Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 09.01.1992)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Januar 1992 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Das Landessozialgericht (LSG) hat in diesem Rechtsstreit, bei dem es um die Gewährung eines höheren Übergangsgeldes (Übg) für die Zeit ab 1. September 1986 bis 15. Juli 1988 geht, auf die Berufung der Beklagten das der Klage stattgebende Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 9. August 1990 abgeändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 9. Januar 1992). Es hat ausgeführt, die an sich – bei einem Streit um die Höhe der Leistung – nach § 147 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zunächst ausgeschlossene Berufung sei hier zulässig. Denn die Beklagte habe zu Recht einen wesentlichen Verfahrensmangel der Entscheidung des SG gerügt, der auch vorliege. Sie verweise zutreffend darauf, daß während des erstinstanzlichen Verfahrens mit Bescheid vom 10. August 1988 das Übg dynamisiert worden sei. Dieser Bescheid, der analog § 96 SGG Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens geworden sei, sei vom SG übersehen und nicht in die Entscheidung einbezogen worden. Daß es dies unterlassen habe, stelle einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, wobei nicht erforderlich sei, daß das angefochtene Urteil auf diesem Verfahrensmangel beruhe. In der Sache sei die Berufung auch begründet, denn die Beklagte habe unter Beachtung der §§ 59 und 59c des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) das Übg zutreffend berechnet.

Mit der hiergegen gerichteten Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger geltend, die Revision sei zuzulassen, weil das LSG verfahrensfehlerhaft durch Sach-statt durch Prozeßurteil entschieden habe. Es habe zu Unrecht die Zulässigkeit der Berufung bejaht und in Verkennung des Anwendungsbereichs der Vorschrift des § 96 Abs 1 SGG einen wesentlichen Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens angenommen, obwohl ein solcher Verfahrensmangel tatsächlich nicht vorgelegen habe. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), auf die sich das LSG bezogen habe, betreffe nur Fallgestaltungen, in denen der Sozialleistungsträger während des laufenden Verfahrens die mit der Klage angefochtenen Bescheide bestätigt oder zum Nachteil des Klägers verschlechtert habe. In seinem Fall habe das LSG jedoch den Dynamisierungsbescheid zum Gegenstand einer analogen Anwendung des § 96 SGG gemacht, obwohl er sich gegen diesen Bescheid – wie auch sein Klagantrag im erstinstanzlichen Verfahren ausweise – nicht gewandt habe. Die unterbliebene Dynamisierung durch die Beklagte sei als solche nicht Gegenstand des Rechtsstreits gewesen. Doch selbst wenn davon auszugehen wäre,

lasse sich das Urteil des SG so auslegen, daß es die Dynamisierung mitumfasse. Denn die Beklagte sei laut Urteilstenor unter Abänderung des Ausgangsbescheides vom 5. September 1986 verurteilt worden, ihm Übg in Höhe von 77,30 DM täglich „nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen” zu zahlen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig. Ihre Begründung entspricht nicht den gesetzlichen Anforderungen.

Der Kläger stützt seine Nichtzulassungsbeschwerde allein darauf, daß ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem das Urteil des LSG beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). In einem solchen Fall ist in der Begründung der Verfahrensmangel zu bezeichnen (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). „Bezeichnet” ist ein Verfahrensmangel nur dann, wenn er in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan wird (BSG SozR 1500 § 160a Nrn 14, 24, 34). Der Verfahrensmangel muß also in der Beschwerdeschrift schlüssig dargetan werden; dies ist nur dann der Fall, wenn die Tatsachen, die den Mangel ergeben sollen, im einzelnen genau vorgetragen sind (BSG aaO Nr 14). An diesen Voraussetzungen fehlt es hier.

