Leitsatz (amtlich)

1. Ein in der Bundesrepublik Deutschland wohnhafter Ausländer ist im allgemeinen nicht schon mangels ausreichender Deutschkenntnisse ohne Verschulden verhindert, die einmonatige Berufungsfrist einzuhalten.

2. Zur Bezeichnung des behaupteten Verfahrensmangels iS § 160a Abs 2 S 3 SGG, wenn die Versäumung der Berufungsfrist mit fehlenden Sprachkenntnissen begründet wird.

 

Normenkette

SGG § 67 Abs 1, § 151 Abs 1, § 160a Abs 2 S 3

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 27.01.1988; Aktenzeichen L 6 Ar 622/87)

SG Gießen (Entscheidung vom 20.03.1987; Aktenzeichen S 5 Ar 77/84)

 

Gründe

Die allein auf den Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gestützte Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig. Der Kläger hat in der Beschwerdebegründung einen Verfahrensmangel, auf dem das angefochtene Urteil beruhen kann, nicht bezeichnet, wie dies nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG erforderlich ist.

Bezeichnet ist ein Verfahrensmangel nur dann, wenn er in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan ist (vgl für viele BSG SozR 1500 § 160a Nr 14). Der Kläger, dessen Berufung das Landessozialgericht (LSG) wegen Versäumung der Berufungsfrist verworfen hat, meint, es habe ihm gemäß § 67 SGG Wiedereinsetzung gewährt werden müssen. Aus den Tatsachen, die vorgetragen worden sind, ergibt sich jedoch nicht, daß der Kläger ohne sein Verschulden verhindert gewesen ist, die gesetzliche Verfahrensfrist von einem Monat nach Zustellung des Urteils des Sozialgerichts (SG), innerhalb der die Berufung einzulegen ist (§ 151 Abs 1 SGG), einzuhalten (§ 67 Abs 1 SGG). Dabei kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger unrichtige Anwendung des § 67 SGG oder Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG) geltend macht, weil das LSG den Schriftsatz des Klägers vom 29. Juli 1987 nicht zur Kenntnis genommen habe; denn auch im letztgenannten Falle kann der Kläger nur dartun, daß die Verwerfung der Berufung als unzulässig auf der Verletzung des § 62 SGG beruht, indem er einen Grund zur Wiedereinsetzung aufweist.

Vor dem LSG hat der aus der Türkei stammende Kläger seine Bitte, "meine verspätete Schriftsatz wieder vorherige Stand zu bringen", damit begründet, daß er nicht früher habe schreiben können, weil es nicht einfach gewesen sei, hierfür einen Dolmetscher zu finden. In der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde wird darüber hinaus behauptet, es sei dem Kläger nicht möglich gewesen, innerhalb der Monatsfrist einen Dolmetscher für Urteil und Rechtsmittelbelehrung zu finden und die Notwendigkeit einer besonders schnellen Übersetzung sei dem Kläger nicht bekannt gewesen, da ihm auch die Belehrung über die Rechtsmittelfrist nicht verständlich gewesen sei. Ein Wiedereinsetzungsgrund ergibt sich hieraus noch nicht.

Selbstverständlich erfordern bestehende Sprach- und Verständigungsschwierigkeiten von Ausländern bei der Wiedereinsetzung eine angemessene Berücksichtigung. Zutreffend wird in der Nichtzulassungsbeschwerde ausgeführt, daß das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) grundsätzlich für geboten hält, einem Ausländer, der eine Rechtsmittelbelehrung nicht versteht, im Strafbefehls- und im Bußgeldverfahren mit einwöchiger Anfechtungsfrist eine Fristversäumung nachzusehen (BVerfGE 40, 95, 99 f; 42, 120, 124 ff). Indessen gilt das nicht für andere Verfahren mit längeren Rechtsbehelfsfristen, namentlich nicht für das Sozialgerichtsverfahren mit einer grundsätzlich einmonatigen Rechtsmittelfrist; nur bei so kurzen Fristen wie im Bußgeld- und Strafbefehlsverfahren ist die großzügige Wiedereinsetzung geboten (vgl BVerfGE 38, 35, 38 ff). Unzureichende Sprachkenntnisse entheben den Ausländer nicht jeglicher Sorgfaltspflichten in der Wahrung seiner Rechte. Auch ihm ist die Wiedereinsetzung zu versagen, wenn er nicht alles unternommen hat, was ihm möglich und zumutbar ist, um seine Interessen zureichend zu verfolgen (BVerfGE 42, 120, 126 f; BVerwG Buchholz 310 § 58 Nr 37 und § 60 Nr 123; Beschluß des 9. Senats vom 21. September 1981 - 9 BV 218/81 - nicht veröffentlicht). Daß der Kläger aber alles unternommen hat, um die Berufungsfrist zu wahren, kann seinem Vorbringen nicht entnommen werden.

