Verfahrensgang

BSG (Urteil vom 13.03.1975; Aktenzeichen 2 RU 267/73)

 

Tenor

Bei dem 2. Senat des Bundessozialgerichts wird angefragt, ob er an seiner im Urteil vom 13. März 1975 – 2 RU 267/73 – vertretenen Rechtsauffassung festhält, daß bei Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache nicht an einen anderen Senat des Berufungsgerichts zurückverwiesen werden kann.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten um die Zuordnung einer polnischen Beschäftigungszeit von März 1961 bis März 1982 als Pflichtversicherungszeit in der knappschaftlichen Rentenversicherung anstelle der Angestelltenversicherung.

Der 1928 geborene, seit seiner Umsiedlung aus Polen im Mai 1988 als anerkannter Vertriebener in der Bundesrepublik Deutschland lebende Kläger blieb mit seinem Begehren, die Zeit seiner Beschäftigung im ehemaligen Bergbau-Maschinenindustrieverband P. … … (1. März 1961 bis 1. April 1973) sowie in der Fabrik für Bergbauvorrichtungen T. … … (2. April 1973 bis 31. März 1982) der knappschaftlichen Rentenversicherung zuzuordnen, ohne Erfolg (Rentenbescheid vom 15. November 1993, Widerspruchsbescheid vom 12. April 1994; Bescheid der Beklagten im Wege der Neufeststellung gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – ≪SGB X≫ vom 8. Juni 1994, Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 1996; Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Duisburg vom 7. Juni 1995; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Nordrhein-Westfalen vom 18. Juli 1996). Den seinerzeitigen Prozeßbevollmächtigten des Klägers, Rechtsbeistand K. … K. …, hat das LSG in der mündlichen Verhandlung nicht auftreten lassen. In der Sache hat es zur Begründung ausgeführt, der Rentenbescheid vom 15. November 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. April 1994 habe – ohne Rechtsfehler – den zwischen den Beteiligten geschlossenen Vergleich vom 23. Februar 1993 ausgeführt, der die Zuordnung der streitigen Zeit eingeschlossen habe. Auch eine Neufeststellung gemäß § 44 SGB X müsse ohne Erfolg bleiben.

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung materiellen und formellen Rechts. Insbesondere sei das LSG seiner Hinweis- und Belehrungspflicht gemäß § 73 Abs 6 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht nachgekommen und habe seinen, des Klägers, Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß § 62 SGG verletzt.

Der Kläger beantragt,

  1. das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. Juli 1996, Az: L 2 (18) Kn 46/95, das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 7. Juni 1995, Az: S 2 Kn 78/94, den Bescheid der Beklagten vom 8. Juni 1994 sowie den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 10. Januar 1996 insofern aufzuheben, wie die Beschäftigungszeit des Klägers in Polen von März 1961 bis März 1982 nicht der knappschaftlichen Rentenversicherung zugeordnet wurde, und
  2. die Beklagte zu verurteilen, die Beschäftigungszeiten des Klägers in Polen von März 1961 bis März 1982 insgesamt der knappschaftlichen Rentenversicherung zuzuordnen,

hilfsweise,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. Juli 1996, Az: L 2 (18) Kn 46/95, aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt – unter näherer Darlegung –,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Der erkennende Senat beabsichtigt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des LSG zu verweisen. Daran sieht er sich gehindert, weil er von einer Entscheidung des 2. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) abweichen will (vgl § 41 Abs 2 SGG).

Der vom Kläger gerügte Verfahrensfehler einer Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt vor. Das LSG hat die mündliche Verhandlung durchgeführt, ohne den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör hinreichend zu beachten (§ 62 SGG). Denn es hat den Rechtsbeistand des Klägers, K. … K. …, zurückgewiesen, ohne den Kläger zu befragen, ob er die Vertagung der Verhandlung beantrage (§ 73 Abs 6 Satz 2 SGG).

Das LSG hat den Bevollmächtigten des Klägers zur mündlichen Verhandlung geladen (Bl 100 LSG-Akte), und dieser ist auch zusammen mit dem Kläger zu der Verhandlung erschienen (s S 3 der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 18. Juli 1996). Aus den Gerichtsakten des LSG, insbesondere aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung und dem angefochtenen Urteil ergibt sich, daß das LSG den Prozeßbevollmächtigten des Klägers ausschließen wollte (s S 9 der Urteilsgründe mit dem Hinweis auf § 73 Abs 6 SGG, § 157 Abs 1, Abs 3 Zivilprozeßordnung ≪ZPO≫) und dieser auf einen entsprechenden Hinweis des LSG nicht aufgetreten ist (s S 8 der Entscheidungsgründe des angegriffenen Urteils), ohne daß eine derartige Zurückweisung dem Kläger rechtzeitig vorher angekündigt worden war. Bei einer Sachlage wie dieser, in der ein Bevollmächtigter als Beistand in der mündlichen Verhandlung ausgeschlossen ist und das Gericht ihn deshalb – wie im vorliegenden Falle – zurückweist, verpflichtet § 73 Abs 6 Satz 2 SGG das Gericht, den Beteiligten zu fragen, ob er von der Möglichkeit Gebrauch machen wolle, einen Vertagungsantrag zu stellen. Dieser Pflicht ist das LSG nicht nachgekommen.

