Vorschläge vom 72. Deutschen Juristentag in Leipzig

Der Deutsche Juristentag, der Ende September in Leipzig stattfand, hat Beschlüsse gefällt, die als Reformideen für den Gesetzgeber vorgelegt werden. Es geht dabei insbesondere um ein Sorgerechtsmodell der geteilten Betreuung, um den Spurwechsel bei gut integrierten aber abgelehnten Asylbewerber, das richterliche Ermessen bei der Strafzumessung und mehr Transparenz bei Non-Profit Organisationen.

Wie üblich versuchen die Juristen des Deutschen Juristentages mit ihren abschließenden Beschlüssen bei drängenden Reformen eine Richtung für Politik und Gesetzgebung vorzugeben.

In der Vergangenheit wurden hier viele Erfolge und massive Einflüsse auf die Gesetzgebung verzeichnet.

Was schien den versammelten Juristen diesmal wichtig:

  • Das Bundesverwaltungsgericht soll stärker und auch als Tatsacheninstanz in die Verwaltungsrechtsgerichtsbarkeit  integriert werden.
  • Neben das Residenzmodell soll das Modell der geteilten Betreuung in das gesetzliche Sorgerecht aufgenommen werden.
  • Es sollen echte zivilrechtliche Gruppenklagen, wie in anderen Ländern üblich, in das Zivilprozessrecht aufgenommen werden. Die neue Musterfeststellungsklage genüge insoweit nicht.
  • Eine Einschränkung des Richterlichen Ermessens bei der Strafzumessung wird, trotz erhebliche Unterschiede bei der Strafzumessung, entschieden abgelehnt. Allerdings soll eine Entscheidungsdatenbank  zu große Ausreißer verhindern, indem sie den "richterlichen Horizont erweitert".
  • Bei gesellschaftsrechtlichen Beschlussmängeln sollen mehr Spielräume für sinnvolle Reaktionen eingeführt werden.
  • Für Non-Profit-Organisationen (NPO) sollen einheitliche Berichts- und Rechnungslegungsstandards für mehr Transparenz sorgen.

Das waren wichtige Themen des Juristentags

Bundesjustizministerin Katarina Barley beklagte in ihrer Eröffnungsrede die Häufung der Angriffe auf den Rechtsstaat von verschiedenen Seiten. Der allgemeinen Diskurs habe sich geändert und setze den Rechtsstaat immer mehr unter Druck.

  • Grundsätzliche rechtliche Prinzipien würden besonders häufig von dem rechten politischen Spektrum angehörenden Gruppen in Frage gestellt, aber auch aus der Mitte der Gesellschaft.
  • Vor diesem Hintergrund sei der Staat in besonderem Maße aufgerufen, seine Handlungsfähigkeit und Verlässlichkeit unter Beweis zu stellen und verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen. 

Ministerpräsident Sachsens fordert eine höhere Transparenz der Justiz

Auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer betonte, dass das Vertrauen in Rechtsstaat gestärkt werden müsse. In diesem Zusammenhang müsse die Justiz eine höhere Transparenz und damit Akzeptanz in der Bevölkerung erreichen. Dies gelte auch für die Gesetzgebungsorgane, die die Voraussetzungen schaffen müssten, um

  • durch klare Regeln und effiziente Verfahren eine schnellere juristische Lösung von Rechtstreitigkeiten zu erreichen.
  • Der Staat neige gelegentlich dazu, durch überkomplexe Regelungen sich selbst seiner Handlungsfähigkeit zu berauben.
  • Die Reaktionen des Staates vor allem auf die um sich greifende Internetkriminalität kämen zu langsam und zu spät, die Planverfahren bei Infrastrukturprojekten seien viel zu kompliziert und lang.

Kollektiver Rechtsschutz in Deutschland immer noch unterentwickelt

Der Juristentag selbst arbeitet in sechs verschiedenen Fachabteilungen die einzelnen reformbedürftigen Gebiete ab.

Im zivilrechtlichen Bereich steht im Vordergrund die Schaffung neuer Instrumente zur Verwirklichung eines kollektiven Rechtsschutzes. Hierzu gehören besonders die Themen Sammelklagen, Gruppenklagen und Verbandsklagen. Die in Deutschland bestehenden Möglichkeiten der Bündelung von Schadensersatzforderungen werden auch nach Einführung der Musterfeststellungsklage immer noch kritisch gesehen.

Kritik an der neuen Musterfeststellungsklage:

Unzufrieden äußerten sich die versammelten Juristen über die zum 1.11. eingeführten Musterfeststellungsklage, die sie als "unzureichend" ablehnen.

  • Sie entlaste die Gerichte nicht
  • und bilde "Streuschäden", gemeint sind geringe Schäden bei einer Vielzahl von Betroffenen, nicht hinreichend ab.