Es ist den Angehörigen aller zivilisierten Staaten bekannt, daß in der Regel eine Frist gesetzt ist, innerhalb der ein gegebenes Rechtsmittel eingelegt werden muß (vgl BFHE 118, 294, 297). Ein Ausländer, der im Bundesgebiet einen Rechtsstreit führt, ohne die deutsche Sprache zu verstehen, verletzt daher regelmäßig die ihm nach § 67 SGG zuzumutende Sorgfalt, wenn er sich von dem Inhalt eines ihm zugegangenen Urteils, insbesondere von dem Inhalt einer dem Urteil angefügten Rechtsmittelbelehrung, nicht sobald wie irgend möglich Kenntnis verschafft und dadurch eine in Lauf gesetzte Rechtsmittelfrist versäumt. Wie schon das Bundesverwaltungsgericht entschieden hat, ist eine Widerspruchsfrist von einem Monat so lang bemessen, daß sich sprachunkundige Ausländer im Bundesgebiet vor ihrem Ablauf in der Regel eine Übersetzung fertigen lassen können (Buchholz 310 § 60 Nr 123). Für die einmonatige Berufungsfrist, die das SGG im Normalfall vorsieht, kann nichts anderes gelten, wie auf der Hand liegt. Dem Kläger ist es nach Ablauf der Berufungsfrist gelungen, jemanden zu finden, der ihm bei der Einlegung der Berufung geholfen hat. Obwohl im Beschwerdeverfahren und zuletzt auch vor dem Berufungsgericht rechtskundig vertreten, ist dem Vorbringen des Klägers nichts zu entnehmen, weshalb es bei zumutbaren Bemühungen ihm nicht möglich gewesen sein sollte, schon vor Ablauf der Berufungsfrist die Hilfe, die er für erforderlich hielt, zu finden. Der Kläger hat nicht angegeben, welche Bemühungen er unternommen hat, um sobald wie möglich nach Zustellung des Urteils des SG das Erforderliche zu veranlassen. Allein der Umstand, daß der Kläger als Sozialhilfeempfänger kein Geld hatte, um einen gewerbsmäßigen Dolmetscher zu bezahlen, vermag die Fristversäumnis nicht zu entschuldigen; denn auf die Hilfe gerade einer solchen Person war der Kläger nicht angewiesen. Abgesehen davon, daß inzwischen große Teile der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden türkischen Bevölkerung über ausreichende deutsche Sprachkenntnisse verfügen, die es Nachbarn und anderen Bekannten ermöglichen, Hilfen, wie sie hier erforderlich gewesen sein mögen, zu gewähren, lassen sich Übersetzungshilfen auch bei Wohlfahrtseinrichtungen (wie zB bei den Ausländersozialdiensten der Arbeiterwohlfahrt) und den Vereinen der türkischen Bevölkerungsgruppen finden. Schließlich helfen in Fällen dieser Art auch die Sozialämter; denn die von ihnen zu leistende Beratung in sonstigen sozialen Angelegenheiten (§ 8 BSHG) umfaßt auch Hilfen bei der Abfassung von Schriftsätzen (OVG Lüneburg FEVS 11, 14).

Hat der Kläger somit einen zur Zulassung der Revision führenden Verfahrensmangel nicht dargetan, muß die Beschwerde in entsprechender Anwendung des § 169 SGG als unzulässig verworfen werden. Damit steht auch fest, daß die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Der Antrag des Klägers, ihm zur Durchführung des Beschwerdeverfahrens Prozeßkostenhilfe zu bewilligen und die Rechtsanwältin H.    beizuordnen, ist daher gleichfalls abzulehnen (§ 73a Abs 1 SGG, § 114 Zivilprozeßordnung).

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1989, 680

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