Leitsatz (amtlich)
Zur Abgrenzung einer konkreten von einer abstrakten sowie einer hinreichend wahrscheinlichen von einer latenten Kindeswohlgefährdung nach einmaliger körperlicher Misshandlung infolge einer Überlastungssituation.
Zum Vorrang von sorgerechtlichen Auflagen gegenüber einem Sorgerechtsentzug nach körperlicher Kindesmisshandlung durch nichtsorgeberechtigte Mitbewohner.
Normenkette
BGB §§ 1666, 1666a
Verfahrensgang
AG Neuwied (Aktenzeichen 17 F 60/22) |
Tenor
I. Auf die Beschwerde des Jugendamts der Kreisverwaltung Neuwied wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Neuwied vom 06.10.2022, Az. 17 F 60/22, abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
1. Den Kindeseltern N.R. und C.S. wird gemäß § 1666 Abs. 1, 3 BGB aufgegeben:
- die Kinder Je.S., geboren am ...2016, und Ja.C.R., geboren am ...2021, einzeln, gemeinsam oder zusammen mit anderen minderjährigen Personen nicht allein in Gegenwart des Herrn J.R., geboren am ...1982, zu lassen;
- dem Jugendamt auf Nachfrage Auskunft darüber zu erteilen, wer die vorgenannten Kinder zu bestimmten Zeiten betreut bzw. beaufsichtigt hat und hierzu vom Jugendamt befragten Dritten entsprechende Auskünfte zu erlauben bzw. nicht zu untersagen;
- im Haushalt der Kindesmutter und der Kinder eine sozialpädagogische Familienhilfe im Umfang von 28 bis 30 Monatsstunden bei drei wöchentlichen Hausbesuchen, davon mindestens einer unangekündigt, in Anspruch zu nehmen;
- die Kinder Je.S., geboren am ...2016, und Ja.C.R., geboren am ...2021, letzteren ab spätestens 01.07.2023, montags bis freitags außer an Schließtagen in einer Kindertageseinrichtung von mindestens 8 Uhr bis 12 Uhr unterzubringen.
2. Die Gerichtskosten des Verfahrens erster Instanz tragen die Kindeseltern N.R. und C.S. je zur Hälfte. Außergerichtliche Kosten des Verfahrens erster Instanz werden nicht erstattet.
II. Die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens tragen die Kindeseltern N.R. und C.S. je zur Hälfte. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.
III. Der Verfahrenswert wird für beide Instanzen jeweils auf 4.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Das Beschwerdeverfahren betrifft die elterliche Sorge für die Kinder Je.S., geboren am ...2016, und Ja.C.R., geboren am ...2021. Die Kindeseltern haben sich während der Schwangerschaft der Kindesmutter mit Ja. getrennt. Im Verfahren 17 F 62/22 wurde dem Kindesvater mit Beschluss des Amtsgerichts Neuwied vom 06.10.2022 das gemeinsame Sorgerecht für die Kinder im Einvernehmen mit der Kindesmutter übertragen (38 in 17 F 62/22).
Die Kindesmutter lebt mit den Kindern zusammen in einer Mietwohnung mit ihrem neuen Lebensgefährten, dem Herrn J.R., geboren am ...1982. Dieser ist mehrfach vorbestraft, unter anderem wegen Drogen- und Körperverletzungsdelikten sowie Betrugs und Sachbeschädigung. Die Kindesmutter ist gelernte Hotelfachfrau und arbeitet derzeit auf Minijobbasis in der Gastronomie wöchentlich an mehreren Tagen meistens abends.
Am 13.02.2022 (Sonntag) stellte die Kindesmutter ihren Sohn abends im St. Elisabeth Krankenhaus in N. vor, da dieser eine Schonhaltung mit dem Oberarm eingenommen und bei Berührung Schmerzen hatte. Am Nachmittag dieses Tages waren Ja. und seine Schwester das erste Mal für eine längere Zeit (ca. 5,5 Stunden) durch den Lebensgefährten der Kindesmutter allein betreut worden, während die Kindesmutter ihrer Erwerbstätigkeit nachging. In dieser Zeit hatte ihr Lebensgefährte ihr bereits telefonisch mitgeteilt, dass Ja. "total quer" sei und nur noch weine. Durch die Untersuchungen im St. Elisabeth Krankenhaus stellte sich heraus, dass der Säugling einen Bruch im linken Oberarmknochen und eine Knochenhautablösung am linken Schienbein hatte. Eine weitere Diagnostik im Uniklinikum B. bestätigte einen Schrägbruch des Oberarmknochens sowie eine Knochenhautablösung (Periostabhebung) am linken Schienbein und sah konkrete Anhaltspunkte für eine körperliche Misshandlung. Hieraufhin erließ das Familiengericht gegenüber der seinerzeit noch allein sorgeberechtigten Kindesmutter eine einstweilige Anordnung mit der Auflage, beide Kinder nicht mit ihrem Lebensgefährten alleine zu lassen und eine bereits eingerichtete SPFH fortzuführen. Diese Auflage setzte die Kindesmutter zusammen mit dem Jugendamt in Rahmen eines Schutzkonzepts um.
Im anschließend eingeleiteten Hauptsacheverfahrens erkannte das Familiengericht nach persönlicher Anhörung der Kindeseltern, der Kinder und des diesen bestellten Verfahrensbeistands sowie des Jugendamts mit Beschluss vom 06.10.2022 unter Aufhebung der vorgenannten einstweiligen Anordnung, dass gerichtliche Maßnahmen derzeit nicht zu treffen sind. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass trotz Fehlens einer plausiblen Erklärung für die Verletzung, welche sich Ja. in der Obhut des Lebensgefährten der Kindesmutter zugezogen habe, eine akute Kindeswohlgefährdung nicht feststellbar sei. Eine weitere Aufklärung sei nicht möglich. Der Vorfall liege inzwischen ca. acht Monate zurück, ohne dass in dieser Zeit weitere Z...