Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Prozesskostenhilfe. Beiordnung eines Rechtsanwalts. Rechtsschutzbedürfnis. Bagatellstreitsache

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Interesse, dass nach allgemeiner Anschauung als so gering (im Streitfall: 1,07 Euro) anzusehen ist, dass es die Inanspruchnahme der staatlichen Rechtsschutzeinrichtungen nicht rechtfertigt, ist nicht schutzwürdig.

2. Ein Rechtsschutzbedürfnis kann zudem in Ansehung der Kosten zu verneinen sein, wenn die geltend gemachten Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 1.057,95 Euro die erzielten 1,07 Euro annähernd um das Tausendfache übersteigen.

 

Tenor

Der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt M. wird abgelehnt.

 

Gründe

I. Nach § 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 114 Zivilprozeßordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozeßführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozeßkostenhilfe, wenn die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Die Verknüpfung der Gewährung von Prozeßkostenhilfe mit dem Erfordernis einer hinreichenden Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Denn Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz verlangt keine vollständige Gleichstellung Unbemittelter mit Bemittelten, sondern nur eine weitgehende Angleichung. Der Unbemittelte braucht nur einem solchen Bemittelten gleichgestellt zu werden, der seine Prozeßaussichten vernünftig abwägt und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigt (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 13. März 1990, Az. 2 BvR 94/88, m.w.N.).

II. Hinreichende Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung sind zu bejahen, wenn die allgemeinen Sachurteilsvoraussetzungen vorliegen und ein etwaiger Erfolg in der Hauptsache als nicht nur entfernt möglich erscheint (Künzl/Koller, Prozeßkostenhilfe, 2. Aufl., S. 105). Zu den hiernach zu fordernden Sachurteilsvoraussetzungen oder sog. Rechtsschutzvoraussetzungen (vgl. die Nachweise bei Schönke, Das Rechtsschutzbedürfnis, 1950, S. 18) zählt u.a. das Rechtsschutzbedürfnis. Das Rechtsschutzbedürfnis ist gegeben, wenn die mit der betreffenden Rechtsschutzhandlung verfolgten Interessen nach objektiven prozeßrechtlichen Werturteil des begehrten Rechtsschutzes fähig, bedürftig und würdig erscheinen (vgl. Reichsgericht, Urteil vom 21. April 1939, Az. VII 231/37; Stephan, Das Rechtsschutzbedürfnis, 1967, S. 62, m.w.N.). Nicht schutzwürdig ist ein Interesse, dass nach allgemeiner Anschauung als so gering anzusehen ist, daß es nicht die Inanspruchnahme der staatlichen Rechtsschutzeinrichtungen rechtfertigt (Schönke, S. 35; so bereits auch Degenkolb, Einlassungszwang und Urteilsnorm, 1877, S. 175: „erhebliches“ respektive „dringendes“ Interesse).

1. Nach Maßgabe dieser Grundsätze kann im vorliegenden Streitfall ein Rechtsschutzbedürfnis nicht aufgezeigt werden. Denn für den streitgegenständlichen Zeitraum April 2010 bezogen die Kläger, die von der Beklagten als Bedarfsgemeinschaft angesprochen werden, Grundsicherungsleistungen nach näherer Maßgabe des Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von ca. 421 Euro (Änderungsbescheid vom 11. März 2010). Im Widerspruchsverfahren (Widerspruchsbescheid vom 1. September 2010) gewährte die Beklagte den Klägern weitere 1,07 Euro. Hiergegen erhoben die Kläger unter dem 30. September 2010 Klage zum Sozialgericht Nordhausen und beantragten u.a. ’den Änderungsbescheid vom 11. März 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. September 2010 insoweit abzuändern, daß den Klägern Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe bewilligt werden, die Kostenentscheidung des Widerspruchsverfahrens dahingehend abzuändern, daß der Beklagten die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Widerspruchsverfahrens auferlegt werden und auszusprechen, daß die Hinzuziehung des Prozeßbevollmächtigten notwendig war’. In der mündlichen Verhandlung vom 11. Mai 2011 erklärten die Kläger in Ansehung der im Widerspruchsverfahren [sic!] nachgezahlten 1,07 Euro den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt und ersuchten um gerichtliche Kostengrundentscheidung. Mit Beschluß vom 29. Juni 2011 hat das Gericht darauf erkannt, daß die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten haben. Mit Kostenrechnung vom 3. August 2011 beantragte der Prozeßbevollmächtigte der Kläger, die im Rahmen der Prozeßkostenhilfe aus der Staatskasse zu erstattenden Gebühren und Auslagen für das Streitverfahren auf 1.057,95 Euro festzusetzen.

(a) Bei objektiver Sicht auf diese Verfahrenschronologie ist ein berechtigtes Interesse für die Klage nicht gegeben. Denn den, bereits im Widerspruchsverfahren erzielten, weiteren Sozialleistungen in Höhe von 1,07 Euro ist kein erhebliches Gewicht eingeschrieben. Der Streitfall gibt dem Gericht keine Veranlassung, eine Bagatell-Obergrenze zu bestimmen; als taugliches Anknüpfungskriteriu...

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