Nach § 150 Nr 2 SGG ist die Berufung ungeachtet der §§ 144 bis 149 SGG zulässig, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird. Soweit der Kläger rügt, das LSG sei zu Unrecht von einem Verfahrensmangel der erstinstanzlichen Entscheidung ausgegangen, weil dieses den Dynamisierungsbescheid nicht übersehen, sondern in seine Entscheidung mit einbezogen habe, fehlt es an einer schlüssigen Bezeichnung der diesen Verfahrensmangel begründenden Tatsachen. Denn gibt die Urteilsformel Anlaß zu Zweifeln über ihren Inhalt, so ist sie nach der Rechtsprechung des BSG durch Heranziehung des sonstigen Urteilsinhalts, insbesondere der Entscheidungsgründe, auszulegen (BSGE 4, 121, 122 = SozR Nr 1 zu § 136 SGG). Der Kläger hätte somit in Auseinandersetzung mit dem sonstigen Urteilsinhalt darlegen müssen, weshalb der Dynamisierungsbescheid – obwohl er weder in der Urteilsformel erwähnt noch in den Entscheidungsgründen aufgeführt ist – dennoch vom SG in die Entscheidung einbezogen worden sein soll. Allein der Hinweis auf die Verurteilung „nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen” ergibt ohne Heranziehung des sonstigen Urteilsinhalts keine schlüssige Darlegung des Verfahrensmangels. Denn die Formulierung „nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen” läßt offen, ob sie sich auf die Höhe oder Zeitdauer der zuerkannten Leistung beziehen soll oder lediglich eine Bezugnahme auf die gesetzlichen Vorschriften des AFG enthält. Zu entsprechenden Darlegungen hatte der Kläger um so mehr Veranlassung, als er selbst im Rahmen seiner Ausführungen zur Nichtanwendbarkeit des § 96 SGG geltend gemacht hat, die – zunächst – unterbliebene Dynamisierung durch die Beklagte sei „nicht Gegenstand des Rechtsstreits” gewesen.

Ein zur Zulassung der Revision führender Verfahrensfehler ist auch insoweit nicht dargetan, als die Beschwerde rügt, das LSG habe den Anwendungsbereich des § 96 Abs 1 SGG verkannt und zu Unrecht die Berufung der Beklagten als zulässig erachtet. Die direkte oder entsprechende Anwendung des § 96 Abs 1 SGG hat entgegen den Darstellungen des Klägers nicht zur Voraussetzung, daß es sich erneut um einen die Rechtsposition des Klägers verschlechternden Bescheid des Sozialleistungsträgers handeln muß. Dies folgt bereits aus dem Wortlaut des § 96 Abs 1 SGG. Danach wird auch ein neuer, nach Klagerhebung ergangener Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens, wenn er den angefochtenen Verwaltungsakt „abgeändert oder ersetzt” hat. Hier hat der Dynamisierungsbescheid vom 10. August 1988 abweichend von dem Ausgangsbescheid vom 5. September 1986, der für die Zeit ab 1. September 1986 bis zum 15. Juli 1988 ein Übg in Höhe von 63,70 DM kalendertäglich vorsah, für die Zeit ab 1. Juni 1987 bis 15. Juli 1988 die Übg-Leistung auf 65,55 DM bzw 68,04 DM festgesetzt. Es kann dahingestellt bleiben, ob dieser Dynamisierungsbescheid unmittelbar von § 96 Abs 1 SGG erfaßt wird oder auf ihn § 96 SGG entsprechend anzuwenden ist. Denn jedenfalls reicht es nach der ständigen Rechtsprechung des BSG für die zumindest entsprechende Anwendbarkeit des § 96 Abs 1 SGG aus, daß der neue Verwaltungsakt aufgrund desselben Rechtsverhältnisses wie der ursprünglich angefochtene Verwaltungsakt ergangen ist und den Streitstoff (das Prozeßziel) des bereits anhängigen Rechtsstreits beeinflussen bzw berühren kann (BSG Urteil vom 22. September 1981 – 1 RA 109/76 – SozR 1500 § 77 Nr 56, insoweit nicht abgedruckt). Dementsprechend hat das BSG bereits wiederholt entschieden, daß Neufeststellungs- bzw Dynamisierungsbescheide, die – wie hier – im Rahmen eines Dauerrechtsverhältnisses ergehen und inhaltlich auf der getroffenen ersten Regelung aufbauen, von der Vorschrift des § 96 SGG und deren Grundgedanken erfaßt werden (vgl BSG aaO – zur Rentenversicherung; SozR 4100 § 136 Nr 4 – zur Arbeitslosenversicherung; BSGE 37, 93, 94 = SozR 3660 § 2 Nr 1 – zur Kriegsopferversorgung; Urteil vom 24. Juni 1981 – 2 RU 11/80 – zur Unfallversicherung). Das SG hat also auch über den Bescheid vom 10. August 1988 entscheiden müssen. Hat es dies unterlassen, bedeutet das einen wesentlichen Verfahrensmangel (BSGE 37, 93, 94 = SozR 3660 § 2 Nr 1 mwN), wobei es – wie vom LSG zutreffend ausgeführt worden ist – nicht darauf ankommt, ob das angefochtene Urteil des SG auf diesem Verfahrensmangel beruht (vgl BSG SozR 1500 § 150 Nr 6).

Entspricht die Begründung somit nicht den gesetzlichen Anforderungen, muß die Beschwerde in entsprechender Anwendung des § 169 SGG als unzulässig verworfen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1172730

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