Wie das BSG entschieden hat, liegt ein wesentlicher Verfahrensfehler bereits vor, wenn weder dem Urteil noch der Niederschrift zu entnehmen ist, daß der Vorsitzende den Beteiligten vorschriftsgemäß befragt und was der Beteiligte hierauf geäußert hat (BSG vom 18. März 1969, SozR Nr 15 zu § 73 SGG; vgl Bley in SGB Sozialversicherung Gesamtkommentar, SGG, Stand März 1990, Anm 20 f mwN). Ob ein Beteiligter befragt worden ist und ob er darauf einen Vertagungsantrag gestellt hat, betrifft in aller Regel „wesentliche Vorgänge der Verhandlung” (§ 122 SGG iVm § 160 Abs 1 Nr 4, Abs 2, Abs 3 Nr 2 ZPO), die festzuhalten und in die Niederschrift über die Sitzung aufzunehmen sind; zumindest müssen diese Vorgänge, wenn sich aus der Sitzungsniederschrift hierzu nichts ergibt, in dem angefochtenen Urteil erwähnt sein. Ist dies – wie hier – nicht der Fall, so leidet das Verfahren an einem wesentlichen Mangel.

Auf diesem tatsächlich vorliegenden Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil auch beruhen (vgl zu den Grundsätzen BSG vom 28. Juni 1978, SozR 1500 § 160 Nr 31; 18. Februar 1980, SozR 1500 § 160a Nr 36). Dem Vorbringen des Klägers ist mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, daß er – wenn das LSG ihn zur Vertagung befragt hätte – einen solchen Antrag gestellt hätte, um einen geeigneten Prozeßbevollmächtigten zu beauftragen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß das LSG auf dieser Grundlage zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre. Hinzu tritt die Ankündigung des Klägers, ein sachkundiger Prozeßbevollmächtigter hätte aufgrund von Vorgängen in der mündlichen Verhandlung den Vorsitzenden Richter am LSG wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Hierin liegt die Möglichkeit begründet, daß das Gericht ohne diesen Vorsitzenden – nach Vertagung – in anderer Besetzung über die Sache entschieden hätte.

Der erkennende Senat möchte das angefochtene Urteil aufheben und die Sache an einen anderen Senat des LSG gemäß § 565 Abs 1 Satz 2 ZPO iVm § 202 SGG verweisen. Daran sieht er sich durch das Urteil des 2. Senats vom 13. März 1975 – 2 RU 267/73 – (insoweit abgedruckt in SozSich 10/1976, 312, unter IA zu § 170 SGG) gehindert, wonach bei Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache nur an das „Gericht” zurückverwiesen werden könne, welches das angefochtene Urteil erlassen habe. Der erkennende Senat möchte von dieser Rechtsauffassung abweichen. Er hält die entsprechende Anwendung des § 565 Abs 1 Satz 2 ZPO für statthaft (so bereits BSG, 6. Senat, vom 24. März 1971, BSGE 32, 253, 255; Urteil des 9. Senats vom 24. März 1976 – 9 RV 92/74 –, SGb 1976, 287; noch offengelassen im Urteil des erkennenden Senats vom 25. Februar 1976 – 8 RU 88/75 –, SGb 1976, 286; Bley aaO ≪Stand: August 1987≫ § 170 Anm 5d; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 2. Aufl 1997, IX Rz 393; Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl § 170 Rz 8; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, § 170 Anm 31). Im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Falles – Zurückweisung des Rechtsbeistands ohne Befragung des Klägers, ob Vertagung beantragt werde, und Auferlegung von Mutwillenskosten – erscheint die Zurückverweisung an einen anderen Senat auch angebracht. Dieses Bedürfnis entfällt nicht schon deshalb, weil der zuständig gewesene 2. Senat des LSG an die Rechtsauffassung des Revisionsgerichts gebunden wäre oder er in einer anderen Besetzung zu entscheiden hätte (dazu Senatsurteil vom 25. Februar 1976 aaO; Krasney/Udsching aaO). Denn eine Bindung an die Rechtsauffassung des Revisionsgerichts kann nicht entstehen, weil der erkennende Senat an einer Entscheidung in der Sache gehindert ist. Ob die Ablehnungsvoraussetzungen nach § 42 Abs 2 ZPO wegen Besorgnis der Befangenheit bei dem Vorsitzenden Richter gegeben sind und der 2. Senat des LSG danach ohne diesen Richter zu entscheiden hätte, kann dahingestellt bleiben. Darauf kommt es für die Anwendung von § 565 Abs 1 Satz 2 ZPO nicht an; die Zurückverweisung an einen anderen Senat kann bereits deshalb erfolgen, wenn dies – wie vorliegend – zur Aufrechterhaltung des Vertrauens in die Rechtspflege erforderlich ist.

Der erkennende Senat hat die Anfrage beschlossen, weil sich nach alledem die Frage einer Vorlage an den Großen Senat des BSG gemäß § 41 Abs 2 SGG stellt. Eine derartige Vorlage ist jedoch nur zulässig, wenn der 2. Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, daß er an seiner Rechtsauffassung festhält (vgl § 41 Abs 3 Satz 1 SGG; § 3 Abs 2 Geschäftsordnung des BSG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174672

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