Die Juristen stimmt vielmehr für die Einführung einer Gruppenklage, die auch als echte Sammelklage bezeichnet wird.

Deutschland ist bei Gruppenklagen im Rückstand

  • Beklagt wird ein offensichtlicher Rückstand gegenüber Ausland.
  • Eine effektive und prozessökonomischen Rechtsdurchsetzung erfordere eine deutliche Ausdehnung dieser Instrumente, nicht zuletzt auch mit dem Ziel der Entlastung der Gerichte.

Kritisiert wird vor allem, dass im Bereich massenhaft gleich gelagerter Fälle das Prozessrecht immer noch nicht das Instrument einer echten Sammelklage bereitstellt und Verfahren zur Herbeiführung einer kollektiven gütlichen Einigung fehlen. 

Erheblicher Reformbedarf im Sorgerecht

Im Familienrecht steht eine Reform der Regelung der elterlichen Sorge im Vordergrund der Beratungen. Kritisiert am geltenden Recht wird insbesondere, dass die Regelung der elterlichen Sorge immer noch vom Normalfall des Residenzmodells ausgeht, nach dem ein Elternteil das Kind versorgt.

  • In der Praxis setzte sich aber immer mehr das Wechselmodell durch, wonach Kinder zeitweise ganz von einem Elternteil und dann wieder vom anderen versorgt würden.
  • Die damit zusammenhängenden Probleme bei der Berechnung des Unterhalts, bei der zeitlichen Festlegung der Versorgungsanteile erfordere die Berücksichtigung der neuen Betreuungsmodelle auch im Gesetz.
  • Im Zentrum aller Überlegungen müsse aber weiterhin das Wohl des Kindes stehen, das dringend eine stärkere Einbeziehung der Entwicklungspsychologie bei Sorgerechtsentscheidungen
  • sowie eine stärkere Berücksichtigung des Willens der Kinder ab einer bestimmten Altersstufe erfordere.

Vorschläge für die Gesetzgebung:

Künftig soll  nach Ansicht der Beratenden

  • geteilte Betreuung neben dem Residenzmodell gesetzlich geregelt werden
  • und nicht wie bisher als Umgang, sondern als elterliche Sorge gelten.
  • Als geteilte Betreuung soll es gelten, wenn sich das Kind mindestens zu je 40 Prozent bei jedem Elternteil aufhält.

Königin Silvia von Schweden fordert Kinderrechte ein

In Ergänzung der Fachgruppe Familienrecht hielt Königin Silvia von Schweden als besonderer Gast des Juristentages eine viel beachtete Rede. Die Königin betonte die zwingend erforderliche Stärkung der Rechte von Kindern und verwies auf Art. 4 Satz 1 der UN-Konvention über die Rechte des Kindes.

  • Hiernach seien alle Vertragsstaaten verpflichtet, sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Verwaltung geeignete Maßnahmen zur Verwirklichung der UN-Kinderrechte zu ergreifen.
  • Indirekt plädierte die Königin für eine Verankerung der Rechte von Kindern in der Verfassung.
  • Ziel jeder Gesetzgebung und jedes gerichtlichen Verfahrens müsse sein, dass es Kindern, die beispielsweise in einem Missbrauchsverfahren aussagen, anschließend besser gehe als vorher und nicht schlechter.
  • In diesem Punkt mahnte die Königin dringend Reformbedarf an.

Diskussion über „Sentencing Guidelines“ im Strafrecht

Der Fachbereich Strafrecht befasste sich mit den ausufernden weitgefassten Strafrahmen im deutschen Strafrecht. Der Juristentag kritisierte, dass die Strafzumessung in einem nicht mehr zu rechtfertigenden Maße in das Ermessen der jeweiligen Gerichte gestellt sei und die Strafzumessung für Angeklagte oft nicht zu durchschauen und zu erheblicher Ungleichheit führe.

  • So könnten gleichartige Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz in Berlin zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung führen, während auf die Täter in Rheinland-Pfalz eine Freiheitsstrafe von vielen Jahren, teilweise im zweistelligen Bereich, warte.
  • Die Strafrechtler fordern, das tatrichterliche Ermessen bei der Strafzumessung durch klare gesetzliche Regelungen zu beschränken.
  • Diskutiert wurde, ob hierfür ein radikaler Systemwechsel erforderlich ist oder eine Neuausrichtung durch unbenannte Strafschärfungs-  und Strafmilderungsgründe ausreicht.
  • Durch gesetzliche Strafzumessungsregeln („Sentencing Guidelines“) und engere Vorgaben müsse bundesweit eine zumindest grob vergleichbare Situation der Strafzumessung geschaffen werden.

Öffentliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht

Zum ersten Mal wurde ein gemeinsamer Fachbereich für die Themen Migration und ihre Folgen, Zuwanderung, Integration im Arbeitsrecht sowie öffentliches Recht gebildet. Zu den Themenschwerpunkten gehören

  • die Regelung des Arbeitsmarktes,
  • der Regulierung des Niedriglohnbereichs,
  • die Gestaltung des Mindestlohns,
  • der Zeitarbeit,
  • die Entlohnung von Praktika,
  • die Gestaltung der Berufsausbildung sowie
  • die Ausgestaltung sozialer Leistungen an Hilfsbedürftige.

Ziel des Fachbereichs ist es unter anderem, die rechtlichen Bedingungen für Flüchtlinge und Migranten zu verbessern. Grundgedanke ist die Schaffung transparenterer rechtlicher  Rahmenbedingungen. Im Fokus stehen nicht zuletzt Menschen, die ohne gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland über Jahre geduldet werden. Für diese Personen müsse mehr Rechtssicherheit geschaffen werden. Hierzu gehöre auch, dass Praktika attraktiver gestaltet werden und in den Herkunftsländern erworbene Befähigungen häufiger anerkannt würden.

Wirtschaftsrecht

Im Zentrum der Fachgruppe Wirtschaftsrecht steht die Verbesserung der Regelung von Beschlussmängelrechten in der AG, der GmbH und bei Personengesellschaften. Das im AktG kodifizierte Beschlussmängelrecht wird als zu dogmatisch und wenig praktisch kritisiert.

  • Für die GmbH und die Personengesellschaften müsse dringend eine Regelung zur Behandlung von Beschlussmängeln getroffen werden.
  • Die Regelung von Anfechtungs- und  Nichtigkeitsklagen gegen Hauptversammlungsbeschlüsse im Aktienrecht stoße insbesondere bei Sachkapitalerhöhungen oder Satzungsänderungen auf große Probleme.
  • Wichtig sei ein angemessener Ausgleich der Interessen von Minderheitsgesellschaftern an effektivem Rechtsschutz gegen rechtswidrige Beschlüsse auf der einen Seite und dem Interesse der Mehrheit an einem zeitnahen Vollzug der mit Mehrheit gefassten Beschlüsse auf der anderen Seite
  • sowie die Implementierung eines effektiven Schutzes gegen rechtsmissbräuchliche Nichtigkeitsklagen.

Neuregelung von Non Profit Organisationen

Der von der Wirtschaft auch als dritter Sektor bezeichnete Bereich der gemeinnützigen Organisationen wird als dringend reformbedürftig angesehen. Dieses in seiner Bedeutung häufig unterschätzte Segment steht oft zwischen Markt und Staat und ist in Deutschland geprägt von einigen 100.000 zivilgesellschaftlichen Organisationen, meist in der Rechtsform von Vereinen und Stiftungen. In der Regel sind diese Organisationen als gemeinnützig anerkannt und in den Bereichen Wissenschaft, Bildung, Naturschutz, Kultur, Sport und Wohlfahrtspflege tätig.

  • Der Gemeinnützigkeitsbegriff bedarf angesichts der in diesem Segment erzielten hohen Umsätze nach Auffassung der Juristen möglicherweise einer Präzisierung und neuen Definition.
  • Besonderes Augenmerk gilt der steuerlichen Behandlung, den Pflichten zur Rechnungslegung und damit der Transparenz nach außen
  • sowie einem präzisierten corporate government.

Jede Menge Erwartungen an den Gesetzgeber

Am Ende des Juristentages wird wieder eine ganze Reihe von Beschlüssen stehen mit mannigfachen Erwartungen an und Aufgaben für den Gesetzgeber. Vielleicht ist das ja ein guter Anlass für die regierende Koalition, sich nun mit Entschlossenheit der Abarbeitung der mannigfachen Sachthemen zu widmen.


Hintergrund:

Der Deutsche Juristentag hat eine lange Geschichte. Als Verein wurde er 1860 in Berlin gegründet. Der Juristentag diskutiert seither nicht nur aktuelle rechtliche Probleme der Gesellschaft, sondern er gibt auch umfassende Empfehlungen an den Gesetzgeber.

  • So hat der Gesetzgeber die Empfehlungen des Juristentages zur Neuregelung des Scheidungsrechts in den 1970er Jahren aufgegriffen und auch die Neuregelung des Kindschaftsrechts.
  • und die Reform des bürgerlichen Gesetzbuches zur Jahrtausendwende gehen in großen Teilen auf Empfehlungen des Juristentages zurück.
Schlagworte zum Thema:  Juristen, Gesetzgebung