. Sie hatten vorher bereits übereinstimmend die Verfahrensweise nach der angeführten Vorschrift selbst angeregt.

Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324036

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