Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Statthaftigkeit der Beschwerde gegen die Entscheidung des Sozialgerichts im Vergütungsfestsetzungsverfahren. Vorrang der Regelungen des RVG zur Beschwerde. Verwirkung des Erinnerungsrechts der Staatskasse. Verwirkungsfrist. verfassungsrechtlicher Vertrauensschutz

 

Leitsatz (amtlich)

1. Gegen die Beschlüsse über Erinnerungen, welche gegen Kostenfestsetzungen der Urkundsbeamten der Geschäftsstelle im Verfahren nach §§ 45ff RVG erhoben worden sind, ist das Rechtsmittel der Beschwerde statthaft; § 178 S 1 SGG tritt insoweit gegenüber § 56 Abs 2 S 1 iVm § 33 Abs 3 S 1 RVG zurück.

2. Das verfassungsrechtliche Vertrauensschutzprinzip gebietet, dass das Erinnerungsrecht der Staatskasse trotz des Fehlens einer ausdrücklichen Befristung nicht "bis in alle Ewigkeit" besteht. Dem kann durch das Rechtsinstitut der Verwirkung Rechnung getragen werden.

3. Spätestens nach einem Jahr nach dem Wirksamwerden der Kostenfestsetzungsentscheidung ist das Erinnerungsrecht der Staatskasse verwirkt, sofern nicht besonders missbilligenswerte Umstände in der Sphäre des Anwalts vorliegen. Offen bleibt, ob dies in gleicher Weise für das Erinnerungsrecht des Anwalts gilt.

 

Tenor

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 22. März 2011 wird zurückgewiesen.

 

Gründe

I.

Das Beschwerdeverfahren betrifft die Vergütung als beigeordneter Rechtsanwalt, die dem Beschwerdegegner gegen die Staatskasse zusteht.

Der Beschwerdegegner war in einem schwerbehindertenrechtlichen Klageverfahren dem damaligen Kläger im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnet worden. Die Klageparteien hatten einen außergerichtlichen Vergleich geschlossen, was zur Erledigung des Klageverfahrens führte. Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle beim Sozialgericht München setzte am 06.10.2009 die Vergütung nach §§ 45 ff. RVG fest und erkannte dabei auch eine Terminsgebühr zu. Dagegen hat der Bezirksrevisor beim Bayerischen Landessozialgericht am 12.01.2011 für die Staatskasse Erinnerung eingelegt; er hat sich gegen den Ansatz einer Terminsgebühr gewandt. Die Kostenrichterin beim Sozialgericht hat die Erinnerung mit Beschluss vom 22.03.2011 zurückgewiesen. Dies hat sie damit begründet, das Recht zur Erinnerung sei für die Staatskasse verwirkt, wobei sie die in § 20 Abs. 1 GKG genannten Frist entsprechend herangezogen und sich auf einen Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 01.11.2010 - S 127 SF 407/10 E bezogen hat. Eine Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht, so die Kostenrichterin, sei aufgrund von § 178 Satz 1 SGG nicht statthaft.

Gleichwohl hat der Bezirksrevisor am 05.04.2011 Beschwerde eingelegt. Er ist der Ansicht, das Rechtsmittel sei statthaft, weil § 178 Satz 1 SGG gegenüber §§ 56 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 33 Abs. 3 Satz 1 RVG zurücktrete. Die Staatskasse habe das Recht zur Erinnerung nicht verwirkt; der Bezirksrevisor hat insoweit auf eine Entscheidung des Bayer. Landessozialgerichts vom 25.08.1995 - L 14 Ar 214/89.Ko Bezug genommen. Die Staatskasse habe im November 2010 erstmals von der überhöhten Auszahlung Kenntnis erlangt. Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg.

Zuständig für die Entscheidung über die Beschwerde ist zwar prinzipiell der Einzelrichter (§ 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 8 Satz 1 RVG). Jedoch entscheidet wegen grundsätzlicher Bedeutung der Angelegenheit gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG der Senat als Gesamtspruchkörper. Ehrenamtliche Richter wirken nicht mit (§ 56 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 33 Abs. 8 Satz 3 RVG).

1. Zur Zulässigkeit der Beschwerde

Die Beschwerde ist zulässig.

Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts ist die Beschwerde statthaft. § 178 Satz 1 SGG führt nicht dazu, dass es gegen den Beschluss der Kostenrichterin kein Rechtsmittel gibt. Diese Norm bestimmt, dass gegen eine Entscheidung des Urkundsbeamten das Gericht angerufen werden kann; dessen Entscheidung ist endgültig, ein Rechtsmittel also ausgeschlossen. Genau dieser Verfahrensablauf liegt hier vor: Zunächst hat der Urkundsbeamte unter dem Datum 06.10.2009 eine Kostenfestsetzung vorgenommen. Dagegen ist Erinnerung eingelegt worden, die zu einer Entscheidung der Kostenrichterin geführt hat. Gleichwohl greift der durch § 178 Satz 1 SGG normierte Rechtsmittelausschluss nicht, weil demgegenüber § 56 RVG Vorrang genießt. Aus § 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 Satz 1 RVG geht hervor, dass die Beschwerde gegen die Entscheidung über die Erinnerung statthaft ist, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands 200 Euro übersteigt; Beschwerdeausschlusstatbestände sieht das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz ansonsten nicht vor.

Der Senat ist davon überzeugt, dass für § 178 Satz 1 SGG neben § 56 RVG kein Anwendungsbereich bleibt. Denn die Regelungen des § 56 RVG, die dieser unter Rückgriff auf § 33 RVG zu Rechtsbehelfen bzw. Rechtsmitteln trifft, verkörpern Sonderrecht und sind vorrangig.

a) Das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz in seiner Gesamtheit gestalte...

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