Entscheidungsstichwort (Thema)

Elterngeld. Einkommensermittlung. nichtselbstständige Erwerbstätigkeit. Provision. sonstige Bezüge. laufender Arbeitslohn. Anbindung an materielles Steuerrecht. Einordnung im Lohnsteuerabzugsverfahren. Lohnsteueranmeldung des Arbeitgebers. keine Bindung der Beteiligten im Elterngeldverfahren. rückwirkende Präklusion. kein Anlass zur Anfechtung der Lohnsteueranmeldung. Verfassungsrecht. Vertrauensschutz

 

Leitsatz (amtlich)

1. Abweichung von BSG, Urteile vom 14.12.2017 - B 10 EG 4/17 R = SozR 4-7837 § 2c Nr 1 und B 10 EG 7/17 R = BSGE 125, 62 = SozR 4-7837 § 2c Nr 2.

2. Die Lohnsteuer-Anmeldung des Arbeitgebers vermag für die Abgrenzung von laufendem Arbeitslohn zu sonstigen Bezügen im Rahmen von § 2c Abs 1 S 2 BEEG in der ab 1.1.2015 geltenden Fassung keine Bindungswirkung zu entfalten.

 

Orientierungssatz

1. Vor den Entscheidungen des BSG vom 14.12.2017 - B 10 EG 4/17 R aaO und B 10 EG 7/17 R aaO konnte der Elterngeldberechtigte nicht einmal ansatzweise erahnen, dass bei fehlerhafter Einordnung der Provisionen als sonstige Bezüge durch den Arbeitgeber im Rahmen der Lohnsteuer-Anmeldung die Einlegung eines Einspruchs oder die Stellung eines Antrags nach § 164 Abs 2 S 2 AO 1977 notwendig sein würde, um seinen in ferner Zukunft liegenden Elterngeldanspruch zu sichern. Die insoweit durch die BSG-Rechtsprechung geschaffene rückwirkende Präklusion lässt verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf den Vertrauensschutz aufkommen.

2. Es handelt sich im Wesentlichen um eine Parallelentscheidung zum Urteil des LSG München vom 26.2.2019 - L 9 EG 36/18.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 25.06.2020; Aktenzeichen B 10 EG 2/19 R)

 

Tenor

I. Auf die Berufung wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 20. September 2018 aufgehoben und der Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 16. Mai 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Juni 2017 verurteilt, bei der Berechnung des Elterngelds für den Kläger hinsichtlich des Kindes J. A. die im Zeitraum Januar bis einschließlich Dezember 2016 verdienten und in den Gehaltsabrechnungen als Provisionen bezeichneten Entgeltbestandteile bei der Festlegung des Ausgangswerts zur Berechnung des Elterngeld-Netto zu berücksichtigen.

II. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Rechtsstreit betrifft das Begehren des Klägers, für Betreuung und Erziehung seines Sohns höheres Elterngeld nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) zu erhalten.

Der 1982 geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger. Er ist Vater des am 10.03.2017 geborenen Kindes J. A.. Mit J.s Mutter war er im Elterngeld-Bezugszeitraum verheiratet und lebte mit dieser in einem gemeinsamen Haushalt. Neben J. gehörte dem Haushalt der Eltern damals kein weiteres Kind an.

Vor J.s Geburt arbeitete der Kläger in abhängiger Beschäftigung in der Automobilbranche. Sein Arbeitgeber war "Die A. e.K.", B-Stadt. Laut Arbeitsvertrag wurde der Kläger 2012 als Autoverkäufer eingestellt. § 2 des Arbeitsvertrags sah als Vergütung zunächst ein sehr niedriges Fixum vor (500 EUR + 250 EUR für tägliche Kontaktarbeit). Zusätzlich waren Provisionen für Fahrzeugverkäufe nach einem komplizierten Modell vorgesehen (Festprovisionen, Zubehörprovisionen, Finanzierungsprovisionen). Die Zahlung etwaiger Sondervergütungen (Gratifikationen, Urlaubsgeld, Prämien etc.) sollte gemäß dem Vertrag in jedem Einzelfall freiwillig und auch bei wiederholter Gewährung ohne Begründung eines Rechtsanspruchs für die Zukunft erfolgen. In Bezug auf den Zahlungszeitpunkt vereinbarte man, die Vergütung sei am Letzten eines Monats fällig.

Am 21.03.2017 beantragte der Kläger die Bewilligung von Elterngeld (Basis-Elterngeld) für Betreuung und Erziehung seines Sohns J. in dessen Lebensmonaten eins und zwölf. Er reichte beim Beklagten folgende Gehaltsabrechnungen mit folgenden Angaben ein:

* Januar 2016: Festlohn 1.000,00 EUR (L); VWL 40,00 EUR (L); Urlaubsgeld 430,64 EUR (S); Provision 950,00 EUR (S),

* Februar 2016: Festlohn 1.000,00 EUR (L); VWL 40,00 EUR (L); Provision 2.219,90 EUR (S),

* März 2016: Festlohn 1.000,00 EUR (L); VWL 40,00 EUR (L); Provision 4.315,50 EUR (S),

* April 2016: Festlohn 1.000,00 EUR (L); VWL 40,00 EUR (L); Provision 2.359,78 EUR (S),

* Mai 2016: Festlohn 1.000,00 EUR (L); VWL 40,00 EUR (L); Provision 3.062,94 EUR (S),

* Juni 2016: Festlohn 1.000,00 EUR (L); VWL 40,00 EUR (L); Urlaubsgeld 295,10 EUR (S); Provision 3.178,81 EUR (S),

* Juli 2016: Festlohn 1.000,00 EUR (L); VWL 40,00 EUR (L); Provision 2.485,22 EUR (S),

* August 2016: Festlohn 1.000,00 EUR (L); VWL 40,00 EUR (L); Provision 2.386,66 EUR (S),

* September 2016: Festlohn 1.000,00 EUR (L); VWL 40,00 EUR (L); Provision 2.652,47 EUR (S),

* Oktober 2016: Festlohn 1.000,00 EUR (L); VWL 40,00 EUR (L); Provision 1.475,84 EUR (S),

* November 2016: Festlohn 1.000,00 EUR (L); VWL 40,00 EUR (L); Provision 2.696,26 EUR (S),

* Dezember 2016: Festlohn 1.000,00 EUR (L); ...

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